Gegen jeden Antisemitismus
Am vergangenen Freitag endete der Landesparteitag der Berliner Linkspartei im Eklat. Ausgangspunkt war die Kontroverse über eine Positionierung zum Nahost-Konflikt und die Verurteilung von linkem Antisemitismus.
Die öffentliche Berichterstattung konzentrierte sich insbesondere auf den Antrag »Gegen jeden Antisemitismus - Emanzipation und universelle Menschenrechte verteidigen!«. In dem heißt es unter anderem: "Dass von sich politisch links verortenden Menschen in Berlin das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 u.a. an Kleinkindern, Familien und Festivalbesucher*innen relativiert und mitunter gar gefeiert wurde oder zur Vernichtung Israels aufgerufen haben, alarmiert uns zutiefst." Niemals dürften Linke die Rolle des "eliminatorischen Antisemitismus ignorieren, der den Terror und die Strategien von Akteuren wie der Hamas und der Hisbollah sowie deren Unterstützung durch das iranische Mullah-Regime antreibt. Die Hass-Propaganda solcher sich als ›Befreiungsbewegungen’ gerierenden Akteure verfängt mehr denn je auch hier." Eingebracht bzw. unterstützt hatten den Antrag der Bezirksverband Pankow und Vertreter:innen des regierungslinken Flügels der Partei.
Dem Parteitag lagen weitere Anträge zum Themenfeld vor. Ein Antrag »Stoppt das Töten!« war vom Landesvorstand eingebracht worden; einen weiteren Antrag »Schutz für palästinensische Geflüchtete« legte der Bezirksverband Neukölln vor. Eine Gesamtübersicht über die Anträge einschließlich der jeweiligen Änderungsanträge gibt es hier.
Während rund sechs Wochen nach dem Terroranschlag der Hamas, im November des vergangenen Jahres, die Berliner Linkspartei in der Lage war, eine gemeinsame Position zu formulieren und sich »Für den Schutz jüdischen Lebens und gegen jeden Antisemitismus« auszusprechen, gelang ihr dies nun scheinbar nicht mehr. Die Bewertung der Debatte, an deren Ende prominente Vertreter:innen der Regierungslinken und ihnen politisch nahestehende Delegierte den Parteitag verließen, geht weit auseinander.
Der Antisemitismusbeauftragte der Berliner Jüdischen Gemeinde, Sigmount A. Königsberg, fragt in der Jüdischen Allgemeinen: "Wie kann man als Mensch, sofern man kein Apologet der Hamas oder Hisbollah ist, diesem Satz [gemeint ist der oben zitierte Satz aus dem Antrag der Pankower Linken] nicht zustimmen? Auf Berlins Straßen wurde das schlimmste Massaker an Juden seit 1945 gefeiert, und dies sei nicht alarmierend? Antisemitismus von Links gäbe es nicht, weil es offensichtlich nicht geben kann, was es nicht geben darf? Alleine diese Tatsache, verbunden mit der (in der weiteren Debatte beschlossenen) Ablehnung rechtsstaatlicher Mittel und konsequenter Strafverfolgung antisemitischer Straftaten ist eine Ohrfeige, nicht nur für alle Juden, sondern für alle Demokraten."
Erik Peter wiederum nimmt Bezug auf den vom Landesvorstand vorgelegten Antrag und formuliert in der taz: "Es gab keinen Antisemitismusskandal. Stattdessen gab es einen Kampf um Begrifflichkeiten und die jeweils für angemessen betrachtete richtige Priorisierung – eine klassisch linke Debatte, wie sie tausendfach geführt und meist gescheitert ist. Blinde Einseitigkeit; stereotype Zuschreibungen, gar Menschenfeindlichkeit waren nicht Gegenstand der Anträge und Änderungswünsche. [...] Beim Antrag des Landesvorstands war man sich gar einig, die „verbrecherischen Massaker der Hamas“ und den „anhaltenden völkerrechtswidrigen Krieg“ zu geißeln. Beides gehört – auch wenn sich einige Mitglieder an der Basis anders positionieren – zum Parteikonsens, ebenso wie das programmatische Bekenntnis gegen Antisemitismus. Die große Mehrheit der Linken ist in ihrem Verständnis der komplexen Lage in Nahost damit weiter als jeder Staatsräson-Diskurs."
