09.10.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Demokratie braucht Ungehorsam

Der Psychologe und Chef des rheingold-instituts, Stephan Grünewald, von dem bei Kiepenheuer & Witsch gerade das Buch „Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft“ erschienen ist, beobachtete in Interview zum Buch, dass sich die krisenmüden Deutschen in ihre privaten Schneckenhäuser zurückziehen. Ohnmacht und Autonomieverlust seien die zentralen Ängste unserer Zeit – verstärkt durch die Jahre der Pandemie, in denen viele Menschen das Gefühl entwickelten, kaum noch Einfluss auf ihr Leben zu haben.

An genau diesem Punkt setzt das Buch „Mut zum Unmut“ der Journalisten Matthias Meisner und Paul Starzmann an. Im Vorwort beschreibt die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, wie sie schon als Kind lernte, ungehorsam zu sein, weil es keine andere Möglichkeit gab, sich gegen Ungerechtigkeit und Rassismus durchzusetzen. Ihr Lebensweg steht beispielhaft für das, was Matthias Meisner und Paul Starzmann als demokratische Tugend der Gegenwart beschreiben: den Mut zur Renitenz.

In ihrer Einleitung schreiben sie, es gebe eine Alternative zu dem „ewigen Hamsterrad aus Stress, Frust und Machtlosigkeit, in dem sich viele abstrampeln“. Sie nennen diese Alternative Renitenz – „den Mut, Nein zu sagen, und dafür Unmut in Kauf zu nehmen, Ärger zu machen, auch Streit zu entfachen“.

Der Untertan und seine Gegenfigur

Der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann gilt bis heute als so etwas wie das deutsche Leitbild – eine satirische, aber zugleich erschreckend präzise Beschreibung des autoritätshörigen Bürgers, der Macht bewundert und Anpassung mit Tugend verwechselt. Heinrich Manns Diederich Heßling lebt fort, nicht als literarische Figur, sondern als Haltung: in der Furcht, anzuecken, im reflexhaften Vertrauen auf Obrigkeit, in der moralischen Bequemlichkeit des Gehorsams.

So gelesen, ist „Mut zum Unmut“ die republikanische Antwort auf den „Untertan“: Wo Heinrich Mann den deformierten Charakter des Gehorsams seziert, zeigen Meisner und Starzmann Wege aus dieser Verformung – hin zu einer Kultur, die Dissens nicht fürchtet, sondern als Bedingung von Freiheit begreift. Es wendet sich gegen das, was die Autoren als „innere Entwaffnung“ der Gesellschaft beschreiben – gegen die Gewohnheit, Konflikte zu meiden, statt sie auszuhalten. Renitenz bedeutet hier nicht destruktive Verweigerung, sondern bewusste Beteiligung: die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, indem man sich widersetzt.

Meisner und Starzmann spannen in ihrem Buch ein beeindruckend breites Panorama widerständiger Haltungen auf – von der kindlichen Auflehnung bis zum politischen Protest. Sie zeigen, dass Renitenz keine ideologische Kategorie ist, sondern eine Grundhaltung, die in allen Lebensbereichen vorkommt: in der Familie, im Beruf, in der Schule, in den Medien, in der Politik und im Verhältnis zum Staat selbst.

Sie beginnen bei den Kindern – den „ursprünglichsten Renitenten“ –, deren Trotz oft als Störung behandelt wird, obwohl darin der erste Ausdruck von Selbstbestimmung liegt. Über die Institution Schule führen sie vor, wie früh Anpassung zur zweiten Natur wird: Ein System, das Gehorsam belohnt und Abweichung bestraft, bildet Bürgerinnen und Bürger aus, die Konflikte meiden, statt sie auszutragen.

Widerspruch als demokratische Kulturtechnik

In der Arbeitswelt sehen die Autoren eine Fortsetzung dieses Musters. Dort, wo Selbstoptimierung und Loyalität als Tugenden gelten, wird Widerspruch schnell zum Karrierehindernis. Mit einem Umfang von fast fünfzig Seiten – fast einem Fünftel des Buches – widmen Meisner und Starzmann der Arbeitswelt und dortigen Räumen des Aufbegehrens – in Gewerkschaften, Streiks, in der alltäglichen Entscheidung, „Nein“ zu sagen, wo Schweigen bequemer wäre – den größten Raum im Buch.

Sie argumentieren, dass nirgendwo in der liberalen Gesellschaft das Abhängigkeitsverhältnis so ausgeprägt sei wie zwischen Arbeitgebern und Lohnabhängigen. Gerade hier werde sichtbar, wie tief die Erfahrung struktureller Ohnmacht reicht: Die Notwendigkeit, sich anzupassen, um den Arbeitsplatz nicht zu verlieren, mache Renitenz besonders notwendig – und zugleich besonders riskant.

