Wie weiter mit der Arbeit? – Kartierung der Arbeitsgesellschaft
Am 7. Oktober 2025 stellten Anke Hassel und Wolfgang Schroeder an der Berliner Hertie School of Governance ihr Buch „Was wird aus der Arbeit?“, im Rahmen einer gut besuchten Podiumsveranstaltung unter Beteiligung der Ersten Vorsitzenden der IG Metall, Christiane Benner, dem Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter sowie dem SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf.
Erschienen ist der Sammelband im Campus Verlag und Hassel/Schroeder machten deutlich, dass es ihnen nicht um eine weitere Zusammenstellung von Betrachtungen über Einzelaspekte der Arbeitswelt ging, sondern der Anlass für dieses Buch grundsätzlicher Natur ist.
Anke Hassel, die seit 2005 Professorin an der Hertie School ist und von 2016 bis 2019 die Leitung des Wirtschafts- und seit Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung innehatte, erinnerte an einen Satz aus der französischen Rentenreformdiskussion: „Die Rente kann niemand reformieren, der den Arbeitsmarkt nicht versteht.“ Wer also, schlussfolgerte sie, über die Zukunft des Sozialstaats reden wolle, müsse zuerst den Arbeitsmarkt verstehen – nicht nur in seinen ökonomischen, sondern in seinen gesellschaftlichen, kulturellen und institutionellen Dimensionen.
Hassels Co-Herausgeber Wolfgang Schroeder griff diesen Gedanken auf:
„Das Schicksal des deutschen Sozialstaats ist der Arbeitsmarkt.“
Der bestehende Sozialstaat, so seine Diagnose, bilde noch immer die fordistische Ordnung der Nachkriegszeit ab – stabile Normalarbeitsverhältnisse, männliche Vollzeiterwerbstätigkeit, tariflich geregelte Industriearbeit. Die Realität dagegen sei postfordistisch, fragmentiert und hybrid. Prekarität, Selbstständigkeit, Care-Berufe, Teilzeit, Migration, Digitalisierung und ökologische Transformation prägten heute die Arbeitswelt. Wer diesen Wandel verstehe, könne Sozialpolitik neu denken, argumentierte Schroeder, der zwischen 1991 und 2006 in unterschiedlichster Funktion beim Vorstand der IG Metall tätig war und seither eine Professur an der Universität Kassel innehat sowie ein Fellowship am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin.
In dem von Hassel/Schroeder herausgegebenen Band versammelt sind 44 Beiträge von mehr als 50 Autor:innen, gegliedert in acht Themenfelder. Dass es sich um eine diagnostische Arbeit bei laufender Operation handelt, findet seinen Ausdruck darin, dass die Überschriften der Themenkapitel als Fragen formuliert sind. Die Leser:innen suchen mit den Autor:innen nach Antworten auf Fragen einer Arbeitsgesellschaft in rasantem Umbruch:
- Ist Arbeit noch attraktiv?
- Welche Perspektive hat die Care-Arbeit in der neuen Arbeitsgesellschaft?
- Warum braucht die neue Arbeitsgesellschaft Migration und bessere Integration?
- Wie weiter in der Gehalts- und Tarifpolitik?
- Was sind die nächsten Schritte in der Aus- und Weiterbildung?
- Was ist das Besondere der grünen Arbeitsgesellschaft?
- Wie gelingt die digitale Transformation?
- Was ist der Rahmen und was sind die Bedingungen für die Gestaltung der Arbeit?
Drei Triebkräfte dieser Umwälzung – Technologie, Demografie und gesellschaftliche Regulierung identifizieren Hassel und Schroeder in der Einleitung zum Buch. Diese Trias bildet das theoretische Rückgrat des Bandes: Arbeit entsteht nicht „von selbst“, sondern im Spannungsfeld zwischen technischen Möglichkeiten, demografischen Verschiebungen und der institutionellen Fähigkeit der Gesellschaft, diese Prozesse gerecht zu gestalten.
Zwei Themenfelder hob Anke Hassel in ihrer Buchvorstellung bei der Hertie-School besonders hervor: Care-Arbeit und Migration/Integration. Beide sind Prüfsteine für die Gerechtigkeit und Integrationsfähigkeit der Arbeitsgesellschaft und Ausdruck des demografischen Wandels.
