Kompromiss mit bleibenden Konfliktpotenzial: Der Bundestag und die Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland
Am Donnerstag dieser Woche wird nach langen, komplizierten Verhandlungen zwischen den Fraktionen der sogenannten Ampelkoalition einerseits und der CDU/CSU-Opposition im Deutschen Bundestag andererseits eine Resolution mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ beschlossen werden.
Die Verhandlungen um diese Resolution zogen sich ungewöhnlich lange hin, wurden zuerst auf Ebene der zuständigen Fachpolitiker:innen debattiert und über mehrere Stufen letztlich auf Ebene der Fraktionsvorsitzenden der beteiligten Fraktionen konsentiert. Mehr als ein Jahr diskutierten die Fraktionen, bezogen dabei beispielsweise die Parlamentarische Gruppe der Linken, der beispielsweise die über jeden Zweifel erhabene Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Pau, angehört, nicht ein.
Ebenfalls mehr als ein Jahr tobt, wie Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung schreibt:
„der jüngste und furchtbarste Krieg zwischen der im Gazastreifen herrschenden Hamas und dem israelischen Militär schon. Hass, der ‚israelbezogen’ist, bildet währenddessen eine Realität für die etwa 200.000 deutschen Jüdinnen und Juden. Das ist abzuzählen an Brandanschlägen, Steinwürfen und direkten körperlichen Angriffen hierzulande, die sich, von einer schon zuvor unerträglich hohen Schlagzahl ausgehend, in diesem Jahr verdoppelt haben.“
Die nun vorliegende Resolution ist ein Kompromiss, „nicht der scharfkantige Sound, den manche in der Union gerne angeschlagen hätten“ (R. Steinke). Er ist abgemildert und reagiert auch auf die im vergangenen Jahr bereits praktisch gewordenen Maßnahmen z.B. im Ausländerrecht aber zugleich auch auf die seither gesammelten Erfahrungen mit Schnellschüssen, wie z.B. dem Versuch des Berliner Kultursenators Joe Chialo, Zuwendungsempfänger:innen zu einem Bekenntnis „gegen jedwede Diskriminierung und Ausgrenzung, sowie gegen jede Form von Antisemitismus gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung" zu verpflichten.
Gegen diese Maßnahme gab es viel Widerstand und rechtlich begründete Gegenargumente, z.B. von Kai Ambos et al. auf dem Verfassungsblog. Ein im Auftrag der Kulturstaatsministerin Claudia Roth in Auftrag gegebenes Gutachten des Verfassungsrechtlers Christoph Möllers zu den grundrechtlichen Grenzen und Schutzgeboten staatlicher Kulturförderung konstatierte:
„Der Staat hat die Pflicht, Kulturinstitutionen grundsätzlich und in spezifischen Konstellationen vor Antisemitismus zu warnen und kann diesen eine besondere Sensibilität auferlegen. Eine flächendeckende Vorabkontrolle von künstlerischen Programmen ist dagegen aus den oben genannten Gründen ausgeschlossen. Nur durch eine solche Arbeitsteilung zwischen politischer und künstlerischer Ebene lässt sich staatlich geförderte Kunst von staatlicher Propaganda unterscheiden. Ob dieses System, das wie jedes freiheitliche fehleranfällig ist, funktioniert, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass ihre durch diese Arbeitsteilung geschaffene Verantwortung auch von den Kulturschaffenden wahrgenommen wird.“
Im März dieses Jahres verständigten sich die Kulturministerinnen und –minister der Länder, zusammengeschlossen in der Kulturministerkonferenz, mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und den kommunalen Spitzenverbänden auf eine gemeinsame Erklärung „Freiheit und Respekt in Kunst und Kultur. Strategien gegen antisemitische, rassistische und andere menschenverachtende Inhalte im öffentlich geförderten Kulturbetrieb“. Alle Beteiligten bekräftigten dabei, auch vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse, ihr Bekenntnis, sich entschieden jenen entgegenzustellen, die die Ideologie des Israelhasses und des Antisemitismus vertreten.
