Gesamtdeutsche Verantwortung im Umgang mit dem Kulturgutentzug zwischen 1945 und 1989
Im 35. Jahr der Deutschen Einheit sollte die Aufarbeitung des Kulturgutentzugs in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR endlich zu einer tatsächlich gesamtdeutschen Aufgabe werden. Die Provenienzforschung liefert wertvolle Erkenntnisse über die Verstrickungen deutscher Auktionshäuser und Sammlungen in die Geschichte des Kunsthandels und ‑entzugs. Ein Literaturbericht.
Kulturgut und Einigung: Neue Schiedsgerichtsbarkeit für NS-Raubgut
Anfang Oktober 2024 einigten sich Bund, Länder und Kommunen in Gestalt der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der Kulturminister:innen und Kultursenatoren der Länder und die Vertreter:innen der kommunalen Spitzenverbände auf die Grundlagen zur Einrichtung einer gemeinsamen Schiedsgerichtsbarkeit für NS-Raubgut.
Sie beschlossen, die „Beratende Kommission“ durch ein neues „Schiedsgericht NS-Raubgut“ zu ersetzen, um die Restitutionspraxis zu verbessern und die Mitwirkung der Opfer und ihrer Familien zu stärken. Dieses Schiedsgericht, gemeinsam von Bund, Ländern, Kommunen, der Jewish Claims Conference und dem Zentralrat der Juden in Deutschland benannt, soll abschließend über strittige Rückgabefälle entscheiden und auch einseitig anrufbar sein, wenn bilaterale Verfahren erfolglos bleiben würden.
Auf Basis der Erfahrungen und in Anerkennung des bisher Geleisteten soll die Restitutionspraxis in Deutschland in dieser Weise verbessert und die Einbindung der Opfer und ihrer Nachfahr:innen gestärkt werden.
Im Vorfeld und nach der Einigung auf die Eckpunkte für das neue Schiedsgericht NS-Raubgut am 9. Oktober entstanden vielfältige Diskussionen und Reaktionen. Schon zuvor war das bestehende System zur Restitution von NS-Raubkunst vielfach kritisiert worden, insbesondere die „Beratende Kommission“, die als zu schwach und ineffektiv galt. Die Forderungen nach einem verbindlicheren Verfahren mit mehr Durchsetzungskraft wurden laut, und viele bemängelten die fehlende Verpflichtung privater Besitzer:innen zur Teilnahme an Restitutionsverfahren.
Nach der Bekanntgabe der Eckpunkte für das neue Schiedsgericht reagierten Expert:innen unterschiedlich. Einige begrüßten die Einrichtung eines Schiedsgerichts als Fortschritt, andere kritisierten, dass die Neuregelung nicht weit genug gehe und wichtige Probleme ungelöst lasse. Besonders umstritten war die weiterhin fehlende Verpflichtung für private Besitzer:innen, am Schiedsverfahren teilzunehmen. Auch wurde die Frage gestellt, ob das Schiedsgericht ohne ein umfassendes Restitutionsgesetz wirklich effektiv sein könne. Weitere Debatten drehten sich um die Notwendigkeit, die Ersitzung für NS-Raubkunst rückwirkend aufzuheben, um mehr Fälle einzubeziehen, sowie um die Zusammensetzung und Qualifikation der Schiedsrichter:innen.
In der Folge forderten manche Stimmen weitergehende Maßnahmen. Dazu zählte der Ruf nach einem umfassenden Restitutionsgesetz, das auch private Sammlungen einbezieht, sowie nach klareren rechtlichen Rahmenbedingungen für die Restitution von NS-Raubkunst. Auch verbindlichere Regelungen für die Teilnahme am Schiedsverfahren, vor allem für private Besitzer:innen, wurden gefordert.
Positiv hervorgehoben wurde demgegenüber die Stärkung der Position der Antragsteller:innen durch ein formaleres Verfahren, die Möglichkeit, Videoverhandlungen durchzuführen, was den Prozess für internationale Antragsteller:innen erleichtern könnte, sowie die geplante Veröffentlichung anonymisierter Schiedssprüche zur Erhöhung der Transparenz.