Wer sich die Zeit nimmt, die Anträge nebst den jeweiligen Änderungswünschen zu lesen, wird feststellen, dass Vorwürfe, Die Linke in Berlin hätte sich aus der Solidarität mit Israel verabschiedet, tatsächlich der sachlichen Grundlage entbehren. Sowohl wird der Terror der Hamas gegenüber Israel verurteilt als auch die unbedingte Notwendigkeit, Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen in Deutschland und Berlin zu schützen, unmissverständlich klargestellt.
Deutlich wird in jeweiligen Papieren, dass und wie die Landespartei darum ringt, sich zu positionieren. Gegenwärtig werden Kämpfe gegen Rassismus und Antisemitismus gegeneinander ausgespielt. Die Berliner Linke will in einer Stadt, in der "zahlreiche Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte aus dem Nahen Osten und der arabischen Welt eine Zuflucht und ein neues Zuhause gefunden haben", es nicht zulassen, dass diese Menschen aus möglicherweise auch antimuslimischen Ressentiments unter pauschalen Antisemitismusverdacht geraten. Ebenso ist erkennbar dass sie um eine dringend notwendige Benennung und Verurteilung des linken Antisemitismus ringt. Er war und ist seit jeher Bestandteil der politischen Linken und stellt in seinen unterschiedlichen Ausprägungen für Jüdinnen und Juden ebenso wie für Israel und seine Staatsbürger:innen tödliche Gefahr dar.
Dieses Bemühen um jeweilige Positionierung verdient Respekt. Insbesondere in einem städtischen und politischen Umfeld, in dem politische Kontroversen, gesellschaftliche Kontroversen gemeinhin wie in einem Brennglas zugespitzt sind, oder - um im Bild zu bleiben - der Aggregatzustand häufig zwischen heiß und extrem heiß changiert. Doch auch ein respektables Bemühen muss im Ergebnis Widersprüche aufheben und zu Klarheit führen. Das ist ebensowenig gelungen wie dem eigenen Anspruch, verbindende Linkspartei sein zu wollen, gerecht zu werden.
Die Mehrheit der Delegierten lehnte die Bezeichnung des Hamas-Terrors als »eliminatorischen Antisemitismus« ab. Nicht weil sie mit der Hisbollah, der Hamas oder der antisemitischen sogenannten Achse des Widerstands symphatisieren, sondern weil die Begrifflichkeit als Beschreibung für die Schoah verstanden und eine Gleichsetzung damit vermieden werden sollte. Die Diskussion um die Singularität der Shoah wird seit langer Zeit geführt. Zuletzt im Kontext des Wechselverhältnisses von Shoah- und Kolonialismus-Erinnerung, die auch als »Historikerstreit 2.0« debattiert wurde. Im vorstehend verlinkten Beitrag nimmt der Direktor der Thüringer Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, eine wichtige Einordnung vor, in der er für den Begriff der »Präzendenzlosigkeit« der Shoa plädiert.
Wer aus guten oder gut gemeinten Gründen den Terror von Hamas, Hisbollah und anderen, deren Ziel die Vernichtung des Staates Israel und der Tod aller Jüdinnen und Juden ist, nicht als »eliminatorischen Antisemitismus« bezeichnen will, muss sich die Mühe machen, ein Äquivalent zu finden, das weder relativiert noch beschönigt. Wer in der Textarbeit allen Opfergruppen des Hamas-Terrors vom 7. Oktober Rechnung zu tragen bemüht ist und zutreffend ergänzt, dass das Massaker sowohl "u.a. an Kleinkindern, Familien und Festivalbesucher*innen" als auch an "asiatischen Arbeitsmigrant*innen" verübt wurde, steht in der Selbstverpflichtung, dies bis zum Ende zu deklinieren. Dies ist nicht geschehen und war offenbar nicht gewollt. Dass freilich keine Lösung auch keine Lösung ist, zeigte Lisa Berins in einer Kritik aus dem Januar dieses Jahres für die Heinrich-Böll-Stiftung zum Schweigen der Kulturszene nach dem Hamas-Massaker.
