Wandernde Werke – der lebendige Bezug der Provinienzforschung
Aleida Assmann formulierte vor einigen Jahren in der Betrachtung des sogenannten Zweiten Historikerstreits in der Frankfurter Rundschau zur Bedeutung der Erinnerungskultur:
„Nicht nur die Gegenwart, auch die erforschte Geschichte ist vergangen, wenn sie keinen lebendigen Bezug zur jeweils aktuellen Gegenwart aufbaut. Das nationale Gedächtnis ist ein effektiver Schutz gegen Vergehen und Vergessen. Die Geschichte bleibt in dem Maße präsent, wie sie für das Selbstbild der Nation aufbereitet wird und ein Anliegen der gesamten Gesellschaft bleibt.“
In diesem Sinne sind die vielen kleinen und größeren Ausstellungen, die seit einigen Jahren in unseren (Kunst-)Museen zum Stand und den Methoden der Provenienzforschung gezeigt werden ein bedeutsamer Beitrag zur Erinnerungskultur.
Denn wie lebendig die Bezüge der Provenienzforschung insbesondere zur NS-Raubkunst sind, zeigen zwei aktuelle Beispiele aus Argentinien und den nordrhein-westfälischen Städten Düsseldorf und Krefeld.
Zäher Restitutionskampf um die Sammlung Goudstikker
In Argentinien tauchte kürzlich das Gemälde »Porträt einer Dame« des italienischen Künstlers Giuseppe Ghislandi auf. Es war während der NS-Herrschaft aus der Sammlung des jüdischen Galeristen Jacques Goudstikker in Amsterdam geraubt worden. Goudstikker starb auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten. Friedrich Kadgien, Sonderbevollmächtigter in der NS-Vierjahresplanbehörde und bedeutsamer Finanzexperte des NS-Regimes brachte das Gemälde auf seiner eigenen Flucht nach dem Zusammenbruch des Regimes, die er anders als der unrechtmäßige enteignete Eigentümer überlebte, nach Argentinien. Jahrzehntelang befand es sich im Besitz der Familie von Kadgien. Das Bild wurde zufällig über eine Immobilienanzeige entdeckt, als es im Wohnzimmerfoto zu sehen war. Nach Hausdurchsuchungen und Ermittlungen wurde das Bild schließlich an die niederländischen Behörden zurückgegeben.
Die niederländischen Behörden sind jedoch weiteren Raubkunstobjekten im Besitz der Familie Kadgien auf der Spur, nachdem in einem Social-Media-Post der jüngsten Tochter, Patricia Kadgien, in Stillleben des niederländischen Malers Abraham Mignon aus dem 17. Jahrhundert zu sehen gewesen sein soll. Der Spiegel berichtet, dass anders als beim »Porträt einer Dame« sei dieses Bild nicht im »Schwarzbuch« des jüdischen Galeristen Jacques Goudstikker aufgeführt und würde auch nicht von den Erben Goudstikkers gesucht.
Der Fall rund um das Mignon-Gemälde und den Kunsthandel zwischen Hermann Göring und Alois Miedl ist Teil einer der größten und komplexesten NS-Raubkunstgeschichten. Nach dem Tod Goudstikkers 1940 übernahmen Hermann Göring und der Bankier sowie Kunsthändler Alois Miedl die Sammlung, zu der Werke von Rembrandt, Vermeer und anderen berühmten Künstler:innen gehörten. Miedl verfügte nicht nur über exzellente Kontakte zum Chef der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Amsterdam, Ferdinand aus der Fünften, sondern war selbst mehrmals zu Gast bei Adolf Hitler in Berchtesgaden. Während Göring die bedeutenden Gemälde erhielt, führte Miedl den Kunsthandel im besetzten Holland zynischerweise unter Goudstikkers Namen weiter und handelte dabei zahlreiche Werke, darunter auch das Mignon-Stillleben, das jüngst wieder aufgetaucht sein soll.
Das Schicksal der Sammlung Goudstikker und die Spur des Mignon-Gemäldes zeigen, wie NS-Kunstraub systematisch und teils unter amtlicher Billigung ablief, und wie schwierig die vollständige Aufklärung und Rückgabe heute noch ist.
Mehr als 20 Jahre anhaltender Streit in Düsseldorf
NS-geplünderte Kunst eindeutig zuzuordnen, öffentlich zu recherchieren und gerecht zu restituieren ist ein Prozess, der bis heute von internationalen Behörden, Kommissionen und Erben geführt wird. Die Sammlung Goudstikker belegt, wie sich NS-Raubkunst auch heute noch in Privatbesitz früherer NS-Täter, veräußert oder vererbt auf anderen Kontinenten befinden kann und wie schwierig deren Auffindung und Rückführung sind.
