Gewerkschaften und Antirassismus im Fokus
In zwei Rezensionen auf meinem Blog www.nachdenken-im-handgemenge.de über »Rechte Kulturalisierung der Arbeit und konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik« sowie »Umkämpfte Solidarität in Gewerkschaften« stand die Frage im Mittelpunkt, wie verhindert werden kann, dass rechtspopulistische Bewegungen soziale Unsicherheit in kulturelle Abgrenzung übersetzen.
In diesem Kontext ist der Beitrag »Rassismus, Antirassismus und Gewerkschaften« von Interesse, den die Politikwissenschaftlerin Neva Löw und Peter Birke, Wissenschaftler am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) Göttingen, im Band Rassismusforschung II veröffentlichten.
Die beiden bisherigen Sammelbände zur Rassismusforschung I (2023) und II (2025) wurden herausgegeben vom Nationalen Diskriminierungs- & Rassismusmonitor, angesiedelt am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).
Der Beitrag ist nicht allein als Literaturstudie von großem Gewinn, sondern auch durch die aus der internationalen Betrachtung abgeleiteten Erkenntnisse, z.B. für ein Verständnis von selbstorganisierten „communities of struggle“ und die daraus entstehende Organisationsmacht. Die Erkenntnisse von Alexander Busch, Lukas Lehner und Kilian Weil, die sich empirisch mit neuer Streiklandschaft befassen, werden hier spannend erweitert.
Dabei gehen Löw/Birke wie folgt vor: Zunächst diskutieren sie die historiografische Forschung zu Gewerkschaften, Arbeit und Migration, um dann auf die gegenwartsbezogene Forschung mit folgenden Schwerpunkten einzugehen:
- Arbeit, Migration und Segmentierung;
- Rassismus und Antirassismus in der gewerkschaftlichen Praxis;
- zur gewerkschaftlichen Organisierung von Migrant:innen sowie
- zum Verhältnis von Gewerkschaften und migrantischer Selbstorganisation.
Durch dieses Vorgehen verbinden sie die strukturelle Analyse von Arbeit, Migration und Rassismus mit einem klaren Blick auf die innergewerkschaftlichen Konfliktlinien, die diese Verhältnisse fortschreiben oder herausfordern. Gezeigt wird, dass gewerkschaftliche Antirassismuspolitik weder selbstverständlich noch stabil ist, sondern immer wieder durch konkrete Organisierungsprozesse, durch Kämpfe um Gleichstellung und durch das Eingreifen migrantischer Selbstorganisation neu hergestellt werden muss.
Rassismus – dem Kapitalismus immanentes soziales Verhältnis
Neva Löw und Peter Birke verstehen Rassismus als ein soziales Verhältnis, das in Macht- und Herrschaftsstrukturen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verankert ist. Rassismus ist in dieser Lesart nicht ein historisch unspezifisches oder rein ideologisches Phänomen, sondern ein integraler Bestandteil kapitalistischer Gesellschaftsformationen, der an spezifische historische, politische und ökonomische Konstellationen gebunden ist. Verschiedene Formen von Rassismen existieren gleichzeitig, greifen ineinander und verstärken sich wechselseitig. Historische Formationen bestehen daher stets aus mehreren, miteinander verflochtenen Rassismen. Zugleich verweisen Löw und Birke auf die Funktion von Rassismus als materieller und ideologischer „Entschädigung“ für die prekären Lebenslagen von Arbeiterinnen und Mittelschichten.
Rassismus ist von der Entstehung der Nationalstaaten und dem Nationalismus als Ideologie nicht zu trennen. Nationalstaaten beruhen auf der Konstruktion fiktiver ethnischer Kohärenzen, die durch symbolische und institutionelle Grenzziehungen stabilisiert werden. Der Staat selbst ist in dieser Perspektive Teil rassistischer Praktiken, auch wenn Rassismus gegenüber dem Nationalismus als ein eigenes, überschüssiges Moment wirkt.
