27.10.2025
Benjamin-Immanuel Hoff

Willi Bleicher: Ein Leben in und für die Arbeiter:innenbewegung

Warum, so könnte man fragen, bringt ein kleiner linker Verlag knapp 45 Jahre nach dessen Ableben ein Buch mit Interviews, Reden und Briefen des Gewerkschafters Willi Bleicher heraus – noch dazu in Kombination mit der E-Book-Neuauflage der bereits 1992 erstmals und dann in zwei weiteren Auflagen erschienenen Biografie »Wir brauchen kein Denkmal – Willi Bleicher, der Arbeiterführer und seine Erben«.

„Geschichte ist nicht die Geschichte von Persönlichkeiten. Anhand einzelner Personen mag man aber Beispielhaftes aufzeigen“, formulierte Stefan Müller im Aufsatz Linkssozialistische Erneuerung in der IG Metall? Eine neue Konzeption von Arbeiterbildung in den 1960er Jahren (Müller 2010: 163). Und auch wenn Müller sie auf Peter von Oertzen anwendete, wird die Absicht des Schmetterling Verlags damit gut beschrieben.

Willi Bleicher steht beispielhaft für eine Traditionslinie ehemaliger Mitglieder der KPD, der KPD-Opposition und anderer sozialistischer Zwischengruppen der Weimarer Republik, wie z. B. der SAP, in der Willy Brandt Mitglied war. Es handelte sich dabei – „angefangen bei dem 1907er Jahrgang der IG Metall (Otto Brenner, Fritz Strothmann, Kuno Brandel, Willi Bleicher) – um eine Generation, deren prägende Erfahrung die Niederlage der Weimarer Republik war, um Gewerkschafter, die ‚während der Kriegsjahre der Republik zu den kämpferisch eingestellten jungen Sozialisten [zählten], die am Immobilismus der alten Arbeiterbewegung verzweifelten und die sich auch organisatorisch auf die Suche nach neuen Wegen machten‘.“ (a. a. O.: 165 f.)

Die Gedenkstätte Yad Vashem ehrt Willi Bleicher als »Gerechten unter den Völkern«. Der ab 1938 im thüringischen Konzentrationslager Buchenwald inhaftierte Bleicher wurde Kapo in der Effektenkammer, demjenigen Teil des Lagers, in dem die Habseligkeiten der KZ-Insassen aufbewahrt wurden. Im Jahr 1944 spielte er eine bedeutsame Rolle bei der Rettung des dreijährigen polnisch-jüdischen Jungen Stefan Jerzy Zweig und dessen Vater.

Bruno Apitz erzählte die Geschichte dieser Rettung in Nackt unter Wölfen. Das Buch erschien 1958, war in der Erstauflage von 10 000 Exemplaren sofort vergriffen und dürfte mit mehr als einer Million verkaufter Exemplare in der DDR sowie mehr als drei Millionen gedruckten Stücken in über dreißig Sprachen der bekannteste und erfolgreichste Roman der DDR gewesen sein. Der Romanstoff Nackt unter Wölfen wurde in Film und Fernsehspiel in der DDR (Georg Leipold 1960 und Frank Beyer 1963) und nach der DDR (Philipp Kadelbach 2015) erzählt.

Es führte an dieser Stelle zu weit, die Ambivalenzen, politischen Restriktionen und das Bemühen sowohl von Bruno Apitz als auch anderer Buchenwald-Überlebender um die Anerkennung ihres Handelns in der Grauzone zwischen Schuld und Zwang, Widerstand und Kollaboration gegen politisch-instrumentelle Delegitimierungen zu beschreiben. Ich verweise an dieser Stelle auf meine Sammelrezension »Kultur des Antifaschismus«, die ich auf meinem Blog www.nachdenken-im-handgemenge.de publizierte.

