10.05.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Jüdisches Leben

Linker Parteitag: Kontroverse um Antisemitismusdefinitionen

Linker Bundesparteitag in Chemnitz / Alle Rechte: www.die-linke.de

Auf dem Chemnitzer Bundesparteitag feierte Die Linke ihre Wiederauferstehung: Die Mitgliederzahl stieg auf 112.000 – fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Bei der Bundestagswahl erreichte die Partei knapp neun Prozent und zog erneut in Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Noch bevor die neue schwarz-rote Koalition ihre Arbeit aufnehmen konnte, wurde der bislang geltende Unvereinbarkeitsbeschluss gegen die Linkspartei – basierend auf einer fragwürdigen Gleichsetzung mit der AfD – von führenden Unionspolitiker:innen öffentlich in Frage gestellt.

Debattiert und beschlossen wurden auf dem Hochamt der Linken in der diesjährigen Europäischen Kulturhauptstadt vorrangig Mittel und Wege, mit denen die Partei „eine Linke wiederherstellt, die sympathisch, verlässlich und Teil der Gesellschaft ist - eine Partei, die den Menschen wieder Hoffnung gibt“, wie es im Leitantrag heißt.

Wie bereits bei dem vergangenen Parteitag in Halle/Saale war auch in Chemnitz eine Linke zu beobachten, die das Gegenteil jener von Widersprüchen und tiefsitzenden Gegnerschaften zerfressenen Partei ist, die sie vor der Trennung von Sahra Wagenknecht und ihrem Flügel gewesen ist.

Und gleichzeitig ist auch die neue Linke bedauerlicherweise in der Lage, in das Muster der gegenseitigen Infragestellung bis hin zum Aufruf der Exkommunizierung als jeweils abweichende Meinung interpretierter Positionen zurückzufallen. Diese fatale Methode widerspricht dem Anspruch, den sich Die Linke in Chemnitz selbst gegeben hat: „die Utopie einer besseren Gesellschaft ausdrücken zu können, die Sehnsucht danach zu beflügeln und die Zuversicht zu stärken, dass eine bessere Welt möglich ist.“ (Beschluss über den Leitantrag)

Auf dem vergangenen Bundesparteitag in Halle/Saale fasste Die Linke einen grundsätzlichen Beschluss zum Krieg in Gaza unter der Überschrift: „Deeskalation und Abrüstung in Nahost – für Frieden, Völkerrecht – gegen jeden Rassismus und Antisemitismus“. Dem vorausgegangen war ein massiver Konflikt im Berliner Landesverband, den ich hier auf dem Blog ausführlicher kommentierte. Im Ergebnis dieser harten Auseinandersetzung gaben für die Berliner Linke über Jahrzehnte prägende Personen, wie u.a. Elke Breitenbach und Klaus Lederer, ihre Mitgliedsbücher zurück.

Für die Linkspartei hat sich im Hinblick auf die eigene Beschlusslage seit dem vergangenen Herbst nichts verändert. Die auf dem Halleschen Parteitag formulierte Position ist weiterhin aktuell. Der vom Parteivorstand am Vorabend des Parteitages gefasste Beschluss „Das Existenzrecht Israels ist für uns nicht verhandelbar“, legte noch einmal unmissverständlich klar, in welchem Rahmen berechtigte und auch notwendige Kritik an der Politik der Rechtsregierung Israels der Linken verläuft. Hintergrund dafür war ein in den sozialen Netzwerken ausgetragener Konflikt zwischen Linksparteipolitiker:innen, über die der Tagesspiegel berichtet.

Der Chemnitzer Bundesparteitag fasste mehrheitlich nicht nur den Beschluss „Vertreibung und Hungersnot in Gaza stoppen – Völkerrecht verwirklichen!“, sondern mit 213 zu 181 Stimmen auch den mehrheitlichen Beschluss, dass deutsche Behörden die „Arbeitsdefinition-Antisemitismus“ der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) durch die Jerusalemer Erklärung ersetzen sollen. Dieser letzte Beschluss ist nicht nur politisch ein Pyrrhussieg, sondern auch in jeder Hinsicht falsch.