Vor diesem theoretischen Hintergrund zeigen Löw und Birke, dass Arbeitsmärkte historisch durch Prozesse der „Unterschichtung“ strukturiert wurden: Migrantische Arbeiter:innen wurden systematisch in niedrigere Segmente der Lohnarbeit gedrängt, während andere Beschäftigtengruppen soziale Aufstiegspfade nutzen konnten. Diese Doppelbewegung – Unterschichtung und Aufstieg – prägt bis heute gewerkschaftliche Machtverhältnisse und Konfliktlinien. Zugleich entstand Unterschichtung häufig als „Rassisierung“ oder als Form des „racial management“ durch Unternehmen: Rassifizierende Praktiken wurden genutzt, um Arbeitsmärkte zu segmentieren und Belegschaften hierarchisch zu ordnen. Gewerkschaften waren in diese Aushandlungen historisch eingebunden – teils konfliktgeladen, teils aktiv gestaltend. Besonders in der internationalen Forschung ist diese Verflechtung von Rassismus, Managementstrategien und gewerkschaftlicher Praxis intensiv untersucht worden; im deutschsprachigen Raum wurde sie bislang weniger systematisch aufgearbeitet.
Nationalstaatliche Gewerkschaften und transnationale Migration
Aufbauend auf dieser historischen Grundlage analysieren Löw und Birke, weshalb Gewerkschaften, die sich im nationalstaatlichen Rahmen als Akteure formierten, bis heute im Hinblick auf (Anti-)Rassismus widersprüchlich agieren. So gab es gewerkschaftliche Bestrebungen zur Abschottung von Arbeitsmärkten gegenüber Migrantinnen, in denen sich die Dominanz bestimmter Beschäftigtengruppen spiegelte. Gleichzeitig entstanden schon ab den 1960er Jahren Strömungen innerhalb der Gewerkschaften, die politische Teilhabe für Migrantinnen forderten und sich gegen Ausländerfeindlichkeit wandten. Diese Positionen konnten sich jedoch erst im Kontext der Streikbewegungen von 1968 breiter durchsetzen. Für viele der damals zugewanderten Arbeiter:innen wurden Gewerkschaften in dieser Zeit zu einem Ort politischer und sozialer Teilhabe, der ihnen jenseits des Arbeitslebens häufig verschlossen blieb. Die Autor:innen zeigen, dass solche Öffnungsprozesse wesentlich durch die Selbstorganisation der Betroffenen getragen wurden. Antirassistische Positionen etablierten sich in Gewerkschaften nicht automatisch, sondern weil migrantische Beschäftigte inner- und außerhalb der Organisation politische Räume schufen, in denen ihre Interessen artikuliert und durchgesetzt werden konnten.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Gewerkschaften historisch nicht nur Abschottungsstrategien verfolgten, sondern zugleich auf einem starken Gleichheitsanspruch beruhten. Dieses aus einer internationalistischen Tradition der Arbeiter:innenbewegung gespeiste Selbstverständnis prägte diejenigen Positionierungen, die sich ausdrücklich gegen rassistische Ausschlüsse richteten und Solidarität über nationale Grenzen hinweg betonten.
Löw/Birke verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass antirassistische Selbstverortungen in vielen Gewerkschaften zwar breit geteilt werden, während die konkrete Gleichstellungspolitik gegenüber Migrant:innen im betrieblichen Alltag weit stärker umstritten bleibt. Die Spannungen zwischen symbolischer Positionierung und praktischer Umsetzung markieren ein zentrales Feld innergewerkschaftlicher Auseinandersetzungen.
Dieses Spannungsfeld – zwischen dem Schutz etablierter Mitgliedergruppen und einem an Gleichbehandlung orientierten Anspruch – zieht sich als roter Faden durch viele der von Löw und Birke ausgewerteten Studien. Es zeigt, dass Gewerkschaften keine homogenen Organisationen sind, sondern intermediäre und umkämpfte Räume, in denen unterschiedliche Interessenlagen, Deutungen und strategische Optionen aufeinandertreffen. Mit der Folge, dass antirassistische Selbstverortungen in vielen Gewerkschaften zwar breit geteilt werden, während die konkrete Gleichstellung im betrieblichen Alltag im Sinne einer antirassistischen Praxis nicht im gleichen Sinne ausgeprägt ist. Diese Spannungen zwischen symbolischer Positionierung und praktischer Umsetzung markieren ein Feld innergewerkschaftlicher Auseinandersetzungen.
Antirassistische Kampagnen und migrantische Selbstorganisation
Antirassistische Fortschritte in Gewerkschaften entstanden, das wird aus der Analyse deutlich, historisch selten aus dem Apparat selbst, sondern wesentlich aus migrantischer Selbstorganisierung. In vielen Fällen bildeten sich im internationalen Vergleich kollektive ‚communities of struggle‘ heraus, in denen prekär beschäftigte Migrant:innen eigene Organisationsmacht entwickelten und gewerkschaftliche Strukturen unter Druck setzten oder produktiv erweiterten.