Allein diese zwei Perspektiven würden Grund genug bieten, an die Persönlichkeit Willi Bleicher zu erinnern. Doch Bleicher, der von amerikanischen Truppen im Erzgebirge auf einem Todesmarsch befreit wurde und nach Württemberg zurückkehrte, wurde im südwestdeutschen Nachkriegsdeutschland nicht nur erneut Mitglied der KPD, sondern hatte bedeutsamen Anteil am Aufbau der Industriegewerkschaft Metall – zunächst in der britischen Besatzungszone, dann in der jungen Bundesrepublik.

Seine kommunistische Herkunft, obwohl er die westdeutsche KPD 1950 aufgrund von Differenzen wieder verließ, war Grund dafür, dass er, ebenso wie die Kommunisten Fritz Salm und Karl Küll, aus dem Vorstand der IG Metall gedrängt wurde. Die sozialdemokratische Mehrheit reduzierte die Zahl der Vorstandspositionen der Einfachheit halber um drei Plätze – von 13 auf 10. Bleicher verzichtete auf eine ihm aussichtslos erscheinende Kampfkandidatur und zog sich zunächst nach Göppingen zurück, wo er Erster Bevollmächtigter der IG Metall wurde. Später war er als Sekretär des IGM-Bezirks Baden-Württemberg tätig, bevor er 1959 die Leitung des Bezirks übernahm, die er bis 1972 innehatte. Ihm folgte Franz Steinkühler, der spätere Erste Vorsitzende der IG Metall, nach.

Nicht nur, dass der Bezirk Baden-Württemberg aufgrund der Unternehmenskonzentration zu den mächtigsten Bastionen in der Metallgewerkschaft gehörte – Bleicher war als Bezirkschef auch politisch enorm einflussreich. Als gewerkschaftlicher Gegenspieler des Daimler-Managers Hanns Martin Schleyer, der später Präsident des Bundesverbands der Arbeitgeber wurde und in dieser Funktion von der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt und ermordet wurde, war Bleicher verantwortlich für die großen Streiks der Jahre 1963 und 1971, die jeweils erfolgreich abgeschlossen wurden.

Bemerkenswerte Erinnerungsarbeit

Der fast fünfzig Jahre nach Bleicher geborene Journalist und Dokumentarfilmer Hermann Abmayr machte es sich über mehrere Jahrzehnte hinweg zu einer seiner Lebensaufgaben, die Erinnerung an den 1981 – nach kurzer, schwerer Krankheit – verstorbenen Sozialisten, Gewerkschafter und Antifaschisten wachzuhalten.

Die Früchte seiner Erinnerungsarbeit sind bemerkenswert: Neben der bereits erwähnten, 1992 erschienenen Biografie, die im Schmetterling Verlag als E-Book wieder zugänglich ist, entstand der Dokumentarfilm »Wer nicht kämpft, hat schon verloren – Willi Bleicher: Widerstandskämpfer und Arbeiterführer«, der auf YouTube abrufbar ist.

Nunmehr legt Abmayr eine mehr als 450-seitige Dokumentation von Interviews, Reden und Briefen Willi Bleichers vor. In ihr spiegeln sich alle Facetten seines Lebens, vom Herausgeber klug editiert, wider. Wie bisher auch verzichtet Abmayr darauf, eine Heldengeschichte zu erzählen, sondern lässt die Leser:innen sich ihr eigenes Bild bilden. Zumal die Dokumentation über einen so langen Zeitraum zwangsläufig sowohl die langen Linien im Denken Bleichers als auch Beiträge zur eigenen Legendenbildung – die in Fußnoten sensibel korrigiert werden – und innere Widersprüche erkennen lässt. Bleicher wollte es nie allen recht machen – im Gegenteil. Und so dürfte er auch mit dieser Dokumentation seines Lebens zufrieden sein.

Dass einer nie nur Gewerkschafter, Kommunist oder Antifaschist ist, dürfte eine Binse sein. Und dennoch beeindrucken seine Briefe aus dem Gefängnis und dem Konzentrationslager. Sie zeigen den liebenden Menschen Willi Bleicher, selbst dort, wo die drakonischen Vorgaben der SS den Schreibfluss in Umfang und Inhalt zu reglementieren suchten.