Etablierung der Provenienzforschung
Auch fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und ein Vierteljahrhundert nach der Konferenz von Washington ist der von den Nationalsozialisten systematisch betriebene Raub von Kunst und Kulturgütern – vornehmlich jüdischer Besitzer:innen – weder vollständig aufgearbeitet, noch die damit verbundenen Restitutionsfragen geklärt.
Mit der Umsetzung der Washingtoner Prinzipien sind Museen, Bibliotheken und Archive intensiv befasst. Insgesamt zeigt sich, dass die Provenienzforschung in Deutschland deutlich an Professionalität, Umfang und gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen hat. Von einer Nischendisziplin entwickelte sie sich zu einem etablierten und breit gefächerten Forschungsfeld, das sowohl institutionell als auch akademisch fest verankert ist. Vor inzwischen zehn Jahren entstand an der Universität Bonn der bundesweit erste Lehrstuhl für Provenienzforschung. Im selben Jahr wurde das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (DZK) in Magdeburg eingerichtet, das die Aufgaben der Arbeitsstelle für Provenienzforschung (AfP) in Berlin und anderer Einrichtungen übernahm. Es ist die bedeutsamste Einrichtung zur Förderung der Provenienzforschung. Zwischen 2008 und 2023 wurden nach Angaben des Zentrums für Kulturgutverluste mehr als 430 kurz- und langfristige Projekte in öffentlichen und privaten Sammlungen gefördert.
Allein die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) restituierte im Zuge ihrer Provenienzforschung über 350 Kunstwerke und mehr als 2.300 Bücher, wie sie in ihrem Jahresbericht 2023 berichtet. Unter der Überschrift »Fair und gerecht« widmet die Stiftung der Provenienzforschung den Schwerpunkt im Jahresbericht. Interviewt werden Carola Thielecke vom Justiziariat der SPK, Petra Winter vom Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin sowie Michaela Scheibe aus der Staatsbibliothek. Darüber hinaus macht Anke Lünsmann, Koordinatorin des Projekts Kunst, Raub und Rückgabe der SPK, »Die Seelen hinter den Akten« in einem lesenswerten Beitrag sichtbar.
Bedeutungsgewinn des Kulturgutentzugs in SBZ und DDR
Der Fokus der Provenienzforschung ging über die NS-Raubkunst zügig hinaus. In dem hervorragenden Überblicksbeitrag „Welchen Stellenwert hat Provenienzforschung zu Kulturgutverlusten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR?“, veröffentlicht in der Fachzeitschrift für Provenienzforschung transfer, nehmen Mathias Deinert, Katja Lindenau, Carina Merseburger, Annette Müller-Spreitz und Alexander Sachse im Jahr 2022 eine umfassende Analyse der seither erfolgten Aufarbeitung von Kulturgutverlusten in der SBZ und der DDR vor.
Die Publikation beleuchtet die jüngere Entwicklung der Provenienzforschung in Deutschland und geht auf die gesetzlichen Regelungen ein, die seit der Wiedervereinigung von 1990 das Ziel verfolgen, historische Ungerechtigkeiten aufzuarbeiten. Bis 2010 waren konkrete Initiativen und wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema eher spärlich. Der Artikel beschreibt, wie eine zunehmende Zahl von politischen Erklärungen, Tagungsbänden, Gutachten und Stellungnahmen das Interesse an einer systematischen Erforschung und Aufarbeitung der SBZ- und DDR-Zeit bezeugt. Die Autor:innen fassen 17 zentrale Dokumente zusammen und zeigen auf, welche Akteur:innen – von Museen und politischen Institutionen bis hin zu wissenschaftlichen Organisationen – sich in der Vergangenheit für dieses Thema einsetzten. Der Beitrag dokumentiert die Entwicklung von der anfänglich sporadischen zu einer breiter vernetzten Forschungslandschaft, die durch Initiativen wie das DZK unterstützt wird.