Care-Arbeit: Zeit, Anerkennung und strukturelle Aufwertung
Der Beitrag von Lena Hipp, Forschungsprofessorin am WZB und Agnes von Laffert, studentische Mitarbeiterin am WZB, macht deutlich, dass die Care-Berufe – Pflege, Erziehung, soziale Betreuung – trotz wachsender gesellschaftlicher Bedeutung weiterhin unterbewertet und unterbezahlt sind. Das betrifft sowohl Löhne als auch berufliche Aufstiegschancen und gesellschaftliche Anerkennung. Die Autorinnen fordern eine Neubewertung von Care-Arbeit entlang zweier Achsen: Zum einen Zeitgerechtigkeit, durch die Möglichkeit, Arbeits- und Sorgezeiten fair zu verteilen – zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen Lebensphasen sowie zum anderen im Hinblick auf die Bewertungsgerechtigkeit. Die Entlohnung muss sich stärker an gesellschaftlicher Bedeutung und Qualifikationsniveau orientieren, statt tradierte Geschlechterrollen fortzuschreiben. Hierfür unterbreiten sie ein Set an Vorschlägen: 1) eine Reform des Ehegattensplittings, 2) den Abbau von Minijobs und eine bessere Anrechnung von Teilzeit auf Rentenansprüche, 3) den Ausbau der Kinderbetreuung und mehr Partnermonate beim Elterngeld sowie 4) eine Tarif- und Qualifikationsstrategie für Pflegeberufe.
Die Autorinnen verknüpfen Gleichstellungspolitik und Fachkräftesicherung zu einem gemeinsamen sozialpolitischen Ziel. Care-Arbeit wird so nicht mehr als „Sonderproblem der Frauenarbeit“, sondern als Kernsektor der künftigen Arbeitsgesellschaft begriffen.
Migration und Integration: Arbeitskräftesicherung durch institutionelle Intelligenz
Das Kapitel zu Migration und Integration setzt einen ähnlichen Akzent: Migration ist nicht Zusatzthema, sondern Bedingung für die Funktionsfähigkeit des deutschen Arbeitsmarkts.
Susanne Schultz, Senior Expert bei der Bertelsmann-Stiftung, zeigt in ihrer empirischen Analyse, dass Deutschland angesichts des demografischen Wandels eine Nettozuwanderung von mindestens 300.000 Personen jährlich benötigt, um das Arbeitskräfteangebot stabil zu halten. Gleichzeitig verlässt rund ein Viertel der zugewanderten Fachkräfte das Land wieder – ein Indikator für unzureichende Integrationsstrukturen.
Dörte Ahrens, Vorstand der hessischen Agentur für berufsqualifizierende Sprache und der emeritierte Professor Jean-Michel Roche fordern daher ein berufsorientiertes Sprach- und Qualifikationsmanagement: Sprachkurse, die auf den konkreten Berufsalltag zugeschnitten sind, statt allgemeiner Integrationsprogramme. Den Blick auf die Saisonarbeit in der Landwirtschaft und auf prekäre Beschäftigungsmuster in Pflege und Logistik richtet Bettina Wagner, Referentin im Arbeitsstab der Migrationsbeauftragten der Bundesregierung, benennt ein offensichtliches und dennoch viel zu oft verdrängtes Thema in ihrem Beitrag klar im Titel: „Wie beenden wir die Ausbeutung in der Saisonarbeit?“ . Ihr Appell: stärkere Kontrollen, die Schließung von Sozialversicherungslücken und die Verankerung von Mindeststandards für Unterbringung, Lohn und Arbeitszeit.
Gemeinsam ergeben alle Beiträge des Kapitels ein politisches Programm: Wir sprechen nicht über Randzonen, sondern Strukturachsen der neuen Arbeitsgesellschaft – Orte, an denen sich entscheidet, ob der Arbeitsmarkt sozial integriert oder Spaltungen entlang nicht nur des Geschlechts, sondern auch der Herkunft vertieft.