Man mag sich fragen, ob es günstiger gewesen wäre, statt mit den Briefen besser mit dem 1973 von Klaus Ullrich geführten Interview zu beginnen. Allein dieses nimmt 140 Seiten ein und beleuchtet das Leben Bleichers von seiner Kindheit bis zur Rückkehr in das Nachkriegs-Stuttgart. Nunmehr rahmen die Briefe aus der Haft und frühe Berichte Bleichers über die Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft das Ullrich-Interview ein und bilden so einen zusammenhängenden Korpus im Dokumentenband.

Die weiteren Kapitel folgen einem biografischen Erzählstrang: Auf die Dokumentation von Reden aus den Jahren 1946 bis 1954 folgt ein Kapitel über frühe Erinnerungsarbeit, in dem Notizen, Briefwechsel und eine Rede beim DGB-Bundeskongress 1966 über »Faschismus als Herrschaftsinstrument« zusammengeführt sind.

Das nächste Kapitel befasst sich mit Bleichers Sicht auf die in den 1960er Jahren beschlossenen Notstandsgesetze, das Erstarken der rechtsextremen NPD, für deren Verbot sich Bleicher einsetzte, sowie seiner Kritik an der gewerkschaftlichen Entpolitisierung des 1. Mai. Arbeitskämpfe waren für Bleicher nicht allein Instrumente einer kämpferischen Tarifpolitik, sondern sie konnten, erfolgreich geführt, zur Hebung des Bewusstseins der Arbeiter:innen beitragen. Das Kapitel Arbeitskämpfe 1969 bis 1971 führt Reden und Texte des Gewerkschafters zusammen. Abgeschlossen wird der Band mit Reden, Interviews und Briefen aus den Jahren 1971 bis 1989.

Wer diese umfassende Dokumentation zur Hand nimmt, begibt sich auf eine Reise durch die deutsche Arbeiter:innenbewegung des kurzen 20. Jahrhunderts, das der Historiker Eric Hobsbawm als »Zeitalter der Extreme« beschrieb. Trotz eines ausführlichen Fußnotenapparats, in dem Abmayr hilfreiche Informationen bereitstellt, sowie eines Anhangs und der Möglichkeit, auf der Seite des Schmetterling Verlags Kurzbiografien der im Buch genannten Personen abzurufen, dürfte gerade jüngeren Leser:innen die Lektüre ohne weitergehende Informationen schwerfallen.

Trotz einer Reihe von Publikationen, in denen die Geschichte der KPD-Opposition, der Bleicher seit 1928 angehörte, dargelegt und die Rolle der kommunistischen bzw. linkssozialistischen Gruppen zwischen den verfeindeten Brüdern KPD und SPD betrachtet wird, ist diese Episode des Kampfs sowohl gegen die Machtergreifung der Nationalsozialisten als auch für die sozialistische Fortentwicklung der Weimarer Republik heute weitgehend verschüttet.

Doch ohne Wissen über die damaligen inhaltlichen Auseinandersetzungen in den Parteien und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung über divergierende Analysen gesellschaftlicher Entwicklungen und die daraus folgenden strategischen (Fehl-)Entscheidungen sind die Bleicher tief prägenden Erfahrungen über die Ergebnisse der kommunistischen Gewerkschaftspolitik in den 1920er Jahren oder die Unfähigkeit zur Einheit gegen den Nationalsozialismus schwerer verständlich. Ohne eine gewisse Kenntnis dessen lässt sich beispielsweise sein Agieren im Konflikt mit der linken innergewerkschaftlichen Opposition der „Plakat-Gruppe um Willi Hoss“, die 1972 zum Ausschluss von Hoss und Kollegen aus der IG Metall führte, nur oberflächlich nachvollziehen.