Zusätzlich benennen Deinert et al. aktuelle Herausforderungen und Desiderate in der Provenienzforschung. So wird auf die Notwendigkeit einer verstärkten Objektforschung und detaillierten Aufarbeitung von Kulturgutverlusten hingewiesen, die bislang nur punktuell erfolgte. Diese Forschung sei nicht nur für Museen und Sammlungen wichtig, um ihrer moralischen Verantwortung gerecht zu werden, sondern habe auch das Potenzial, eine gesamtdeutsche Identität zu fördern und historische Ungerechtigkeiten aufzuarbeiten. Gefordert wird außerdem eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger:innen für die Bedeutung der Provenienzforschung, ausgedrückt u. a. in einer gezielten finanziellen Unterstützung. Dies sei erforderlich, um den derzeitigen Wissensstand weiter auszubauen und die Ressourcen bereitzustellen, die es den betroffenen Institutionen ermöglichen, das kulturelle Erbe der DDR-Zeit angemessen aufzuarbeiten.
Das bereits erwähnte Deutsche Zentrum Kulturgutverluste befasste sich in seiner Jahrestagung mit »Entziehungen von Kulturgütern in SBZ und DDR – Der Stand der Forschungen und die Perspektiven«. Vier Jahre später wurde das Thema erneut auf einer Tagung unter dem Titel: »›VEB Kunst‹ – Kulturgutentzug und -handel in der DDR« erneut aufgegriffen und neue Forschungserkenntnisse präsentiert.
Seither hat die Befassung mit dem Kulturgutentzug in der SBZ und der DDR kontinuierlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Im Zentrum selbst wurden allein 16 Projekte zur Grundlagenforschung mit Kooperationspartner:innen konzipiert und finanziell unterstützt. Im März 2022 erschien der dritte Band der wissenschaftlichen Schriftenreihe »Provenire« mit dem Titel »Enteignet, entzogen, verkauft. Zur Aufarbeitung der Kulturgutverluste in SBZ und DDR«, der sich auf rund 300 Seiten dem seinerzeitigen Forschungsstand in den Feldern Flucht und Ausreise, Privatem sowie Staatlichem Kunsthandel sowie der Tätigkeit der Kunst und Antiquitäten GmbH widmete.
Welche Bedeutung das Thema SBZ-/DDR-Kulturgutentzug auch im Verhältnis zu NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut für Deutschlands zweitgrößte Kulturstiftung, die Klassik Stiftung Weimar (KSW), hat, erläuterte deren Präsidentin, Ulrike Lorenz, auf einer Podiumsdiskussion im November 2020, die im erwähnten »Provenire«-Band dokumentiert ist: „Die KSW habe 39.000 Erwerbungen aus der NS-Zeit einem Erstcheck unterzogen und in 11.000 Fällen sei aufgrund von Verdachtsmomenten eine vertiefende Erschließung erfolgt. Von diesen 11.000 Fällen seien wiederum 2.700 Objekte restituiert – und dann teilweise zurückgekauft worden. Für die Zeit zwischen 1945 und 1990 hingegen ‚haben wir das Neunfache an Erwerbungen, das heißt 290.000 Erwerbungen an Kunst, Büchern, Archivalien.‘“ (S. 290) „Sie verstehen, dass wir da als Stiftung, die auch mit wirtschaftlichen Überlegungen umgehen muss, kurz innehalten und überlegen müssen, wie wir das angehen“, wird Lorenz weiter zitiert (ebd.). Diese Zahlen decken sich mit den Erkenntnissen anderer Kultureinrichtungen.
Verglichen mit dem Umgang mit NS-Raubgut, für den es durch die Washingtoner Erklärung und Folgedokumente etablierte Verfahrensabläufe gibt, ist die Rechtslage für Kulturgutentzug in der SBZ/DDR eine fundamental andere und die gesetzlichen Antragsfristen zu Rückforderungen von zwischen 1945 und 1989 entzogenem Kulturgut bereits verstrichen, wie Joëlle Warmbrunn darlegt: „Ab 1990 galt das Vermögensgesetz (VermG) für Entziehungen zur Zeit der DDR, das Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz (EALG) ab 1994 regelte Kompensationen für Verluste zur Zeit der SBZ. Die Fristen zur Antragstellung sind für das VermG seit 30. Juni 1993, für das Ausgleichsleistungsgesetz (AusglLeistG) als Teil des EALG seit 31. Mai 1995 abgelaufen.“ (S. 299)
Rechtsfragen des Kulturgutentzugs und rechtspolitischer Handlungsbedarf
Angesichts dessen, aber insbesondere vor dem Hintergrund der inzwischen vielfältigen Forschungstätigkeiten und deren Erkenntnissen, beschloss das DZK ein Gutachten zur »Rechtssituation und Handlungsoptionen im Hinblick auf Kulturgutentziehungen in SBZ und DDR« in Auftrag zu geben. Wie Gilbert Lupfer, Direktor des Zentrums, und Michael Franz, Leiter der Grundsatzabteilung des Zentrums, erläutern, sollten die Autoren „die verschiedenen Fallgruppen des Entzugs von Kulturgütern in der SBZ und DDR differenzieren und die folgenden Rechtsfragen behandeln:
- Wie stellen sich die bisherige und die aktuelle Rechtssituation im Hinblick auf Eigentums- bzw. Vermögensentziehungen sowie Besitzverschiebungen in SBZ/DDR unter Einbeziehung der einzelnen Fallgruppen dar?