Dieser Beschluss ist nicht nur deshalb problematisch, weil er eine umstrittene Definition durch eine andere ersetzt. Er ist grundsätzlich verfehlt, weil die politische Instrumentalisierung wissenschaftlicher Begriffe scheitern muss. Sie ersetzt Politik durch dogmatische Kanonisierung und endet letztlich im Bestreben, die Definition juristisch aufzuladen. Darum geht es im Übrigen in dem seit Jahren laufenden Konflikt um die sogenannte IHRA-Definition. Bringen wir deshalb so kurz wie möglich, Licht ins Dunkel.

  • Die „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2016 ist international weit verbreitet und von zahlreichen Staaten und Institutionen anerkannt. Sie definiert Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“. Enthält elf Beispiele, von denen sieben Israel betreffen. Kritiker:innen werfen der IHRA-Definition vor, sie verwische die Grenze zwischen legitimer Kritik an Israel und Antisemitismus und könne so zur Einschränkung legitimer politischer Debatten führen.
  • Die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) wurde 2021 von einer internationalen Gruppe von Wissenschaftler:innen als Reaktion auf die IHRA-Definition veröffentlicht. Sie versteht Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Institutionen als jüdisch)“. Im Unterschied zur IHRA-Definition betont die JDA, dass nicht jede Kritik an Israel oder am Zionismus antisemitisch ist. Sie unterscheidet explizit zwischen antisemitischer Rede über Israel und legitimer Kritik am Staat Israel oder am Zionismus und sieht Antizionismus nicht grundsätzlich als antisemitisch an. Kritiker:innen betonen, dass die JDA die Unterstützung von Boykottaufrufen (BDS) nicht automatisch als antisemitisch wertet, sondern als legitime Form des politischen Protests.
  • Die Nexus Task Force, eine US-amerikanische Initiative, hat ebenfalls eine eigene Definition: „The Nexus Document“ vorgelegt. Auch sie unterscheidet zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an Israel und betont, dass Kritik an israelischer Politik, auch scharfe oder grundsätzliche, nicht per se antisemitisch ist, solange sie nicht auf antisemitischen Stereotypen basiert oder Juden kollektiv für Israels Handlungen verantwortlich macht. Auch sie sieht die Gefahr, dass die IHRA-Definition zur Einschränkung legitimer politischer Debatten genutzt werden kann. Sie wird von den Kritiker:innen der JDA ebenfalls abgelehnt.

Diesen drei Versuchen, eine Definition von Antisemitismus vorzunehmen ist gemein, wie Ralf Michaels, Jerzy Montag, Armin Nassehi, Andreas Paulus, Miriam Rürup und Paula-Irene Villa Braslavsky in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 23. Oktober 2024 betonen:

„Was genau unter Antisemitismus zu verstehen ist und in welchen Situationen er vorliegt, bleibt Gegenstand fortwährender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Reflexion; der Staat kann das nicht autoritativ festlegen. Zur Orientierung können verschiedene Definitionen dienen, so etwa die von der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) erlassene, nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition, sowie andere Definitionen wie die von führenden Holocaust-, Jewish Studies- und Antisemitismus-Forschenden verfasste und unterstützte Jerusalem Declaration oder das Nexus-Dokument. Ob Antisemitismus vorliegt, kann nur fallspezifisch beurteilt werden. Wir wenden uns gegen die Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen zur Erreichung politischer Ziele, ganz gleich von welcher Seite.“

Getroffen hatten die Wissenschaftler:innen diese zutreffende Analyse vor dem Hintergrund

  • sowohl der politischen Debatte um den im Oktober 2024 vom Deutschen Bundestag nach langen, komplizierten Verhandlungen zwischen den Fraktionen der sogenannten Ampelkoalition einerseits und der CDU/CSU-Opposition gefassten Resolution mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“
  • als auch dem Versuch des damaligen Berliner Kultursenators Joe Chialo (CDU), Zuwendungsempfänger:innen zu einem Bekenntnis „gegen jedwede Diskriminierung und Ausgrenzung, sowie gegen jede Form von Antisemitismus gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung" zu verpflichten.