Besonders eindrücklich verweisen die Autor:innen auf Beispiele basisgeführter Organisierung wie in Großbritannien, aber auch auf Konflikte und Initiativen in Deutschland und Österreich, bei denen aus konkreten Auseinandersetzungen – etwa um undokumentierte Beschäftigung – dauerhafte Unterstützungs- und Beratungsstrukturen innerhalb der Gewerkschaften hervorgingen. Diese Fälle verdeutlichen, dass antirassistische Positionen nur dann nachhaltig verankert wurden, wenn migrantische Gruppen innerhalb oder außerhalb der Gewerkschaften autonome Räume schufen und gewerkschaftliche Politik herausforderten.
Zugleich machen Löw/Birke darauf aufmerksam, dass diese empirischen Befunde bislang nur unzureichend theoretisch eingeholt wurden: Eine systematische Verbindung zu Debatten um die ‚Autonomie der Migration‘ steht weitgehend aus, obwohl gerade die eigensinnigen, oft konfliktgetriebenen Kämpfe migrantischer Beschäftigter entscheidend zur Reorganisation gewerkschaftlicher Strategien beigetragen haben und weiterhin beitragen.“
Prekarisierung und hierarchisierte Einbindung
Hinzu kommen drei strategische Dilemmata, die laut Löw/Birke gewerkschaftliche Entscheidungen prägen: 1) die Haltung zu supranationalen Migrationspolitiken, 2) der Schutz migrantischer Interessen in Betrieb und Organisation sowie 3) die Frage, ob spezifische migrantische Politiken notwendig sind oder zur ‚Besonderung‘ von Gleichheitsansprüchen führen.
Darauf aufbauend zeigen Löw und Birke, dass der Wandel von Prekarisierung und Arbeitsmarktsegmentierung für eine verbindende Analyse von Arbeit, Migration und Rassismus erforderlich ist. Internationale Studien, so zeigen die Beiden, weisen auf die Ausbreitung prekärer Beschäftigung als Grundlage rassistisch geprägter Betriebsstrategien hin: Prekäre Arbeitsverhältnisse erzeugen Abhängigkeiten, die rassifizierende Zuschreibungen begünstigen und gewerkschaftliche Gegenstrategien erschweren. Zugleich hat sich das herkömmliche Modell einer einfachen „Unterschichtung“ migrantischer Arbeitskräfte weiter ausdifferenziert. Neuere Forschung beschreibt eine Multiplikation von Hierarchien, die aus unterschiedlichen Aufenthaltsrechten, Beschäftigungsformen und Anerkennungsfragen entsteht. Die Belegschaften werden dadurch heterogener und fragmentierter, was die gewerkschaftliche Organisierung erschwert.
Zentral ist dabei die These der differential inclusion: migrantische Arbeitskraft wird gebraucht, aber selektiv und prekär einbezogen. Rassistische Ausschlüsse folgen daher nicht nur ökonomischen Notwendigkeiten – selbst in Branchen mit hoher Nachfrage können sie zu Grenzschließungen und restriktiven Politiken führen. Diese Entwicklungen wurden durch die Informalisierung vieler Sektoren verstärkt, sodass Gewerkschaften heute häufig weniger im Betrieb präsent sind als vielmehr über Beratungsstellen wirken, die zwischen ihnen und migrantischen Beschäftigten vermitteln. Seit 2015 rückt zudem die Arbeitsmarktteilhabe Geflüchteter stärker in den Fokus, verbunden mit Fragen der Qualifikationsabwertung, des Ausbildungszugangs und der Rolle logistifizierter Migrationsregime.
Gewerkschaftliche Strategien müssen, so sind Löw/Birke zu verstehen, unter den Bedingungen wachsender Fragmentierung neu gedacht werden: Rassismus entsteht heute nicht nur entlang nationaler Grenzziehungen, sondern ebenso in den differenzierten, oftmals prekären Strukturen transnational organisierter Arbeitsmärkte.
Tektonische Verschiebungen: autoritäre Resonanzen im gewerkschaftlichen Bewusstsein
Schließlich machen Löw und Birke deutlich, dass nationalistische Mobilisierungen gegen Migrant:innen in vielen Ländern zunehmend Resonanz in gewerkschaftlich organisierten Milieus finden – häufig verbunden mit wohlfahrtsstaatlichem Chauvinismus und der Wahrnehmung, eine vermeintlich ungesteuerte Migration gefährde ohnehin prekäre sozialstaatliche Arrangements. Gleichzeitig wäre es eine Illusion anzunehmen, dass ein solches autoritäres Bewusstsein bei gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und Angestellten ein neues Phänomen sei. Und es liegt aus Erfahrung auf der Hand, dass bei Zustimmung von mehr als einem Viertel der Bevölkerung für rechtsautoritäre Politiken, auch in gewerkschaftlichen Mitgliedschaften ein vergleichbarer Anteil diese Zustimmung teilt.