- Welche Handlungsoptionen bestehen im Hinblick auf den zukünftigen Umgang mit Wiedergutmachung von Eigentums- bzw. Vermögensentziehungen sowie Besitzverschiebungen in SBZ/DDR?“
Nachdem die beiden renommierten Gutachter Prof. Dr. Thomas Finkenauer von der Universität Tübingen und Prof. Dr. Jan Thiessen von der Humboldt-Universität zu Berlin im Herbst 2022 ihre Erkenntnisse vorlegten, veröffentlichte das DZK die Studie als Sonderband der Reihe Provinere unter dem Titel »Kunstraum für den Sozialismus. Zur rechtlichen Beurteilung von Kulturgutentziehungen in SBZ und DDR« beim Verlag De Gruyter (ISBN 978-3-11-114495-5).
Die Studie ist zweifellos ein Grundlagenwerk für die Provenienzforschung und richtet sich ebenso zweifellos an ein an Rechtsfragen interessiertes und vorgeprägtes Fachpublikum. Zunächst geben die beiden Autoren anhand von 13 Fallgruppen einen Überblick über die Vielfalt der Fallgestaltungen, die zu beachten sind. Zu denken ist, so die Autoren, an Kulturgut, das „im Zuge der Bodenreform entzogen wurde, an Hab und Gut, das sog. Republikflüchtige zurückließen, oder an Gegenstände, die DDR-Bürgern abgepresst wurden, um eine legale Ausreise vollziehen zu dürfen oder um willkürlich festgesetzte Steuerschulden zu begleichen, an die Vermögenseinziehung im Zusammenhang mit politisch-motivierten Strafverfahren, nicht zuletzt an konspirativen Tresorraub durch die Staatssicherheit.“ (S. 3)
Für jede dieser Fallgruppen rekonstruieren Finkenauer/Thiessen, „welche rechtsförmigen, wenngleich oft rechtsstaatswidrigen Regelungen dem Kulturgutentzug typischerweise zugrunde lagen (Rechtslage vor 1990) und wie seit der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung in rechtsstaatlicher Weise damit umgegangen wurde (Rechtslage nach 1990).“ (ebd.)
Das Gutachten schließt ab mit rechtspolitischen Empfehlungen. Finkenauer/Thiessen verweisen auf das Problem, dass angesichts der Verjährungsfristen, die in der Regel in der ersten Hälfte der 1990er Jahre lagen, vielfach die Existenz und der Verbleib von rechtswidrig entzogenem Kulturgut erst nach diesen Verjährungs- und Ausschlussfristen aufgeklärt werden konnten bzw. künftig aufgeklärt werden können. Sie plädieren gleichwohl dafür, die durch entsprechende Fristen erreichte Rechtssicherheit nicht in Frage zu stellen, aber „auf neuer bundesgesetzlicher Grundlage […] öffentliche oder öffentlich getragene Einrichtungen über die bisher anerkannten Fallgruppen hinaus [zu] ermächtigen, nach eigenem Ermessen Kulturgut aus SBZ-/DDR-Kontexten zurückzugeben, auch wenn eine Verpflichtung hierzu zivil- und restitutionsrechtlich nicht besteht.“ (S. 160)
Hierzu legten sie den »Entwurf eines Gesetzes über die Rückgabe von rechtsstaatswidrig entzogenen Kulturgütern und anderen beweglichen Sachen« vor und stellten ihn mithin zur Diskussion. Eine wahrnehmbare Debatte zwischen den Kulturpolitiker:innen des Bundes und der Länder zu diesem Gutachten und den darin enthaltenen rechtspolitischen Handlungsempfehlungen gab es bislang nicht.