Ein weiteres Gemälde des Malers Abraham Mignon ist seit nunmehr 20 Jahren Gegenstand bislang erfolgloser Rückgabebemühungen. Über lange Zeit forderten die Erben der jüdischen Familie Bühler – ohne Erfolg – die Rückgabe von Mignons barockem Stillleben „Fruchtkorb an einer Eiche“ (um 1670) und die Erben des ehemaligen jüdischen Bankiers Georg Behrens die Restitution von Adolph Menzels „Pariser Wochentag“ (1869).
Das in der ständigen Ausstellung mit einem Hinweis auf den Restitutionsstreit präsentierte Mignon-Bild war 1935 während der Nazi-Diktatur von der jüdischen Familie Bühler zwangsversteigert worden. Die Galerie Paffrath verkaufte das Bild kurze Zeit später an die Stadt Düsseldorf. 1962 war die Erbengemeinschaft im Rahmen eines Vergleichs mit etwa 1 200 Mark entschädigt worden. Daher hatte die Stadt eine Restitution bisher abgelehnt. Ebenfalls 1935 verkaufte Georg Behrens das Menzel-Gemälde ebenfalls an die Galerie Paffrath, die es ebenfalls der Stadt Düsseldorf veräußerte.
Nachdem seinerzeit bereits sieben Jahre andauernden und ungelösten Streit, bei dem die Stadt Düsseldorf sich auf den Rechtsstandpunkt stellte, dass eine Restitution abzulehnen sei, da eine Entschädigung im Jahre 1962 bereits gezahlt worden sei, wurde 2013 beschlossen, im Sinne der Washingtoner Erklärung von 1998 zur Rückgabe von NS-Raubkunst, eine „gerechte und faire“ Lösung zu suchen.
Dass die Stadt sich der Restitution von Gemälden aus dem Düsseldorfer Kunstpalast nicht grundsätzlich verweigert, zeigen zwei frühere erfolgreich abgeschlossene Restitutionsbegehren. im Zusammenhang mit Bildern im Kunstpalast hatte es Einigungen mit den Erben gegeben. Das expressionistische Gemälde „Die Füchse“ von Franz Marc wurde an die Erben des einstigen jüdischen Besitzers Kurt Grawi zurückgegeben, während Arnold Böcklins „Schlafende Diana“ für das Museum mit Hilfe des Bundes angekauft werden konnte.
In den Fällen Menzel und Mignon ist nach der Anrufung der Beratenden Kommission für NS-Raubgut im Jahre 2013 bis heute keine Entscheidung getroffen worden, da eine Entscheidung nur dann getroffen werden kann, wenn beide Seiten zustimmen. Da die Stadt Düsseldorf sich weiterhin auf die Entschädigungszahlung aus 1962 beruft und weiterhin nicht freiwillig restituiert, ist der Streit weiter offen. Ob das neue Schiedsgericht, das die bisherige Beratende Kommission zügig eine Entscheidung treffen kann, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. Beabsichtigt ist durch die Etablierung des neuen Schiedsgerichts, für künftige ähnliche Fälle eine verbindliche Entscheidung ermöglichen.
Empörendes Vorgehen in Krefeld
Rund eine halbe Stunde von der Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt liegt die Stadt Krefeld. Zu den Kunstmuseen der linksrheinischen Großstadt, die sich insbesondere der modernen und zeitgenössischen Kunst widmen, gehören das Kaiser-Wilhelm-Museum als Haupthaus und die weiteren Standorte Haus Lange und Haus Esters.
In den Kunstmuseen, vor allem dem Kaiser-Wilhelm-Museum, gab und gibt es mehrere Streitfälle um mutmaßliche NS-Raubkunst, die ebenfalls seit Jahren schwelen.
Zentrale Streitpunkte betreffen acht Werke des Malers Piet Mondrian , von denen vier sich noch im Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld befinden, während der Verbleib der anderen vier unklar ist. Die Erben argumentieren, dass Mondrian die Bilder 1929 nur leihweise für eine Ausstellung in Krefeld überlassen habe, die nie stattfand. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Gemälde inventarisiert und somit in den festen Besitz des Museums übergegangen, was die Erben als unrechtmäßig ansehen.
Ein bereits im Jahr 2019 veröffentlichtes Provenienz-Gutachten brachte kaum Klärung, weshalb die Erben vor inzwischen 5 Jahren Klage gegen die Stadt Krefeld und ihre Kunstmuseen eingereicht hatten.