Die in der gemeinsamen Erklärung enthaltene Zielstellung, dass Länder, Bund und Kommunen – soweit noch nicht erfolgt – rechtssichere Regelungen erarbeiten sollen, die darauf abzielen, dass keine Projekte und Vorhaben gefördert werden, die antisemitische, rassistische oder andere menschenverachtende Ziele verfolgen, ist nunmehr auch in der Resolution des Deutschen Bundestags enthalten.
Doch bereits in der Konferenz der Kulturministerinnen und –minister blieb offen, wie rechtssicher festgestellt werden solle, was „antisemitische Inhalte“ in der Kunst sind. Als Thüringer Kulturminister habe ich nach Austausch mit den Expert:innen in dem von mir geführten Kulturministerium, Thüringer Kulturinstitutionen aber auch dem Thüringer Finanzministerium die Auffassung vertreten, dass die bestehenden Regelungen im Haushalts- und Förderrecht ausreichende Handhabe bieten, gegen die Förderung von Institutionen oder Vorhaben, die gesetzlichen Regelungen oder den Maßgaben der Thüringer Landesverfassung widersprechen.
Auch die Bundestagsresolution gibt darauf keine Antwort. Dass muss kein Nachteil sein. Denn die Alternative hätte darin bestanden, wie Ronen Steinke in der SZ erinnert, gemäß dem Vorschlag einiger Politiker:innen aus den Unionsparteien, „eine bestimmte, sehr weite Definition für Antisemitismus zu verwenden (nämlich jene, die vor einigen Jahren von der ‚International Holocaust Remembrance Alliance“, kurz IHRA, entwickelt worden ist) und in Zweifelsfällen einfach dem Verfassungsschutz die Deutungshoheit über die Kunst zu überlassen – während also in den vergangenen Monaten rechtsstaatlich ziemlich Abenteuerliches zu befürchten war, hält sich die geplante Bundestagsresolution dezent zurück.“
Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der deutschen Kunst- und Kulturzusammenschlüsse, begrüßte zwar im Juli dieses Jahres grundsätzlich die gemeinsame Erklärung der Kulturminister:innen der Länder und des Bundes sowie der Kommunalen Spitzenverbände. Er erklärte jedoch in einer eigenen Erklärung hinsichtlich des Ziels, die Förderungen zu präzisieren, „dass ein Spannungsverhältnis zwischen der Verdeutlichung gesellschaftlicher Probleme oder Brüche, die der Kunst inhärent sein kann, und der Überschreitung von gesetzlich gezogenen Grenzen besteht. Dies kann jedoch nicht durch entsprechende Klauseln und Definitionsversuche in Zuwendungsbescheiden gelöst werden“.
In einer weiteren Konkretisierung der Fördervorgaben, um Antisemitismus, Rassismus oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenzuwirken, sah der Deutsche Kulturrat deshalb keinen zu erwartenden Ertrag und spiegelte damit eine Haltung wieder, die auch in der Kulturminister:innenkonferenz der Länder, nicht allein von mir (vgl. z.B. Carsten Brosda im Gespräch mit der ZEIT), vertreten wurde.
Der Deutsche Kulturrat befürchtet, dass die „Konkretisierung von Förderbestimmungen“ die Gefahr in sich birgt, dass zugleich „als ‚Kollateralschaden‘ der Raum für die freie Kunst und Meinungsäußerung zukünftig in Sorge um entsprechende Äußerungen von vorneherein stark eingeschränkt würde und Kulturinstitutionen nicht mehr als grundsätzlich offene Orte wahrgenommen würden. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Konkretisierungen von Fördervorgaben ein Einfallstor für instrumentalisierende Einschränkungen der Kulturförderung bspw. durch extremistische Bewegungen bieten.“
Am 23. Oktober 2024 veröffentlichten Ralf Michaels, Jerzy Montag, Armin Nassehi, Andreas Paulus, Miriam Rürup und Paula-Irene Villa Braslavsky in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Formulierungsvorschläge für eine Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Mit Blick auf die nicht einfache Vorgeschichte und im Prozess erörterten rechtlichen Bedenken, legte, wie die Autor:innen in der FAZ erläuterten, „am 9. September, eine informelle, diverse Gruppe von Wissenschaftlern den Partei- und Fraktionsspitzen der Ampel sowie der CDU/CSU einen Text mit Formulierungsvorschlägen“ vor, dessen Ziel darin bestand, „die Kritik positiv zu wenden und so dem wichtigen Projekt zum Erfolg zu verhelfen“.