Industrie, Dienstleistungen und die neue Grammatik der Arbeit
Wolfgang Schroeder erinnerte in der Diskussion an der Hertie School daran, dass heute 75 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor arbeiten, 23 Prozent in der Industrie, wobei viele Industriedienstleistungen statistisch zu den Dienstleistungen gezählt werden. Der Verlust industrieller Arbeitsplätze erschüttert das Selbstverständnis des „deutschen Modells“.
Dieses Modell – gekennzeichnet durch Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie, Facharbeit und Exportstärke – war das institutionelle Rückgrat der Bundesrepublik. Sein Erfolg beruhte auf einem dichten Geflecht aus kollektiver Regulierung und beruflicher Qualifikation.
Mit der Beobachtung, dass nur noch etwa ein Viertel der Beschäftigten in der Industrie tätig sei, markiert Schroeder den epochalen Bedeutungsverlust der Industriearbeit als sozialer und kultureller Referenzpunkt. Zugleich verweist er darauf, dass auch viele „Dienstleistungsarbeitsplätze“ industriell vermittelt sind (Ingenieur-, Wartungs- oder Logistikleistungen). Der industrielle Kern schrumpft also nicht einfach, sondern verlagert und hybridisiert sich.
Diese Verschiebung rüttelt am „deutschen Arbeitsmodell“, das jahrzehntelang auf einer Kombination aus industrieller Wertschöpfung, qualifizierter Facharbeit, Tarifbindung und Sozialpartnerschaft beruhte. Damit ist ein ganzer Institutionenkomplex – von Betriebsräten bis zur dualen Ausbildung – herausgefordert, sofern er auf eine Produktionsweise zugeschnitten war, die nicht mehr das strukturelle Zentrum der Beschäftigung bildet.
Betont werden muss jedoch, auch angesichts der kakophonischen Deindustrialisierungsdebatte, die gegenwärtig instrumentell geführt wird, dass der Begriff „postindustriell“ einen historischen Einschnitt suggeriert – als sei die Industriegesellschaft abgeschlossen und eine neue Ära angebrochen. Diese Redeweise ist jedoch empirisch und konzeptionell verkürzt.
Zwar sind heute rund drei Viertel der Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig, doch der industrielle Kern bleibt materiell, technologisch und symbolisch systemprägend, denn die industrielle Produktion generiert weiterhin hohe Produktivitätsraten und Exporterlöse, der Dienstleistungssektor ist in weiten Teilen industrienah (Forschung, Logistik, Software, Wartung, Design, Datenmanagement) und viele Zukunftsbranchen – von E-Mobilität über Robotik bis zu Energieinfrastrukturen – beruhen auf technisch-industrieller Kompetenz.
Das erklärt auch den von Schroeder betonten Begriff der „Hyperarbeitsgesellschaft“: Arbeit ist nicht weniger geworden, sondern vielfältiger, kleinteiliger, fragmentierter – aber weiterhin gesellschaftlich zentral.
Wenige Tage nach der Buchvorstellung legte der Chefredakteur des Handelsblattes in seinem Editorial „Der Herbst der Ausreden“ den Finger in die Wunde. Sebastian Matthes kritisierte dort mit deutlichen Worten, dass die Industrie ihre Krise zu einseitig der Politik zuschreibe. Hinter der verbreiteten Erwartung, das Kanzleramt könne Wachstum, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit steuern, stecke eine neue Staatsgläubigkeit der Wirtschaft. Tatsächlich befinde sich ein relevanter Teil der deutschen Industrie in einer selbstverschuldeten Strukturkrise, jahrelang überdeckt durch den China-Boom und die goldenen Nachkrisenjahre. Der Erfolg habe viele Unternehmen träge gemacht: Während anderswo die Zukunft programmiert wurde, hielten deutsche Ingenieure am Kolbenring fest. Heute verliere die Autoindustrie an Bedeutung, und auch der Maschinenbau werde von dynamischeren, digitaleren Wettbewerbern überholt. Matthes’ Fazit: Die deutsche Industrie sei nicht nur Opfer politischer Rahmenbedingungen, sondern ebenso Opfer ihrer eigenen Selbstzufriedenheit und Innovationsverweigerung.
Wenn Wolfgang Schroeder und Anke Hassel also eine neue Grammatik der Arbeit identifizieren wollen, dann eine, die über die industrielle Moderne hinausführt und dazu beiträgt, die Perspektive der postindustriellen Arbeitsgesellschaft nicht als Verlustgeschichte, sondern als Gestaltungsaufgabe zu formulieren.