Gegen diese Maßnahme gab es viel Widerstand und rechtlich begründete Gegenargumente, z.B. von Kai Ambos et al. auf dem Verfassungsblog. Ein im Auftrag der Kulturstaatsministerin Claudia Roth in Auftrag gegebenes Gutachten des Verfassungsrechtlers Christoph Möllers zu den grundrechtlichen Grenzen und Schutzgeboten staatlicher Kulturförderung konstatierte: „Der Staat hat die Pflicht, Kulturinstitutionen grundsätzlich und in spezifischen Konstellationen vor Antisemitismus zu warnen und kann diesen eine besondere Sensibilität auferlegen. Eine flächendeckende Vorabkontrolle von künstlerischen Programmen ist dagegen aus den oben genannten Gründen ausgeschlossen.“

Auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) äußerte sich bereits im November 2024 kritisch über das Vorhaben, eine weitere Bundestagsresolution gegen Antisemitismus speziell für die Anwendung an Hochschulen und Schulen zu verabschieden. "Ein solcher Beschluss ist sachlich nicht geboten und vor dem Hintergrund von Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit nicht nützlich", heißt es in der Entschließung der 39. HRK-Mitgliederversammlung vom 19. November 2024. HRK-Präsident Professor Walter Rosenthal erklärt dazu:

"Die Resolution enthält Forderungen, die auch bei besten Absichten als Einfallstor für Einschränkungen und Bevormundung etwa in der Forschungsförderung verstanden werden könnten".

Ich berichtete über diese Resolution und die Debatte über die Befürchtungen hinsichtlich der Freiheit von Kunst und Wissenschaft auf meinem Blog im Beitrag „Kompromiss mit bleibenden Konfliktpotenzial“ und anlässlich des Lageberichts des AJC Berlin, Lawrence and Lee Ramer Institute for German-Jewish Relations in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) über Antisemitismus an Hochschulen in dem Beitrag „Zwischen Feindseligkeit und Gleichgültigkeit: Antisemitismus an deutschen Hochschulen“.

Wenn nun eine Mehrheit des linken Bundesparteitags meint, sie müsse die umstrittene IHRA-Definition, die von einigen als verrechtliches Instrument der Behörden eingesetzt werden soll, durch eine andere, ebenfalls umstrittene Definition ersetzen, sind die betreffenden Delegierten nicht klüger und handeln auch nicht rationaler als Joe Chialo oder der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer.

Es ist dasselbe Spiel der Instrumentalisierung von Wissenschaft zu politischen Zwecken. Und im Übrigen nicht einmal „links“, wenn diese politische Haltung sich weiterhin als aufklärerisch versteht. Die neue Linke sollte klug genug sein, sich an der Kanonisierung vermeintlicher Wahrheiten nicht zu beteiligen.

Dies wäre zudem ein Beitrag im Sinne des ebenfalls von einer Mehrheit der Delegierten beschlossenen Leitantrags des Chemnitzer Parteitags, in dem es heißt:

Gemeinsame Haltung für den Frieden: Die Linke ist und bleibt eine Friedenspartei, insbesondere in Zeiten zunehmender Militarisierung. Als Partei treten wir bedingungslos für das Völkerrecht und den Schutz derjenigen ein, die unter den Kriegen dieser Welt leiden. Wir wollen es in Zukunft besser schaffen, mit unseren Vorschlägen für diplomatische und andere nicht-militärische Mittel, um Kriege zu beenden, durchzudringen. Wir wollen hier die Positionen, die uns vereinen, in den Mittelpunkt stellen.“

Die Positionen, die uns vereinen, in den Mittelpunkt zu stellen – an dieser Lernaufgabe muss Die Linke weiterhin noch wachsen.