Angesichts der langen und komplizierten Vorgeschichte der Bundestagsresolution erwartete wohl niemand der sechs Wissenschaftler:innen ernsthaft, dass die handelnden politischen Akteur:innen im Deutschen Bundestag den mühsam erarbeiteten Kompromiss zugunsten des in sechzehn Punkte gegliederten Vorschlags zur Seite legen würden. Dabei wäre dies ebenso klug wie hilfreich gewesen, denn die sechs Wissenschaftler:innen sind in der Benennung des Antisemitismus und dessen Ächtung und Ahndung klar und kompromisslos. Ihr Ziel ist es, gegenüber dem bekanntgewordenen Entwurf, „positive Maßnahmen zur Unterstützung jüdischen Lebens in den Vordergrund zu stellen.
„Das liegt auch daran, dass das Grundgesetz staatlicher Regulierung insbesondere in grundrechtsintensiven Bereichen wie Kunst und Wissenschaft bewusst enge Grenzen setzt und stattdessen bei der Bekämpfung menschenverachtender Ideologien wie dem Antisemitismus auf die Eigenverantwortung der Gesellschaft sowie ihrer jeweiligen Teilbereiche vertraut. Statt Repression oder Misstrauen gegenüber Geförderten setzt der Entwurf daher weitgehend darauf, die Gesellschaft hier in die Pflicht zu nehmen, ihr aber dabei auch den nötigen Freiraum und die nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.“
Klar benannt wird in Ziffer 6, dass eine „diskriminierende Behandlung jüdischer und/oder israelischer Personen und Institutionen in Kultur, Wissenschaft oder Gesellschaft allein aufgrund ihrer Identität oder ihrer Einstellung gegenüber der Politik Israels im Nahostkonflikt […] dem Gedanken des gesellschaftlichen offenen Dialogs und auch der Wissenschafts- wie der Kunst- und Kulturfreiheit entgegen“ steht.
Zum Umgang mit der Kritik an der bislang allein verwendeten und auch umstrittenen Arbeitsdefinition des Antisemitismus durch die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) orientiert sich die Formulierungshilfe, wie die Wissenschaftler:innen in der Erläuterung in der FAZ ausführen, „an Texten wie der U.S. National Strategy to Counter Antisemitism der Regierung von Präsident Biden, die sich auf die Arbeitsdefinition berufen, sie aber in den Kontext auch anderer Definitionen stellen“. Formuliert wird in diesem Sinne in Ziffer 5:
„Was genau unter Antisemitismus zu verstehen ist und in welchen Situationen er vorliegt, bleibt Gegenstand fortwährender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Reflexion; der Staat kann das nicht autoritativ festlegen. Zur Orientierung können verschiedene Definitionen dienen, so etwa die von der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) erlassene, nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition, sowie andere Definitionen wie die von führenden Holocaust-, Jewish Studies- und Antisemitismus-Forschenden verfasste und unterstützte Jerusalem Declaration oder das Nexus-Dokument. Ob Antisemitismus vorliegt, kann nur fallspezifisch beurteilt werden. Wir wenden uns gegen die Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen zur Erreichung politischer Ziele, ganz gleich von welcher Seite.“
Lihi Yona, Senior Lecturer an der Rechtsfakultät der Universität Haifa publizierte gemeinsam mit Itamar Mann, der ebenfalls an der Rechtsfakultät in Haifa Völkerrecht lehrt, auf Verfassungsblog einen Beitrag, der anhand sehr praktischer Beispiele aus den USA die erheblichen Schwierigkeiten einer Verrechtlichung der IHRA-Definition deutlich macht. Die IHRA-Definition verengt den Möglichkeitsraum dafür, wer jüdische Identität und ihre Beziehung zu Israel definieren darf. Yona und Mann kritisieren, dass der Bundestag sich gegen einen alternativen Weg entschieden habe, "der jüdisches Leben geschützt hätte, indem er seine Vielfalt bewahrt und nicht einschränkt". Sie betonen, dass der Gesetzgeber dafür hätte anerkennen müssen, dass auch antizionistisches Judentum eine ebenso traditionelle wie legitime Form des Judentums ist:
"Die Herausforderung für politische Entscheidungsträger:innen in Deutschland und den USA besteht nicht darin, eine bestimmte Vision jüdischen politischen Ausdrucks durchzusetzen – sondern darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die mehreren, teils konkurrierenden Interpretationen jüdischer Identität und politischen Lebens gerecht werden können.
