15.10.2025
Rezension

Rechte Kulturalisierung der Arbeit und konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik

Grafik aus dem Beitrag: AfD als Arbeiterpartei? auf www.telepolis.de

Die Arbeitsgesellschaft verändert sich tiefgreifend – technologisch, institutionell und kulturell. Digitalisierung, ökologische Transformation und Migration prägen die Arbeitsmärkte ebenso wie die Erosion kollektiver Bindungen: Tarifverträge verlieren an Reichweite, Mitbestimmung wird ausgehöhlt, gewerkschaftliche Organisationsgrade sinken. Damit verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit – und mit ihm das Selbstverständnis demokratischer Gesellschaften.

In dieser Situation gewinnen alte Fragen neue Dringlichkeit: Wie lässt sich Arbeit unter Bedingungen globaler Konkurrenz, ökologischer Grenzen und sozialer Fragmentierung gerecht gestalten? Welche Formen kollektiver Interessenvertretung bleiben tragfähig? Und wie kann verhindert werden, dass rechtspopulistische Bewegungen soziale Unsicherheit in kulturelle Abgrenzung übersetzen?

Vier aktuelle Beiträge aus drei Büchern setzen an dieser Bruchlinie an.
Im Band Was wird aus der Arbeit? (hg. von Anke Hassel und Wolfgang Schroeder) untersuchen Alexander Busch, Lukas Lehner und Kilian Weil empirisch die neue Streiklandschaft, während Bettina Kohlrausch die Aneignung arbeitsweltlicher Deutungsmuster durch die deutsche Rechte analysiert. In Mut zum Unmut von Matthias Meisner und Paul Starzmann treten journalistische Beobachtungen zu Arbeit und Streik hinzu, und Klaus Dörre beschreibt im Band Autoritäre Treiber eines Systemwechsels (hg. von Wilhelm Heitmeyer und Günter Frankenberger), wie rechtspopulistische Bewegungen den gesellschaftlichen Vertrauensverlust in Arbeit und Gewerkschaften politisch ummünzen.

Gemeinsam zeichnen diese Texte ein Bild der Arbeitsgesellschaft im Umbruch – zwischen Konflikt als demokratischer Ressource, Kontrolle durch Marktideologie und autoritärer Umdeutung von Arbeit als kultureller Zugehörigkeit.

Arbeitskämpfe und die Rückkehr des Streiks

Die Untersuchung von Alexander Busch, Lukas Lehner und Kilian Weil mit dem Titel Ist Deutschland eine Streikrepublik? geht der Frage nach, ob das Land in eine neue Phase erhöhter Konfliktbereitschaft eingetreten ist. Grundlage des Beitrags der drei Wissenschaftler von den Universitäten Konstanz, Edinburgh sowie der Hertie School Berlin bilden Daten der Bundesagentur für Arbeit, der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) sowie ein eigens entwickelter „Striketracker“, der mittels maschinellen Lernens lokale Streikaktivitäten erfasst.

Ihr Befund im Band Was wird aus der Arbeit? [hier geht’s zu meiner Rezension] lautet: Die Zahl der Arbeitskämpfe steigt seit Mitte der 2010er Jahre, besonders im Dienstleistungssektor – Pflege, Verkehr, Flughäfen –, bleibt aber im historischen Vergleich moderat. Entscheidend ist die strukturelle Verschiebung: Der klassische Industriearbeiter verliert als Symbolfigur an Bedeutung; neue, oft weiblich geprägte Berufsgruppen prägen die Streikstatistik. Streikende arbeiten häufiger in städtischen Regionen, in Teilzeit und unter hohem Zeitdruck.

Der Beitrag beschreibt die Erosion der Sozialpartnerschaft als doppelte Bewegung: Sinkende Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung mindern zwar den Einfluss der Gewerkschaften, führen aber zugleich zu mehr Konfliktbereitschaft. Streiks erscheinen damit nicht als Ausdruck von Instabilität, sondern als notwendiger Bestandteil einer demokratischen Ökonomie. Busch, Lehner und Weil argumentieren für institutionelle Reformen – eine Ausweitung der Tarifbindung, eine Stärkung der Mitbestimmung und eine bessere Datenerfassung –, um Konflikte produktiv zu integrieren, statt sie zu delegitimieren.

Streik, Würde und Widerstand

Die Journalisten Matthias Meisner und Paul Starzmann schließen in ihrem Buch Mut zum Unmut [hier geht’s zu meiner Rezension] an diese Diagnose an, verschieben jedoch die Perspektive von der empirischen Analyse zur Erfahrungsdimension. Ihre Kapitel „Arbeit“ und „Streik“ erzählen Geschichten von Beschäftigten, die sich gegen ökonomische und kulturelle Entwertung wehren. Sie porträtieren den GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky, den Amazon-Arbeiter Hedi Tounsi und die Pflegekraft Conny Swillus-Knöchel – drei Figuren, die für unterschiedliche Sektoren stehen, aber ein Motiv teilen: den Versuch, Würde im Arbeitsalltag zu behaupten.