Gewerkschaftsopposition und Einheitsgewerkschaft

Im April 1980 legte die »Gruppe Arbeiterpolitik«, die in der Tradition der KPD-Opposition stand, »Das rote Gewerkschaftsbuch« wieder auf, das erstmals 1932 erschienen war. Herausgeber waren die Mitbegründer der KPD-Opposition August Enderle und Jakob Walcher, die beide 1932 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) übergetreten waren, der die linken Sozialdemokraten und Mitherausgeber Heinrich Schreiner und Eduard Weckerle bereits angehörten. Es ist anzunehmen, dass Willi Bleicher Das rote Gewerkschaftsbuch sowohl gelesen als auch viele der darin enthaltenen Analysen zur Grundlage seiner politischen und gewerkschaftlichen Arbeit gemacht hatte.

Wie Ossip K. Flechtheim in Die KPD in der Weimarer Republik festhielt, spielten die Parteikommunist:innen in der halben Dekade der Stabilisierung von 1924 bis 1929 „eine geringere Rolle als in den Phasen der Krise 1919–1923 oder 1929–1933. Eine revolutionäre Politik war unmöglich, und eine aktive Politik nach parlamentarischen Spielregeln war nicht das eigentliche Metier der Partei.“ (Flechtheim 1976: 42) Als Massenpartei blieb die KPD freilich relevant, und ihr Schwanken zwischen einem ultralinken, sektiererischen Kurs einerseits und revolutionärer Realpolitik andererseits hatte unmittelbare Auswirkungen – insbesondere in einem starken Auf und Ab gewerkschaftlicher Verankerung und ihrer faktischen Zusammensetzung zu Beginn der 1930er Jahre als Partei der Erwerbslosen und Pauperisierten.

Kommunistische Gewerkschafter:innen – es waren überwiegend männlich dominierte Organisationen – standen in einem dauerhaften Konflikt zwischen den Vorgaben der KPD und der betrieblichen Realität sowie den Organisationsstatuten der im ADGB vertretenen Einzelgewerkschaften. „Da kommunistische Betriebsräte und Verbandsfunktionäre ihr Mandat stets auch – meist sogar in erster Linie – dem Votum von Nichtkommunisten verdankten und an deren Zustimmung gebunden blieben, vermischte sich der potenzielle Gegensatz zwischen Partei und Gewerkschaft zudem auch mit dem zwischen Wählerinteressen und den Direktiven der KPD.“ (Mallmann 1996: 313)

Während die sogenannten Parteirechten, aus denen später die KPD-O hervorgingen, in den Gewerkschaften radikalen Reformismus praktizierten und damit signifikante Einflussgewinne erzielten, zielten die Ultralinken mit der »Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO)« ab 1930 auf die Spaltung der Einheitsgewerkschaften und die Bildung kommunistisch geführter Gewerkschaften.

Jakob Walcher, zwanzig Jahre früher als Bleicher geboren und führender Gewerkschaftsfunktionär der KPD, machte sich mit seinen Ko-Autoren des Roten Gewerkschaftsbuches in der Frage der Einheit der Gewerkschaftsbewegung die von Lenin 1920 als Beitrag zur Strategiedebatte der deutschen Kommunist:innen verfasste Schrift »Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus« zu eigen.

In Kapitel VI kritisiert Lenin dort die „Dummheit [der] ‚linken‘ deutschen Kommunisten, die aus der Tatsache, daß die Spitzen der Gewerkschaften reaktionär und konterrevolutionär sind, den Schluß ziehen, daß man ... aus den Gewerkschaften austreten!!, die Arbeit in den Gewerkschaften ablehnen!! und neue, ausgeklügelte Formen von Arbeiterorganisationen schaffen müsse!! Das ist eine so unverzeihliche Dummheit, daß sie dem größten Dienst gleichkommt, den Kommunisten der Bourgeoisie erweisen können. […] Gerade die absurde Theorie, wonach sich die Kommunisten an den reaktionären Gewerkschaften nicht beteiligen dürfen, zeigt am deutlichsten, wie leichtfertig sich diese „linken“ Kommunisten zur Frage der Beeinflussung der „Massen“ verhalten und wie sie mit ihrem Geschrei von den „Massen“ Mißbrauch treiben.“