Der Kampf gegen Antisemitismus ist dringend und notwendig. Aber er muss auf eine Weise geführt werden, die die jüdische Pluralität stärkt und nicht schwächt."
Die Anerkennung jüdischer Pluralität in einer solchen Form schließt unmittelbar an, an den Punkt 10 der oben erläuterten Formulierungsvorschläge, in dem deren Autor:innen erläuterng, dass antisemitische Projekte vom Staat nicht wissentlich gefördert werden dürfen. „Angesichts der erheblichen juristischen und praktischen Schwierigkeit, die einer staatlichen Überwachung dieser Erfordernisse im Einzelfall im Wege stehen, wird von geförderten – wie auch von nichtgeförderten – Personen und Institutionen erwartet, in Eigenverantwortung Prozesse und Institutionen zu entwickeln, die einer Verwendung öffentlicher Gelder für die Verbreitung von Antisemitismus entgegenstehen; der Staat unterstützt sie dabei.“ In den Punkten 12 bis 14 wird dieser Anspruch auf die Kultureinrichtungen, Wissenschaftsinstitutionen und Hochschulen angewendet. Sie beziehen sich dabei auf die bereits dargestellte Erklärung der Kulturminister:innen mit den Spitzenverbänden der Kommunen.
Am Dienstag dem 4. November 2024 verständigten sich die Mitglieder der Bund-Länder-Kommission (BLK) zur Bekämpfung von Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens, der ich als Beauftragter der Thüringer Landesregierung zur Förderung jüdischen Lebens und die Bekämpfung des Antisemitismus angehöre, auf eine Erklärung, in der die BLK den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP als einen wichtigen Beitrag zur Fortführung des Kampfes gegen Antisemitismus und für die Stärkung des jüdischen Lebens in Deutschland begrüßt. Insbesondere begrüßt die BLK, dass „die IHRA-Definition von Antisemitismus als maßgeblich für Bundes- und Landesregierungen bestätigt“ wird.
Ich nahm an der Sitzung der BLK nicht teil, da ich parallel den Stiftungsrat der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora leitete. Ich ließ jedoch durch den Thüringer Vertreter in der BLK deutlich machen, dass ich vor dem Hintergrund sowohl der weiterhin bestehenden Kritik des Deutschen Kulturrates auch am Entwurf der Bundestagsresolution als auch der weiterhin verengten Fokussierung auf die IHRA-Definition als alleinig und maßgebende Antisemitismus-Definition staatlicher Institutionen, der BLK-Erklärung nicht zustimme und auch nicht beitrete.
Mit den am 23. Oktober 2024 publizierten Formulierungsvorschlägen, denen sich qua Offenem Brief inzwischen mehr als 2.200 Wissenschaftler:innen, Künstler:innen und weitere Personen angeschlossen haben, wurde das Angebot einer öffentlichen Diskussion über die angemessenen Inhalte einer schließlich durch den Deutschen Bundestag zu beschließenden Resolution unterbreitet. Von diesem Diskussionsangebot wurde jedoch kein Gebrauch gemacht. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages, bestehend aus den Ampelfraktionen SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen beschloss die Resolution gemeinsam mit den Stimmen der CDU/CSU und der rechtsextremen AfD. Die öffentlich von den Initiator:innen der Resolution weder weder gewünschte noch geführte Debatte über die Resolution wird von ihnen ihnen damit als abgeschlossen betrachtet.
Die offenen Fragen aber insbesondere die entstandene Unsicherheit für Wissenschaftler:innen und Künstler:innen bleiben.
Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.