Angesichts der in hohem Maße komplizierten und sensiblen Debatte über die Einrichtung einer gemeinsamen Schiedsgerichtsbarkeit für NS-Raubgut sprachen gute Gründe dafür, nicht parallel eine weitere Diskussion über die Rückgabe von rechtsstaatswidrig entzogenen Kulturgütern in der SBZ/DDR zu eröffnen. Zu befürchten ist jedoch, dass dies nicht die einzige Ursache ist.
Verstaatlicht, verkauft und vergessen?
Vielmehr dürfte weiterhin zutreffend sein, was Gilbert Lupfer, Uwe Hartmann und Mathias Deinert bereits im Mai 2022 in der FAZ konstatierten: „Der Entzug von Kulturgut in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR wurde bisher nicht als gesamtdeutsches Phänomen und Problem wahrgenommen“. Dabei landeten die meisten der hier in Rede stehenden Kulturgüter in Westdeutschland bzw. Westeuropa, wurden im Export eingesetzt zur Beschaffung der notorisch zu knappen Devisen.
Diesem Thema widmete sich bereits im Mai 2022 das wissenschaftliche Tagesseminar »Verstaatlicht, verkauft und vergessen? Zum Kulturgutentzug in der SBZ/DDR und der Frage nach Restitution« der Stiftung Ettersberg und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Dessen Ergebnisse erschienen 2023 als Band 18 der von der Stiftung herausgegebenen Publikationsreihe »Aufarbeitung kompakt«.
Hier von Interesse sind insbesondere die Beiträge von Rüdiger Haufe, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Provenienzforschung bei der Klassik Stiftung Weimar, Thomas Widera, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sorbischen Institut in Bautzen und Xenia Schiemann, Kunsthistorikerin am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.
Rüdiger Haufe beleuchtet übersichtlich Fallkonstellationen zum Kulturgutentzug in der SBZ und der DDR. Diese Darstellung bietet Einsteiger:innen eine gute Grundlage in das Thema, um sich tiefergehenden Analysen, wie beispielsweise denjenigen von Finkenauer/Thiessen, zu widmen.
Widera beleuchtet die auch im Rechtsgutachten von Finkenauer/Thiessen als eine Fallkonstellation beschriebene MfS-Aktion „Licht“ aus dem Jahr 1962. Widera führte am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung zwischen 2017 und 2019 ein Pilotprojekt durch, um diese weitgehend unbekannte Aktion des DDR-Geheimdienstes zu beleuchten. Im Januar 1962 durchsuchten Stasi-Mitarbeitende Banken und Finanzinstitute in der gesamten DDR. Dabei öffneten sie jahrzehntelang verschlossene Tresore, aus denen Wertgegenstände und Dokumente entnommen wurden. Bis heute bleibt der Zweck der Aktion unklar und die Aktenlage ist dürftig. Widera vermutet, dass die Aktion weniger auf materielle Gewinne abzielte, sondern vielmehr der Stabilisierung und Loyalitätskontrolle diente.
Schiemann gibt den Leser:innen Einblicke in die Geschäfte der 1973 gegründeten Kunst und Antiquitäten GmbH (KuA). Diese DDR-Organisation war ein Teil des „schattenwirtschaftlichen“ Komplexes um Alexander Schalck-Golodkowski, der Kunstexporte nutzte, um den finanziell angeschlagenen Staatshaushalt zu stützen. Schiemann zeigt, wie private Sammler:innen durch fingierte Steuerschulden gezwungen wurden, ihre Sammlungen abzugeben, die dann in den westlichen Kunsthandel gelangten. Sie dokumentiert am Beispiel des Berliner Arztes Peter Garcke, wie wertvolle Stücke aus DDR-Sammlungen prominent beim Auktionshandel Christies auftauchten. Die Forschungsergebnisse zeigen eindrücklich, wie internationale Fachzeitschriften und Tageszeitungen über diese Praktiken berichteten und dass westliche Auktionshäuser die Herkunft der Objekte kannten.