Die Stadt Krefeld und – mit Ausnahme der LINKEN – fast alle Parteien im Stadtrat lehnten bislang eine gütliche Einigung ab und bestehen weiterhin auf rechtmäßigem Besitz – einerseits wegen Verjährung, andererseits weil die Werke öffentlich sichtbar waren, u.a. auf der Documenta, und die Erben sich jahrelang nicht meldeten. Mondrians Erben wiederum argumentieren gegen die Verjährung, dass der Fall im Zusammenhang mit NS-Raubkunst stünde und deshalb keine Verjährung eintreten könne. Im Übrigen sei Mondrian vom NS-Regime als „entarteter“ Künstler eingestuft worden, weshalb er die Bilder gar nicht hätte zurückfordern können.
Die Haltung der Parteienmehrheit im Stadtrat sowie der örtlichen Museumsleitung im Streit um die Mondrian-Bilder steht zurecht in der Kritik. Es wird seit Jahren die Rückgabe verweigert und auf juristische Formalien gepocht, statt ethische und historische Verantwortung in den Vordergrund zu stellen. Dieses Verhalten wird in der Fachwelt und von Provenienzforschern wiederholt als problematisch bewertet. Der Kunstexperte Stefan Koldehoff empfahl im Deutschlandfunk Kultur bereits 2019 der Museumsleitung:
„Sie dürfen nicht so tun, als brächen ihre Wände zusammen, wenn da mal ein Bild nicht mehr dran hängt. Das Krefelder Museum hat eine großartige Sammlung. Und wenn es diese Bilder nicht zu Recht besitzt, dann gibt es, Verjährung hin oder her, keine Gründe dafür, nicht proaktiv zu forschen und die Archive zu öffnen. Und wenn man da nichts findet, was den rechtmäßigen Besitz dieser Bilder belegt, dann muss man sich auf Gespräche einlassen.“
Dass die Stadt anders kann, zeigte die Restitution des 1917 entstandenen Gemäldes „Wirtshaus“ von Heinrich Campendonk. Das Bild, das aus jüdischem Besitz stammte und nach dem Krieg auf verschlungenen Wegen im Museum landete, wurde erst an die Erbin restituiert und anschließend mit Hilfe von Bund und Land wieder zurückgekauft. Die Einigung entsprach den „Washingtoner Prinzipien“, nach denen faire und gerechte Lösungen für solche Raubkunstfälle gefunden werden sollen. Das Werk blieb in Krefeld – aber eben nicht durch Weigerung, sondern durch Kompromiss.
Es wäre wünschenswert, würde der im Zuge der jüngsten Kommunalwahl neu zu bildende Stadtrat seine bisherige Haltung gründlich ändern. Dass die AfD im Stadtrat mit nunmehr 15,6 % die drittstärkste Kraft stellt, sollte CDU und SPD zu denken geben. DIE LINKE, die seit Jahren im Sinne einer Einigung mit den Mondrian-Erben wirbt, legte ebenfalls um 2,3 % zu – eine Einigung zuerst im Stadtrat und dann mit den Erben wäre wünschenswert.
Ausstellung „Provenienzen. Kunstwerke wandern“
Alle drei vorstehenden Beispiele zeigen, welche große praktische Bedeutung die Provinienzforschung hat. Museen handhaben Raubkunst-Fälle zunehmend nach internationalen ethischen Standards, mit Fokus auf Transparenz, Provenienzforschung und faire Lösungen. Der Einsatz für Rückgabe wird durch internationale Abkommen, Leitfäden und politische Initiativen geprägt, aber im Einzelfall bleibt die Suche nach einer gerechten Lösung oft komplex und langwierig.
Es existieren internationale Datenbanken wie die Interpol-Datenbank für gestohlene Kunst und nationale Koordinierungsstellen (z.B. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste), die die Recherche unterstützen. Doch nicht alle Museen publizieren ihre Forschungsergebnisse ausreichend transparent, oft fehlen mehrsprachige Veröffentlichungen und offene Datenbanken.
Die Provinienzforschung bleibt ein herausforderndes Feld, gerade jenseits der großen Einrichtungen. Gerade in kleineren Museen, die meist nur wenig Mittel zur Verfügung haben, fehlen oft ausreichend festangestellte, qualifizierte Provenienzforscher:innen bzw. werden viele Projekte nur befristet unterstützt, was nachhaltige Forschung erschwert. Doch die systematische Überprüfung von ganzen Museumsbeständen ist extrem zeitintensiv und steht deshalb im Konflikt mit anderen Aufgaben der Museen.