In dem im Buch dokumentierten Interview mit Klaus Ullrich legte Bleicher dar, dass und wie er in dieser Auseinandersetzung um die Gewerkschaftsstrategie der KPD die an Lenin orientierten Auffassungen der zunächst innerparteilichen Opposition der „Parteirechten“ um Heinrich Brandler und August Thalheimer vertrat, aus der KPD ausgeschlossen wurde und der KPD-Opposition beitrat. Das in diesen Auseinandersetzungen geschulte Denken, eingeschlossen die Erfahrungen einer gespaltenen Arbeiter:innenbewegung, führte Bleicher zu jenen Überzeugungen, die den Dokumentenband wie einen roten Faden durchziehen: der Einheitsgewerkschaft als überparteilicher Organisation, wie Bleicher sie unter anderem in der abgedruckten Rede beim Gewerkschaftstag 1949 Lohntüte und Einheitsgewerkschaft (S. 351 ff.) ausführt.

Streikstrategie und -taktik

In der Sammelrezension »Rechte Kulturalisierung der Arbeit und konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik« führte ich jüngst Beiträge aus drei jüngst erschienenen Publikationen zusammen, die sich Arbeitskämpfen, Gewerkschaften und der autoritären Rechten in der Arbeitsgesellschaft widmen.

Im Band »Was wird aus der Arbeit?« [hier geht’s zu meiner Rezension] gehen Alexander Busch, Lukas Lehner und Kilian Weil im Beitrag »Ist Deutschland eine Streikrepublik?« der Frage nach, ob Deutschland in eine neue Phase erhöhter Konfliktbereitschaft eingetreten ist. Ihr Befund lautet: Die Zahl der Arbeitskämpfe steigt seit Mitte der 2010er-Jahre, besonders im Dienstleistungssektor – Pflege, Verkehr, Flughäfen –, bleibt aber im historischen Vergleich moderat. Entscheidend ist die strukturelle Verschiebung: Der klassische Industriearbeiter verliert als Symbolfigur an Bedeutung; neue, oft weiblich geprägte Berufsgruppen prägen die Streikstatistik. Streikende arbeiten häufiger in städtischen Regionen, in Teilzeit und unter hohem Zeitdruck.

Die Journalisten Matthias Meisner und Paul Starzmann schließen in ihrem Buch Mut zum Unmut [hier geht’s zu meiner Rezension] an diese Diagnose an, verschieben jedoch die Perspektive von der empirischen Analyse zur Erfahrungsdimension. Ihre Kapitel „Arbeit“ und „Streik“ erzählen Geschichten von Beschäftigten, die sich gegen ökonomische und kulturelle Entwertung wehren. Sie porträtieren den GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky, den Amazon-Arbeiter Hedi Tounsi und die Pflegekraft Conny Swillus-Knöchel – drei Figuren, die für unterschiedliche Sektoren stehen, aber ein Motiv teilen: den Versuch, Würde im Arbeitsalltag zu behaupten.

Die Autoren deuten Streiks als Akte demokratischer Selbstermächtigung, nicht als Störung der Ordnung. Gegen den allgegenwärtigen Leistungsdiskurs, der individuelles Versagen statt struktureller Ausbeutung betont, setzen sie die Erfahrung kollektiver Solidarität. Der Streik wird zur praktischen Kritik am Produktivismus – jener Vorstellung, dass menschlicher Wert sich allein in Effizienz bemisst.