Freilich ist zu konstatieren, dass der Weg der Transformation steinig ist, da mit vielen Enttäuschungen gepflastert. Ihn zu beschreiten, ist nicht nur ein sozialpolitisches oder technologisches Projekt, sondern vor allem ein mentaler und institutioneller Lernprozess. Dabei haben Unternehmensführungen, wie u.a. Matthes prononciert formuliert, in zahlreichen Branchen versagt, weil sie notwendige Erneuerungen zu lange hinauszögerten. Ihr Bemühen mit dem Finger vorwurfsvoll auf Staat oder Gewerkschaften zu zeigen, um Verantwortung abzuschieben, folgt dem alten Reflex des „Haltet den Dieb“ –verdeckt die eigenen strategischen Versäumnisse aber nur unzureichend.
Schwierigkeiten der „transformierbaren Industriearbeit“
In ihrem Beitrag „Gelingt der Übergang von fossilen zu grünen Arbeitsplätzen?“ beobachten Anke Hassel und Kilian Weil, Research Associate an der Hertie School, dass in Sektoren mit hohen Emissionen die Einkommen häufig gerechter verteilt sind als in vielen grünen oder dienstleistungsorientierten Branchen. Zudem ist dort der Anteil gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter überdurchschnittlich hoch. Die fossile Industrie – von der Energieerzeugung bis zur klassischen Automobilproduktion – bildete lange Zeit den sozialpartnerschaftlich stabilsten Teil der deutschen Wirtschaft: gut bezahlt, tariflich gesichert, kollektiv organisiert. Genau dieser Kernbereich steht nun im Zentrum der ökologischen Transformation – und damit im Zentrum einer sozialen Verunsicherung.
Hassel und Weil machen deutlich, dass der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft nicht nur eine technologische, sondern vor allem eine sozialstrukturelle Herausforderung ist. Mit dem Abbau fossiler Arbeitsplätze droht auch der Verlust jener Strukturen, die bislang für soziale Gleichheit und gewerkschaftliche Stärke sorgten. Neue „grüne“ Beschäftigungsfelder – etwa in Energieeffizienz, Recycling oder E-Mobilität – entstehen zwar, bieten jedoch häufig geringere Löhne, schwächere Tarifbindung und unsichere Beschäftigungsverhältnisse. Der Übergang von „fossiler“ zu „grüner“ Arbeit gelingt also nicht automatisch, sondern erfordert eine aktive politische Steuerung: durch staatliche Investitionen, tarifliche Rahmensetzungen und gezielte Weiterbildungsprogramme.
Seit den 1980er Jahren wurde innerhalb der Gewerkschaften die Vorstellung entwickelt, dass Industriearbeit qualifikatorisch wandelbar sei: Wer Maschinen bediene, könne auch automatisierte Anlagen steuern oder gar in neue Branchen wechseln. Das Leitmotiv lautete: „Transformation durch Qualifikation“. Dieses Programm zielte darauf, die Humanisierung und Sicherung von Beschäftigung über Weiterbildung, Umschulung und Tarifbindung zu gewährleisten – also den Strukturwandel immanent zu bewältigen, ohne soziale Verwerfungen.
Doch dieses Versprechen stieß in der Realität auf Grenzen, denn Qualifikationspfade sind seltener linear und stärker entwertungsgefährdet, neue Branchen (z. B. IT, Pflege, Dienstleistungen) bieten nicht automatisch vergleichbare Entlohnung oder Mitbestimmung und die Tarifbindung sinkt, besonders in jenen Sektoren, in die Industriearbeitskräfte überwechseln sollen.
Damit wird die Identität der Industriearbeiter:innen herausgefordert, da sich kollektive Solidarität, Stolz, Stabilität in neuen, flexibleren Sektoren nicht in selbem Maße fortschreiben ließen. Daraus ergab sich eine paradoxe Situation: Der Strukturwandel, der die Gewerkschaften einst als Modernisierungsakteure aufwerten sollte, unterminiert heute ihre eigene soziale Basis. In der Folge entstehen innere Spannungen zwischen dem Bemühen, einerseits die ökologische und digitale Transformation aktiv zu gestalten; andererseits verlieren die Industriegewerkschaften Mitglieder, die sich von den Versprechen der sozial abgefederten Umwandlung enttäuscht sehen.