Der Tagungsdokumentation gelingt es exemplarisch, die verschlungenen Wege der überwiegend nicht rechtsstaatlich enteigneten Kunst- und Kulturgüter zwischen DDR und Westen aufzuzeigen und verdeutlicht die Notwendigkeit, dieses Thema nicht als »Ostspezifikum«, sondern als Gegenstand der gesamtdeutschen Erinnerungskultur und ‑praxis zu verstehen.
Die Beschaffungs- und Einkaufspolitik des Zentralantiquariats der DDR zeichnete Werner Schroeder bereits 2018 im Jahrbuch der KSW nach, dessen Schwerpunkt die Provenienzforschung war. Vier Beiträge widmeten sich dem Kulturgutentzug nach 1945, darunter derjenige Schroeders. Er beschreibt, wie das 1946 enteignete wissenschaftliche Antiquariat K. F. Koehlers Antiquarium als Koehler & Volckmar VOB (Z) fortgeführt und sich als das größte volks- bzw. organisationseigene Antiquariat der DDR etablierte. Der enteignete Bestand des Antiquariats stand dem Export unmittelbar zur Verfügung, „der in den folgenden Jahren durch weitere Enteignungen aufgefüllt werden konnte. Grundlage dieser Praxis waren Strafverfahren wegen angeblicher Warenverschiebungen und Devisenvergehen sowie daraus konstruierte Gewinne. In einem weiteren Schritt veranlassten die Finanzämter der DDR Betriebsprüfungen, die zu massiven Steuernachforderungen führten, die häufig den Jahresumsatz der betroffenen Unternehmen übertrafen“ (S. 247). Die übernommenen Unternehmen wurden rasch liquidiert und die Warenbestände veräußert. Anhand vier exemplarischer Beispiele beschreibt Schroeder dieses Vorgehen der DDR-Behörden. Der Beitrag schließt mit der Feststellung, dass trotz all dieser Bemühungen die von den Behörden vorgegebenen Planziele der Exporterlöse nicht erreicht wurden. Für die Betroffenen, für die jede Enteignung eine Tragödie darstellte, umso bitterer.
Im Jahr 2020 erschien die Broschüre »Auf der Suche nach Kulturgutverlusten: Ein Spezialinventar zu den Stasi-Unterlagen« von Ralf Blum, Helge Heidemeyer und Arno Polzin in Zusammenarbeit mit dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU). Sie bietet bis heute eine einzigartige Recherchehilfe für die Provenienzforschung.
Die Autoren verfolgen das Ziel, eine systematische Grundlage zur Erforschung von Kulturgutverlusten in der ehemaligen DDR zu schaffen, insbesondere durch die Auswertung von Stasi-Unterlagen. Sie möchten einen Überblick geben, welche Bestände und Signaturen im Stasi-Archiv Hinweise auf beschlagnahmte Kulturgüter enthalten, die entweder im Zuge repressiver Maßnahmen gegen Privatpersonen oder zur Gewinnung von Devisen ins Ausland verkauft wurden. Das Buch richtet sich dabei nicht nur an Historiker:innen, sondern auch an Museen, die auf Hinweise zu möglicherweise unrechtmäßig erworbenen Objekten angewiesen sind.
Das Buch ist strukturiert in eine Einleitung, die den Projektzuschnitt und die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) erläutert, gefolgt von themenbezogenen Recherchen in Akten und Ablagen des MfS. Besonders hervorzuheben ist ein Kapitel mit einer umfassenden Liste von mehr als 1.500 relevanten Signaturen, die als Recherchegrundlage für zukünftige Projekte dienen können. Ein Glossar und Anhang erleichtern den Zugang zu häufigen Begriffen und Abkürzungen, während der abschließende Teil mögliche Perspektiven für weiterführende Forschung aufzeigt.
Besonders hervorzuheben sind auch hier sowohl das Kapitel zur bereits oben erläuterten sogenannten Aktion Licht des MfS als auch die detaillierte Dokumentation staatlicher Verkaufsaktionen im Ausland, etwa im Rahmen der Kunst und Antiquitäten GmbH, die in den 1970er und 1980er Jahren zur Devisenbeschaffung systematisch Kunstgegenstände exportierte.