Die Autor:innen deuten Streiks als Akte demokratischer Selbstermächtigung, nicht als Störung der Ordnung. Gegen den allgegenwärtigen Leistungsdiskurs, der individuelles Versagen statt struktureller Ausbeutung betont, setzen sie die Erfahrung kollektiver Solidarität. Der Streik wird zur praktischen Kritik am Produktivismus – jener Vorstellung, dass menschlicher Wert sich allein in Effizienz bemisst.

Diese Perspektive knüpft an eine lange Tradition gewerkschaftlicher Bildungs- und Demokratisierungsideen an. Der frühere IG-Metall-Bezirksleiter Willi Bleicher brachte das 1971 in Heilbronn auf den Punkt:

„Es gab keine Tarifbewegung bisher, an deren Beginn nicht das Bangemachen der Unternehmer gestanden hätte. Unsere Lohn- und Gehaltsforderungen – so minimal sie zuweilen waren – gefährdeten angeblich den Export und damit die Arbeitsplätze, waren schuld an der Preisentwicklung. Und dennoch: Diese Wirtschaft wuchs und wuchs von Lohnbewegung zu Lohnbewegung, und die Millionäre wurden nicht weniger.“

Für Bleicher waren Arbeitskämpfe mehr als Machtproben: Sie galten ihm als Schulen der Demokratie:

„Mir war es lieber, zehn Pfennige mit Streik durchzusetzen, als elf Pfennige am Verhandlungstisch“,

sagte er – nicht aus Prinzipienreiterei, sondern aus Überzeugung, dass kollektives Handeln Selbstbewusstsein schafft und politische Mündigkeit fördert.

In diesem Sinne betont auch Ernesto Klengel, Wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI), dass Streiks ein zentrales demokratisches Element der Selbstwirksamkeit seien. Ohne das Recht, die Arbeit niederzulegen, wäre Tarifautonomie nichts anderes als „kollektives Betteln“ – ein Begriff, den bereits das Bundesarbeitsgericht prägte. Klengel verweist auf konservative und wirtschaftsliberale Versuche, das Streikrecht einzuschränken, etwa durch Forderungen, systemrelevante Bereiche wie Kitas oder Krankenhäuser auszunehmen. Dahinter stünden Vorstellungen eines „geordneten“ Arbeitslebens und das Interesse an niedrigen Arbeitskosten. Streiks aber, so Klengel, seien gerade dort notwendig, wo Beschäftigte öffentliche Verantwortung tragen: Sie machen sichtbar, dass Demokratie auch in der Arbeitswelt auf Konflikt beruht.

Die historische Perspektive Bleichers und die zeitgenössische Praxis Klengels erinnern daran, dass Arbeitskämpfe keine unzulässige Störung sind, sondern Ausdruck einer vitalen Demokratie in der Arbeitswelt, die Konflikte aushält und löst. Und bei denen die Beschäftigten im besten Sinne Selbst-Bewusstsein erfahren.

Welches Bild von der Arbeitsgesellschaft hat die deutsche Rechte?

Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und zugleich Professorin an der Universität Paderborn untersucht im Sammelband Was wird aus der Arbeit? empirisch, wie tief rechtspopulistische Einstellungen in bestimmten Beschäftigtengruppen verankert sind. Sie stützt sich dabei auf Datensätze des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und der WSI-Erhebung „Arbeitswelt-Monitor“, die politische Orientierung, ökonomische Lage und kulturelle Einstellungen verknüpfen. Demnach liegt der Anteil der Arbeiter:innen unter den AfD-Wähler:innen bei rund 38 Prozent – höher als in jeder anderen Partei. Besonders ausgeprägt ist die Zustimmung zu autoritären, nationalistischen und exkludierenden Positionen unter Beschäftigten, die geringe Arbeitsplatzsicherheit, Einkommensunsicherheit und einen Mangel an sozialer Anerkennung empfinden.

Kohlrausch interpretiert diese Ergebnisse als Ausdruck einer tiefen sozialen Kränkung, die sich nicht allein ökonomisch erklären lässt. Die AfD verknüpft diese Erfahrungen mit einer kulturellen Erzählung, die Arbeit zur Frage nationaler Zugehörigkeit macht. Ihre Formel vom „solidarischen Patriotismus“ verspricht Schutz vor Globalisierung und Migration – aber nur für die „Eigenen“. Programatisch bleibt sie zugleich marktradikal: Sie lehnt Tariftreuegesetze ab, will Lohnnebenkosten senken und betont Eigenverantwortung statt kollektiver Absicherung.

Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich auch institutionell: Im Bundestag lehnt die AfD sämtliche Initiativen ab, die die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen stärken würden. Ihr arbeitsmarktpolitischer Sprecher stellte in einer Debatte die Stellung der Gewerkschaften im Tarifvertragsgesetz offen infrage (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Protokoll 224. Sitzung, S. 28525). Ziel dieser Linie ist es, die Organisationsmacht der Beschäftigten zu schwächen und das Streikrecht durch neue Ordnungsfaktoren einzuschränken. Würde sie umgesetzt, verlören Arbeitnehmer:innen ihre stärksten kollektiven Vertretungen und flächendeckende Tarifstandards ihre Grundlage.