Ersetzt werden sollte zudem die Formulierung, jüdische Menschen »unter Einsatz rechtsstaatlicher Mittel zu schützen« durch: »Wir stehen für eine Linke ein, die jüdisches Leben in Deutschland verteidigt und jüdische Menschen konsequent schützt«. Die Antragsteller:innen befürchteten, dass der »Einsatz rechtsstaatlicher Mittel« legitime Proteste von Palästinenser:innen in Frage stellen könnte. Dies mag so sein und dennoch bleibt es unverständlich, wie Teile einer Landespartei, die noch vor Kurzem die Justizsenatorin im rot-grün-roten Senat stellte, den »Einsatz rechtsstaatlicher Mittel« zum Schutz jüdischen Lebens und jüdischer Einrichtungen ablehnt.
Wir kommen als Linke nicht umhin festzustellen, dass eben nicht nur abstrakt "Menschen in Berlin das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 [...] relativiert und mitunter gar gefeiert haben", sondern wie zutreffend beantragt: "von sich politisch links verortenden Menschen in Berlin das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 [...] relativiert und mitunter gar gefeiert wurde oder zur Vernichtung Israels aufgerufen haben". Eine Linke, die in der Lage ist, diese Feststellung zu treffen, ohne diese Verurteilung zu relativieren, hat auch die Kraft und Differenzierungsfähigkeit für eine unmissverständliche und Komplexität deshalb aushaltende Israel-Solidarität. Die hebt sich diesbezüglich von der überstrapazierten und häufig instrumentalisierten »Staatsräson« klug ab.
In dieser Weise argumentieren beispielsweise der Frankfurter Prof. em. Gerd Krell in einem Beitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung über Israels Sicherheit und Deutschlands Staatsräson und Maja Sojref, Geschäftsführerin des New Israel Fund Deutschland in ihrer Beschreibung einer zwischen den Extremen zerriebenen israelischen Zivilgesellschaft, veröffentlicht in den Blättern für deutsche und internationale Politik.
Gerade wenn linke Israel-Solidarität eben jeden Antisemitismus bekämpft und auf dem linken Auge nicht blind ist, ist sie fähig zu Differenzierung und Komplexität. Rechtsextreme Minister und Parteien in der israelischen Regierung torpedieren eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts und unterminieren Bestrebungen zu einer Revitalisierung des Prozesses einer Zweistaatenlösung. Dies zu benennen ist keine unbillige Kritik. Denn sie legt Maßstäbe an, wie an andere Länder und ihre Regierungen auch. Solidarisch um die Opfer des 7. Oktober 2023 zu trauern und die auch mit wohl völkerrechtswidrigen Mitteln umgesetzte Kriegsführung der Regierung Netanjahu in Gaza wie gegenwärtig im Libanon zu benennen, ist möglich und muss möglich sein.
Es ist zutreffend, dass denjenigen, die die israelische Siedlungspolitik kritisieren, oftmals Antisemitismus vorgeworfen wird. Vor allem, wenn dies aus postkolonialer oder »antiimperialistischer« Perspektive erfolgt, wie Jens-Christian Wagner in seinem zitierten Text feststellt. Denn auch dies stellt er fest: "Häufig genug sind diese Vorwürfe berechtigt." Gleichwohl ist eben nicht jede Kritik an der israelischen Siedlungspolitik antisemitisch und eine linke Kritik der israelischen Siedlungspolitik muss in der Lage sein, dies deutlich zu kennzeichnen.
Der linke Landesvorstand plädierte in diesem Sinne für eine Solidaritätsbewegung, die Machtungleichheiten in diesem Konflikt anerkennt, ohne sich an die Interessen von Regierungen oder Organisationen zu binden. Im Mittelpunkt soll die Verbesserung des Lebens alles Menschen in Frieden und Sicherheit stehen. Den Weg zu diesem Ziel erkennt besser, wer auch mit dem linken Auge den Tatsachen auf allen Seiten entgegenblickt und bereit ist, zu sagen was ist.
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Der Autor ist Beauftragter der Thüringer Landesregierung für die Förderung jüdischen Lebens und die Bekämpfung des Antisemitismus.
Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.