Diese Resonanzen sind, wie auch Dörre u.a. zeigen, auch keine kurzfristigen „Irritationen“, sondern Teil einer länger andauernden tektonischen Verschiebung politischer Orientierungen innerhalb gewerkschaftlicher Milieus, wie in der Gesellschaft.
Die arbeitssoziologische Forschung zeigt wiederum bei einer geschlechtsdifferenzierten Betrachtung, dass insbesondere unter männlichen, industriell geprägten Beschäftigten rechtspopulistische Parteien überdurchschnittliche Zustimmung erfahren. Diese Entwicklung wird in der Literatur als Ausdruck einer demobilisierten und zugleich fragmentierten Klassengesellschaft beschrieben: Teile der Arbeiter:innenschaft erleben den Verlust politischer Repräsentation durch traditionelle Mitte-Links-Parteien ebenso wie eine Erosion betrieblicher Sicherheiten und wenden sich politischen Kräften zu, die soziale Anerkennung über identitäre Grenzziehungen anbieten.
Löw/Birke binden diesen Befund an die Frage, wie rassifizierte Abwertungen – im Betrieb wie gesellschaftlich – dazu beitragen, dass bestimmte Gruppen der Beschäftigten sich als Kern der ‚eigentlichen‘ Arbeiterschaft verstehen. In diesem Denken erscheint Migration weniger als Teil historischer und gegenwärtiger Arbeitsprozesse, sondern als Bedrohung einer vermeintlich homogenen Gemeinschaft. Rechtspopulistische Akteure verstärken solche Verschiebungen, indem sie arbeitsweltliche Konflikte ethnisieren und soziale Konkurrenzverhältnisse als kulturelle oder nationale Differenzen umdeuten. Gewerkschaften sehen sich damit vor die Herausforderung gestellt, dass nicht nur Arbeitsmärkte segmentiert sind, sondern auch ihre eigenen Mitgliederkollektive entlang rassifizierter Linien auseinanderdriften.
Diese Entwicklung berührt den Kern gewerkschaftlichen Selbstverständnisses: Wenn Solidarität nicht mehr klassenbezogen gedacht, sondern durch ethnisierte Zugehörigkeitsgrenzen ersetzt wird, verliert gewerkschaftliche Politik eine bedeutsame verbindende Grundlage. Entsprechend betonen Löw/Birke, dass die Auseinandersetzung mit autoritärem Populismus innerhalb der Gewerkschaften nicht allein eine Frage politischer Bildung oder Abgrenzung ist. Sie muss vielmehr an denjenigen materiellen Erfahrungshorizonten der Mitglieder ansetzen, die rechtspopulistische Deutungsangebote erst anschlussfähig machen. Dörre u.a. ergänzen diese Befunde um das Plädoyer für eine kämpferischere Gewerkschaftspraxis sowie die konkreten Solidaritätserfahrungen aus (erfolgreichen) Arbeitskämpfen, wie ich in den o.a. Rezensionen zeige.
Die Analyse von Löw/Birke kann in diesem Sinne als eine strategische Aufgabe für Gewerkschaften im 21. Jahrhundert betrachtet werden: Die Wiedergewinnung solidarischer Handlungsfähigkeit setzt voraus, die materiellen Konfliktlagen ernst zu nehmen, die aus Entsicherung, sozialer Entwertung und betrieblichen Konkurrenzverhältnissen entstehen. Sie verlangt zugleich eine konfliktbereite Zurückweisung autoritärer und ethnisierender Deutungen, die diese Konflikte kulturell umcodieren. Und sie erfordert Räume, in denen Beschäftigte kollektive Erfahrung von Selbstwirksamkeit und demokratischer Konfliktlösung machen können – Erfahrungen, die Dörre als zentrale Gegenkraft zu rechtspopulistischen Orientierungen im Arbeitermilieu beschreibt.
Neva Löw/Peter Birke, Rassismus, Antirassismus und Gewerkschaften, in: Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (Hrsg.), Rassismusforschung II. Rassismen, Communitys und antirassistische Bewegungen, transkriptVerlag, Bielefeld 2025, S. 73-98.