Kohlrauschs Analyse macht deutlich: Die AfD gelingt es, reale soziale Verunsicherungen politisch zu binden, indem sie Solidarität ethnisch begrenzt und soziale Konflikte kulturell umlenkt. Damit bedroht sie nicht nur das Selbstverständnis der Arbeitsgesellschaft, sondern auch ihre demokratische Infrastruktur.

„Volk“ versus Klasse. AfD, Arbeiterschaft und die Gewerkschaften

Der Soziologe Klaus Dörre, für viele Jahre an der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena tätig, greift diesen Zusammenhang im Band Autoritäre Treiber eines Systemwechsels [hier geht’s zu meiner Rezension] auf und vertieft ihn mit qualitativen Fallstudien aus der Industrie- und Energiewirtschaft. Seine empirischen Untersuchungen basieren auf mehrjährigen Forschungsprojekten zu Industriearbeit und Demokratie, in denen Interviews mit Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaftsvertreter:innen geführt wurden.

Dörre beschreibt, dass rechtspopulistische Orientierungen keineswegs auf „Abgehängte“ beschränkt sind. Vielmehr finden sich autoritäre Einstellungen auch in stabilen Beschäftigungsverhältnissen – vor allem dort, wo Menschen das Gefühl haben, für gesellschaftlichen Wohlstand zu arbeiten, ohne politische Anerkennung zu erfahren. Hier entstehe, so Dörre, ein „autoritäres Syndrom aus der Mitte der Gesellschaft“. Die Folge sei eine Verschiebung vom Klassenbewusstsein hin zur populistischen Vorstellung eines „Volkes“ gegen „die da oben“.

Zentral ist Dörres Schlussfolgerung: Die politische Schwäche der Gewerkschaften resultiere weniger aus Mitgliederschwund als aus einem Verlust an Deutungsmacht. Wo Konflikte technokratisch abgewickelt werden, verlieren sie ihren gesellschaftlichen Sinn. Deshalb fordert er eine „konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik“, die Arbeitskämpfe wieder als demokratische Lernprozesse versteht – als Orte, an denen soziale Interessen politisch artikuliert und solidarische Haltungen erneuert werden können.

Damit schließt Dörre an Kohlrauschs empirische Diagnose an, ergänzt sie aber um eine strategische Perspektive: Wenn Arbeit wieder zum Ort demokratischer Erfahrung werden soll, braucht es eine bewusste Rückgewinnung des Politischen in der Arbeitswelt.

Arbeit und Betrieb als demokratische Praxis

Die vier Beiträge machen deutlich: Arbeit ist kein neutraler Produktionsprozess, sondern das Feld, auf dem sich Klasseninteressen, Macht und Anerkennung gesellschaftlich materialisieren. Busch, Lehner und Weil zeigen, dass Konflikte um Löhne und Arbeitsbedingungen Ausdruck von Teilhabe sind. Meisner und Starzmann erzählen, wie Streikende Würde und Solidarität neu erfahren. Kohlrausch und Dörre schließlich zeigen, wie sehr die Aushöhlung kollektiver Strukturen autoritären Tendenzen den Boden bereitet - und was dagegen in und mit den Gewerkschaften zu tun wäre.

Gemeinsam entwerfen sie eine politische Soziologie der Arbeit, die in der Gegenwart hochaktuell ist. Die Zukunft der Demokratie hängt auch davon ab, ob die Gesellschaft Arbeit weiterhin als Ort kollektiver Anerkennung begreift – oder sie in eine Bühne nationalistischer Identitätspolitik verwandeln lässt. Zugleich übt sich - mit den Worten und der biographischen Erfahrung Willi Bleichers - Demokratie in unserer Gesellschaft und der Arbeitswelt insbesondere auch in den kollektiven, solidarischen Gemeinsamkeitserfahrungen von Gewerkschaften und Arbeitskämpfen ein.

Alexander Busch/Lukas Lehner/Kilian Weil, Ist Deutschland eine Streikrepublik? in: Anke Hassel/Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Was wird aus der Arbeit? Campus Verlag, Frankfurt/New York 2025, S. 171-178

Klaus Dörre, „Volk“ versus Klasse. AfD, Arbeiterschaft und die Gewerkschaften, in: Günter Frankenberg/Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Autoritäre Treiber eines Systemwechsels. Zur Destabilisierung von Institutionen durch die AfD, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2025, S. 213-242

Bettina Kohlrausch, Welches Bild von der Arbeitsgesellschaft hat die deutsche Rechte? in: Anke Hassel/Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Was wird aus der Arbeit? Campus Verlag, Frankfurt/New York 2025, S. 287-292

Matthias Meisner/Paul Starzmann, Mut zum Unmut. Eine Anleitung zur politischen Widerspenstigkeit, Dietz Verlag, Berlin 2025