Diese Analyse ist präzise und anschaulich; sie trifft den Kern eines gesellschaftlichen Problems, das weit über Tarifkonflikte hinausreicht. Und doch öffnet sich an dieser Stelle eine Leerstelle, die zum Weiterdenken einlädt: Was ist mit den Millionen Menschen, die als Selbstständige oder Freiberufler, in prekären Solo-Existenzen, in Umschulungen oder Weiterbildungen sind – oder die ganz aus dem Erwerbsleben herausgefallen sind? Auch sie erleben Abhängigkeit, Unsicherheit und Machtlosigkeit, aber in anderen Formen: von Auftraggebern, Förderinstitutionen oder bürokratischen Regelsystemen.

Ihr Widerspruch artikuliert sich seltener kollektiv, sondern meist individuell – in der stillen Verweigerung, im Ausstieg, in der Suche nach alternativen Lebensmodellen. Es wäre spannend gewesen, diese Formen von Renitenz mitzudenken: als Ausdruck einer Arbeitsgesellschaft, in der traditionelle Klassen- und Organisationsgrenzen brüchig geworden sind. Gerade hier – im diffusen Feld zwischen Selbstständigkeit und Prekarität – entscheidet sich, ob Renitenz weiterhin als kollektives Werkzeug gedacht werden kann, oder ob sie neue, postindustrielle Formen annehmen muss.

Aktuelle politische Entwicklungen zeigen, wie notwendig ein Bewusstsein für solidarische Renitenz wäre. In der Debatte um die Verschärfung von Sanktionen im Bürgergeld oder um vermeintlich „fehlende Arbeitsbereitschaft“ zeigt sich die autoritäre Seite des Sozialstaats: Kontrolle statt Vertrauen, Disziplinierung statt Befähigung. Hier werden jene gegeneinander ausgespielt, die ohnehin um Teilhabe ringen – Erwerbslose gegen Beschäftigte, prekär Beschäftigte gegen Migrantinnen und Migranten, die Fleißigen gegen die vermeintlich Bequemen.

„Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“, formuliert die Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, zugleich SPD-Parteivorsitzende. Linus Westheuser, Wissenschaftler an der Humboldt-Universität sieht in dem Statement den "traurigen Abschluss einer Kampagne zur Aushöhlung sozialer Rechte. Mit dem Feindbild einer weitgehend erfundenen Gruppe der 'Totalverweigerer' und falschen Informationen zu den Kosten des Bürgergelds werden Bürger:innen irregeführt und ihr Gerechtigkeitsempfinden für polittaktische Zwecke instrumentalisiert" und ordnete dies jüngst im Focus in eine lange Tradition sozialstaatsfeindlicher Politik ein. 

Renitenz bedeutet hier, zuerst das Bewusstsein zu haben und dann den Mut aufzubringen, sich nicht auf die Seite der Spaltung zu stellen, sondern auf die der Solidarität. Widerspruch hieße dann, die Rhetorik der Strenge zu durchschauen und zu dekonstruieren um sich und andere der Versuchung zu entziehen, gesellschaftliche Unsicherheit nach unten weiterzugeben. Eine demokratische Kultur der Renitenz würde genau an diesem Punkt ansetzen: beim Widerstand gegen das Gegeneinander-Ausspielen der Schwächeren.

Weitere Kapitel widmen sich den politischen und gesellschaftlichen Arenen des Widerstands: den Parteien, die Renitenz systematisch abwehren; dem Staat, der zwischen Bürgernähe und Kontrollbedürfnis schwankt; und den Gerichten, die zwischen legitimer Beharrlichkeit und Querulanz unterscheiden müssen. Auch die Medien geraten in den Blick – als Bühne und zugleich als Ort der Disziplinierung. Schließlich wenden sich Meisner und Starzmann dem Spott zu: der Satire als subversiver Kraft, die im öffentlichen Diskurs oft zensiert oder missverstanden wird.

Mit diesen Themen verknüpfen sie eine durchgehende Frage: Wie lässt sich Widerspruch kultivieren, ohne ihn zu romantisieren? Sie verstehen Renitenz nicht als Selbstzweck, sondern als Voraussetzung politischer Mündigkeit – als das Gegenteil jener Passivität, die Grünewald als „Rückzug ins Schneckenhaus“ beschrieben hat.

Vom Gehorsam zur Widerspenstigkeit

Ein besonders eindrucksvolles Kapitel widmen Meisner und Starzmann den Frauen. Sie zeigen, dass weiblicher Widerspruch historisch und bis in die Gegenwart hinein systematisch abgewertet wurde – als Ungezogenheit, Zickigkeit oder Hysterie. Frauen, die sich gegen bestehende Machtverhältnisse stellten, wurde und wird die Eigenständigkeit als politische Akteurinnen abgesprochen. So dient die Zuschreibung „abweichenden Verhaltens“ bis heute der Stabilisierung einer männlich definierten Norm.