Es ist auffällig, dass trotz der gewerkschaftlichen Orientierung beider Herausgeber:in, die betriebliche und gewerkschaftliche Stimme im Sammelband, von Bettina Kohlrausch, der Direktorin des WZB, an keiner Stelle vertreten ist. Das führt beispielsweise beim Beitrag „Können Betriebsräte KI?“ dazu, dass die Darlegungen von Samuel Greef (Uni Kassel) zwar nachvollziehbar sind aber doch arg blutleer bleiben, weil über Betriebsräte gesprochen wird, statt sie selbst zu Wort kommen zu lassen.
Gerade diese Leerstelle verweist auf ein zentrales Thema des Bandes: die institutionellen Grundlagen der Arbeitsbeziehungen. Denn wenn betriebliche Akteure kaum selbst zu Wort kommen, gewinnt die Frage an Gewicht, wie kollektive Aushandlung überhaupt organisiert und gesichert werden kann. Genau hier setzt das Kapitel zur Tarifpolitik und Sozialpartnerschaft an, das die Bedeutung von Tarifbindung und Mitbestimmung für die Zukunft der Arbeit betont.
Sozialpartnerschaft und Tarifbindung: Neujustierung statt Abschied
Jürgen Kädtler, Präsident des SOFI Göttingen, analysiert in seinem Beitrag die Tarifautonomie als Herzstück des „Modells Deutschland“. Mit der Einführung des Mindestlohns 2015 sei eine „Zeitenwende“ eingetreten: Der Staat musste eingreifen, weil die Tarifbindung – vor allem in kleinen und mittleren Betrieben – dramatisch gesunken war. Künftig, so Kädtler, könne der Staat die Tarifautonomie nur erhalten, wenn er Rahmenbedingungen schaffe, die kollektive Aushandlung wieder stärken.
Anke Hassel und Pit Jasper Lee, ebenfalls Research Associate der Hertie School, zeigen im internationalen Vergleich, dass Länder mit stärker zentralisierten Lohnverhandlungen und höherer Tarifbindung auch geringere Lohnungleichheit aufweisen. Für Deutschland folgern sie 1) Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen erleichtern, 2) Tariftreue-Regeln in öffentlichen Ausschreibungen und 3) neue Kooperationsformen zwischen Staat und Sozialpartnern zu entwickeln. Deutlich wird: Sozialpartnerschaft bleibt das Rückgrat der Transformation.
Ausbildung, Weiterbildung und die neue Lernarchitektur
Wenn wir bei dem Bild bleiben, dass die industrielle Produktion das Knochengerüst und die Dienstleistungsjobs die Muskeln und Fasern, dann schaut das Kapitel „Was sind die nächsten Schritte in der Aus- und Weiterbildung?“ auf die Herzfrequenz.
Der Konstanzer Wissenschaftler und Sprecher des Exzellenzclusters „The Politics of Inequalitiy“, Marius R. Busemeyer,plädiert für eine starke öffentliche Ausbildungsgarantie: Kein junger Mensch solle ohne Ausbildungsplatz bleiben. Damit reagiert er auf die Erosion des dualen Systems, das in einigen Regionen kaum noch Lehrstellen bietet. Busemeyer fordert zugleich eine schnellere Anpassung der Ausbildungsinhalte, insbesondere im Bereich Digitalisierung und grüner Technologien, sowie eine Ausweitung von Weiterbildungsanreizen für Erwachsene.
Lukas Graf, Berufsbildungsexperte aus der Schweiz, untersucht die dualen Studiengänge als Brücke zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Sein Befund: Sie erhöhen die Durchlässigkeit, bergen aber das Risiko einer sozialen Schließung, weil sie vor allem für mittlere und obere Bildungsschichten attraktiv sind. Er fordert klare Qualitätsstandards, bessere Regulierung und stärkere Einbindung der Sozialpartner, um diese hybriden Formate gerecht zu gestalten.