Diese Perspektive knüpft an eine lange Tradition gewerkschaftlicher Bildungs- und Demokratisierungsideen an. Willi Bleicher brachte das 1971 in Heilbronn auf den Punkt:

„Es gab keine Tarifbewegung bisher, an deren Beginn nicht das Bangemachen der Unternehmer gestanden hätte. Unsere Lohn- und Gehaltsforderungen – so minimal sie zuweilen waren – gefährdeten angeblich den Export und damit die Arbeitsplätze, waren schuld an der Preisentwicklung. Und dennoch: Diese Wirtschaft wuchs und wuchs von Lohnbewegung zu Lohnbewegung, und die Millionäre wurden nicht weniger.“

Wer diese Passage nicht nur liest, sondern in den Dokumentarfilmen hört, wie Bleicher dies auf einer Betriebsversammlung vorträgt, bekommt einen Eindruck von der rhetorischen Kraft des linken Gewerkschafters. Für Bleicher waren Arbeitskämpfe mehr als Machtproben: Sie galten ihm als Schulen der Demokratie: „Mir war es lieber, zehn Pfennige mit Streik durchzusetzen, als elf Pfennige am Verhandlungstisch“, sagte er – nicht aus Prinzipienreiterei, sondern aus der Überzeugung, dass kollektives Handeln Selbstbewusstsein schafft und politische Mündigkeit fördert.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu dem eingangs erwähnten Rückblick Stefan Müllers auf die von Linkssozialist:innen geprägte, emanzipatorische und an operaistischen Fragestellungen orientierte Bildungsarbeit in der IG Metall in den 1960er und frühen 1970er Jahren.

Es wäre sowohl der Erinnerung an Willi Bleicher als auch der gewerkschaftlichen (Jugend-)Bildungsarbeit zu wünschen, wenn die vom Schmetterling Verlag publizierte Dokumentation der Texte eines Widerständigen in den Bildungsstätten genutzt und durch geeignete didaktische Konzeptionen unterstützt würde. Vor einer zweiten Auflage sollte das Manuskript noch einmal gründlich durchgesehen werden, um bestehende Orthografiefehler zu korrigieren.

Beim Launch des Buches im Stuttgarter DGB-Haus nahmen neben der Familie Bleichers rund 250 Personen teil. Darin zeigt sich das in der Region weiterhin vorhandene historische Gedächtnis an die Ausnahmepersönlichkeit Willi Bleichers, der ein Leben in und für die Arbeiter:innenbewegung lebte.

 

Herrmann G. Abmayr (Hrsg.), Willi Bleicher. Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2025 (ISBN: 978-3-89657-193-9)

Ebenfalls beim Verlag erhältlich:

Herrmann G. Abmayr, Wir brauchen kein Denkmal. Willi Bleicher: Der Arbeiterführer und seine Erben, E-Book-Neuauflage der erstmals 1992 erschienenen Ausgabe, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2025 (ISBN: 978-3-89657-208-3)

Auf Youtube abrufbar ist – zusätzlich zum Film von Herrmann G. Abmayer – in drei Teilen der Dokumentarfilm: »Willi Bleicher - Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken« (Teil 1, Teil 2, Teil 3). Dieser Film von Hannes Karnick und Wolfgang Richter entstand 1977 und findet auch im Dokumentationsband Erwähnung.

Verwendete Literatur

Theodor Bergmann, »Gegen den Strom«. Die Geschichte der KPD(Opposition), VSA: Verlag, Hamburg 2001.

August Enderle/Heinrich Schreiner/Jakob Walcher, Eduard Weckerle, Das rote Gewerkschaftsbuch 1932, Nachdruck mit einem Vorwort der Gruppe Arbeiterpolitik, 1980.

Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Europäische Verlagsanstalt, 1976.

Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996.

Stefan Müller, Linkssozialistische Erneuerung in der IG Metall? Eine neue Konzeption von Arbeiterbildung in den 1960er Jahren, in: Christoph Jünke (Hrsg.), Linkssozialismus in Deutschland. Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus?, VSA: Verlag, Hamburg 2010, S. 153-170.