Die Autoren ziehen eine Linie von Rosa Luxemburg über Alice Schwarzer bis zu Kristina Hänel – Frauen, die das Widersprechen zu einer Form politischer Selbstbehauptung gemacht haben. Doch während männliche Renitenz häufig als Ausdruck von Stärke und Prinzipientreue gilt, wird weibliche Hartnäckigkeit schnell als Unbequemlichkeit oder Provokation gewertet.

Meisner und Starzmann lesen dieses Ungleichgewicht als Symptom einer unvollendeten Demokratisierung: Eine Gesellschaft, die weiblichen Widerspruch noch immer sanktioniert oder belächelt, verrät ihre Unsicherheit gegenüber Gleichberechtigung. Ihre Schlussfolgerung ist klar: Renitenz müsse als demokratische Tugend geschlechterunabhängig verstanden und gefördert werden. Widerspruch brauche Schutzräume und Anerkennung – gerade für jene, deren Stimme historisch marginalisiert wurde.

So wird weibliche Renitenz bei Meisner und Starzmann zu einem Prüfstein gesellschaftlicher Reife. Sie ist kein Sonderfall, sondern die Bedingung einer wirklich pluralen Demokratie: der Mut, sich zu widersetzen, wo Schweigen bequemer wäre, und dabei Haltung zu bewahren.

Ein weiteres, auf den ersten Blick unerwartetes Kapitel widmen Meisner und Starzmann dem Spott. Sie beginnen mit einem Bild, das sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat: dem kurzen Video, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Tag der russischen Invasion veröffentlichte – gemeinsam mit Mitgliedern seiner Regierung, um zu zeigen, dass sie in Kyjiw geblieben sind. Für die Autoren steht diese Geste sinnbildlich dafür, dass Humor und Spott in der Ukraine Teil einer widerständigen Kriegsgesellschaft geworden sind: Werkzeuge, um Angst in Haltung zu verwandeln.

Sie zeigen, dass Spott, Ironie und Humor in autoritären Zeiten eine eminent politische Funktion gewinnen können: Sie unterlaufen Macht, indem sie ihre Lächerlichkeit sichtbar machen. Gerade in Bedrohungslagen, so die Autoren, entfalte Witz seine stärkste Kraft – als gemeinschaftsstiftendes und befreiendes Mittel gegen Angst.

Diese Beobachtung lädt zu einer weiterführenden Frage ein, die das Buch selbst nur anreißt, aber von großer Aktualität ist: Wie steht es um den Spott in unseren westlichen Demokratien? Der Fall der Karikaturistin Ann Telnaes, die nach der Ablehnung einer politisch zugespitzten Zeichnung durch die Washington Post ihre Kündigung einreichte, wirft ein Schlaglicht auf die neue Empfindlichkeit des öffentlichen Raums. Wo Humor früher eine Waffe gegen Machtmissbrauch war, wird er heute oft zum Risiko – nicht, weil er verletzend wäre, sondern weil er an die Grenzen redaktioneller oder ökonomischer Rücksichten stößt.

So öffnet das Kapitel über Spott und Humor ein größeres Thema: den Zustand unserer Streitkultur. Es erinnert daran, dass Freiheit nicht dort beginnt, wo niemand sich beleidigt fühlt, sondern wo das Lachen über Autorität noch möglich ist – selbst dann, wenn es unbequem wird.

Im Schlusskapitel verdichten Meisner und Starzmann ihre Beobachtungen zu „zwölf Geboten der Renitenz“ – einer Art Ethik des demokratischen Widerspruchs. Es sind keine Regeln, sondern Haltungen: Mut, Fairness, Geduld, Humor, Wahrhaftigkeit und Solidarität. Renitenz erscheint hier nicht als Daueropposition, sondern als Fähigkeit, sich nicht einschüchtern zu lassen, ohne selbst autoritär zu werden.

Damit endet das Buch auf einer hoffnungsvollen Note: „Mut zum Unmut“ ist kein Aufruf zur Dauerempörung, sondern zur Selbstbehauptung. Es erinnert daran, dass Demokratie mehr braucht als Zustimmung – sie braucht Menschen, die widersprechen können, ohne zu zerstören, und zweifeln, ohne zu verzweifeln.

So verstanden, ist das Buch nicht nur ein Essay über Widerspruch, sondern ein Plädoyer für eine reife demokratische Kultur: widerständig, selbstkritisch, humorvoll – und mutig genug, Nein zu sagen, wenn alle nicken.

Matthias Meisner/Paul Starzmann, Mut zum Unmut. Eine Anleitung zur politischen Widerspenstigkeit, Dietz Verlag, Berlin 2025 (ISBN: 978-3-8012-0707-6)