Bereits im Kapitel zur Migration und besseren Integration ergänzte die in Dublin lehrende und forschende Assistenz-Professorin Annatina Aerne die institutionelle Perspektive um die Frage nach der Governance von Weiterbildung. Sie zeigt, dass Weiterbildung bisher stark vom Betrieb abhängt und plädiert für eine „vierte Säule“ der sozialen Sicherung – eine öffentliche Weiterbildungsinfrastruktur, die allen Beschäftigten Zugang bietet.
Gemeinsam betonen die Autor:innen: Eine lernfähige Gesellschaft ist Voraussetzung einer gestaltbaren Arbeitsgesellschaft. Weiterbildung ist kein Add-on, sondern ein zentrales Steuerungsinstrument sozialer Gerechtigkeit.
Vom Humanisierungsdiskurs zur Gestaltung der Transformation
Bemerkenswert ist, das im Buch der klassische Begriff der „Humanisierung der Arbeit“ nicht mehr auftaucht, der ab den 1970er Jahren Leitmotiv der Arbeitssoziologie war. Damals zielte Humanisierung auf ergonomische Verbesserung, Mitbestimmung und Sinnorientierung im Betrieb. Heute hat sich die Perspektive verschoben, seit einer Reihe von Jahren wird insbesondere mit dem Begriff der „Guten Arbeit“ argumentiert. Das Subjekt der Arbeit rückt in den Hintergrund, die Gesellschaft als System wird zum Adressaten. Gleichwohl wird auch „Gute Arbeit“ als gewerkschaftliche Strategie sowie Forschungs- und Innovationsgegenstand im Sammelband nicht explizit aufgerufen – aber implizit.
Im abschließenden Themenfeld „Was ist der Rahmen und was sind die Bedingungen für die Gestaltung der Arbeit?“ wird der Rahmen „Guter Arbeit“ konkret.
Julia Borggräfe, Associate Partner bei der Organisationsberatung Metaplan, entzaubert den Mythos von New Work und plädiert für strukturelle Maßnahmen: arbeitsplatzintegriertes Lernen, Anerkennung informellen Lernens, Flexibilisierung der Arbeitszeit für Weiterbildungsphasen. Lisa Herzog, Professorin an der Universität Groningen, fragt nach der Demokratie in der Arbeit und argumentiert, dass Teilhabe am Arbeitsplatz die Grundlage demokratischer Kultur bilde. Weitere Beiträge thematisieren Homeoffice, Generationenbilder, Emotionen in der Arbeitswelt und die rechtliche Regulierung digitaler Arbeit. Der Gedanke der Humanisierung lebt also fort – erweitert als Rechts-, Beteiligungs- und Kompetenzarchitektur.
Die Stärke des Bandes liegt in seiner Multiperspektivität: von Care bis KI, von Tarifautonomie bis Ausbildung. Seine Schwäche – oder besser: seine Ehrlichkeit – besteht darin, dass er keine einfache Synthese bietet. Deutlich wird: Ohne Aufwertung und gerechte Organisation von Care-Arbeit ist soziale Kohäsion nicht zu sichern. Ohne realistische Migrationspolitik bricht der Arbeitsmarkt ein. Ohne Ausbildungsgarantie, Weiterbildung und Tarifbindung verliert der Sozialstaat seine Grundlage. Und ohne demokratische Gestaltung von Digitalisierung und grüner Transformation bleibt Arbeit entfremdet.
Das Buch zeigt eine Gesellschaft im Übergang – von der industriellen Normalität zur vielfältigen, hybriden Arbeitswelt. Die gewerkschaftliche Orientierung vieler Autor:innen ersetzt freilich nicht die gewerkschaftliche Stimme selbst, die in diesem Sammelband keinen Platz eingeräumt bekam. Weder konkrete betriebliche Erfahrungen noch innergewerkschaftliche Konflikte über Strategie, Repräsentation oder Machtressourcen finden somit einen eigenen Ausdruck bei der Antwortsuche auf die Frage was aus der Arbeit wird. Anke Hassel und Wolfgang Schroeder beschreiben gemeinsam mit den Autor:innen klug und instruktiv die Arbeitsgesellschaft, ohne sie selbst sprechen zu lassen.
Anke Hassel/Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Was wird aus der Arbeit? Campus Verlag, Frankfurt/New York 2025 (ISBN: 978-3-5935-20377)