Umso wichtiger ist es, wenn größere (Kunst-)Museen die Erkenntnisse ihrer Provinienzforschung nicht nur publizieren, sondern in Form von gesonderten Ausstellungen in die Praxis und Bedeutung der Provinienzforschung selbst Einblick geben. Welch überraschende Erkenntnisse die geradezu kriminalistische Arbeit über die eigenen Bestände hervorbringt, erläuterte vor einigen Jahren beispielsweise Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe in der Ausstellung „Raubkunst? Provenienzforschung zu den Sammlungen des MKG“.
Die Ausstellung „Provenienzen. Kunstwerke wandern“, die noch bis zum 13. Oktober 2025 in der Berlinischen Galerie zu sehen ist, knüpft an eine von der Ernst von Siemens Kunststiftung geförderten Ausstellung an. Aufgrund der Corona-Pandemie war diese aber nur wenige Tage zugänglich.
Die auf einen Raum konzentrierte Präsentation eröffnet den Besucher:innen zunächst einen beeindruckenden Blick auf 34 Gemälde unterschiedlichster Größen und Formate, großflächig gehängt von der Decke bis zum Boden.
Drei digitale Medienstationen ermöglichen die Recherche zu jedem der Gemälde und dem Erkenntnisstand über die jeweilige Provinienz jedes einzelnen Werks. Die in der Salonhängung zusammengeführten Werke sind Erwerbungen der Berlinischen Galerie seit den 1970er Jahren. Die wenigsten der Gemälde wurden bislang überhaupt gezeigt und das Schaffen der Künstler:innen in dieser Ausstellung ist kaum erforscht.
Die anschaulichen Kurzporträts der einzelnen Werke verdeutlicht, dass Museen oft zentrale Dokumente wie Verkaufsbelege, Inventarlisten oder Zeugenaussagen über die Geschichte von Kunstwerken fehlen. Besonders bei solchen, die während der NS-Zeit oder in kolonialen Kontexten verschoben wurden. Archive, Kunsthandelsunterlagen und relevante Schriftstücke sind häufig nicht vollständig erhalten, unzugänglich oder über verschiedene Länder und Institutionen verstreut.
Sicher ist am Beginn jeder Recherche in der Provinienzforschung nur eins, erläutert die Galerie den Besucher:innen: „Jedes Werk ist gewandert, und das Wissen um die Wege erweitert den Blick auf die Kunst.“
Umso wünschenswerter wäre es, wenn der digitale Teil der Ausstellung, der gegenwärtig abrufbar ist, auch nach Beendigung der Ausstellung öffentlich zugänglich und abrufbar wäre. Kulturelle Bildung ist so wichtig und was die Berlinische Galerie in den Medienstationen zusammengetragen hat, ist ohne Übertreibung Goldstaub kultureller Bildung. Nehmen wir nur das Werk „Kanonen am Kanal“ von Ima Breusing aus dem Jahre 1934. Das Gemälde im ungewöhnlichen Format eines sehr lang gezogenen Rechtsecks zeigt fünf lachsfarbene Kanonen vor Fabrik- oder Lagerhallen. Neben Informationen über die Bauhaus-Schülerin Breusing, die 1924 nach Berlin kam, erläutert das Museum in Dokumenten den Ankauf und Hintergrund des Gemäldes – führt behutsam und nachvollziehbar in die unterschiedlichen Betrachtungsebenen der Provinienzforschung ein.
Ergänzt ist die Ausstellung mit originalen Dokumenten, mittels derer die Geschichte des 1910 von Fidus (Hugo Höppener) geschaffenen Gemäldezyklus „Tempeltanz der Seele“ erzählt wird. Erst im Jahre 2017 wurden die Gemälde als NS-Raubkunst identifiziert, proaktiv restituiert und aus der Familie der ehemaligen Auftraggeber:innen für die Sammlung der Berlinischen Galerie wiedererworben. Auch diese Geschichte ist sensibel erzählt und durch den von rechts nach links laufenden Zeitstrahl der Erzählung, wird der Besucher schon optisch mit Brüchen der Geschichte konfrontiert. So wird deutlich:
„Die Kunstwerke wandern. Das war und ist ihr Schicksal, und niemals wird es sich ändern“
Dieser 1925 getroffenen Feststellung des Berliner Kunstkritikers Adolph Donath ist der Titel der wichtigen Ausstellung in der Berlinischen Galerie entlehnt.
Weitere Texte auf diesem Blog zum Thema Kulturgutentzug
- Gesamtdeutsche Verantwortung im Umgang mit dem Kulturgutentzug zwischen 1945 und 1989
- Das Gemälde als Zeitzeugin