Mit 120 Seiten bietet dieses Findbuch eine fundierte Grundlage für die Provenienzforschung und schafft erstmals einen geordneten Zugang zu den oft schwer zugänglichen Stasi-Beständen, die sich mit Kulturgutverlusten befassen. Es leistet einen wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung deutscher Geschichte.
Soweit bekannt, wurde nur in einem Fall nach der Wiedervereinigung ein Untersuchungsausschuss zum Kulturgutentzug eingesetzt. Das 2023 beim DZK publizierte Working Paper »Die Zustände […] sind als katastrophal zu beschreiben. Der Untersuchungsausschuss Verschwundene Kulturgüter der Rostocker Bürgerschaft« widmet sich dessen Geschichte. Der Historiker Peter Danker-Carstensen leitete das Schiffbau- und Schifffahrtsmuseum Rostock und schildert die Tätigkeit des 1991/92 eingesetzten Untersuchungsausschusses der Rostocker Bürgerschaft, der sich der Aufklärung von Veruntreuungen und Diebstählen wertvoller Kunstgegenstände aus Rostocker Museen während der DDR-Zeit widmete.
Danker-Carstensen zeigt detailliert auf, wie schwierige Rahmenbedingungen, politische Verstrickungen und mangelnde Kontrollstrukturen zur „katastrophalen“ Situation in den Museen führten, die von erheblichen Verlusten an Kulturgut geprägt war. Die Intention des Autors ist es, durch die Darstellung dieser Ereignisse ein Bewusstsein für die historische Bedeutung der Kulturgutverluste und die Herausforderungen der Provenienzforschung zu schaffen. Der Artikel hebt dabei auch die Unzulänglichkeiten und Blockaden hervor, die den Untersuchungsausschuss in seiner Arbeit einschränkten. Er betont, dass die systematischen Kontrolllücken, fehlende politische Unterstützung und die Verstrickung von Kulturinstitutionen mit dem Staatsapparat zu massiven Verlusten von Kulturgut führten. Danker-Carstensen hebt die Notwendigkeit hervor, diese Missstände zu dokumentieren und aufzuarbeiten, um die Rolle von Museen und anderen Einrichtungen in der DDR kritisch zu reflektieren und eine umfassende historische Aufklärung zu ermöglichen. Dabei spricht er sich auch für eine stärkere Förderung der Provenienzforschung aus, um den Verbleib verschwundener Objekte zu klären und die Verantwortung der damaligen Akteur:innen zu benennen.
Zuletzt erschien die Publikation »Kulturgutentzug in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR« von Alexander Sachse und Jan Scheunemann, herausgegeben vom Museumsverband Sachsen-Anhalt und dem Museumsverband des Landes Brandenburg. Sie umfasst 71 Seiten und bietet eine praxisorientierte Handreichung für Mitarbeiter:innen in Museen. Sie ist über die Webseite des Museumsverbandes Brandenburg abrufbar. In ihrer Einleitung skizzieren die Autoren die Zielsetzung der Publikation: „Museen – vor allem jene in den ostdeutschen Bundesländern – stehen vor einem Problem: Sie können für viele nach 1945 in ihre Sammlungen aufgenommenen Objekte eine Herkunft aus Unrechtskontexten nicht ausschließen.“ Diese Handreichung soll zur Beschäftigung mit problematischen Sammlungseingängen anregen und praktische Hilfestellungen bei der Identifikation und Dokumentation solcher Objekte bieten.
Die einzelnen Beiträge widmen sich spezifischen Provenienzkategorien, die jeweils anhand von Fallgruppen detailliert dargestellt werden (Bodenreform, sogenannte Republikflucht, Kulturgutschutzgesetzgebung der DDR, Einziehung von Kulturgut durch staatliche Stellen infolge von Strafprozessen, staatliche Einlieferungen – also staatliche Praktiken und Massenorganisationen als Quellen für Objekte sowie die Rolle des Kunsthandels und der staatlichen Museen in Ankaufsprozessen).
Die Handreichung kombiniert historische Analysen mit praktischen Anleitungen zur Recherche und Identifikation verdächtiger Objekte und ist mit Praxisbeispielen ausgestattet, die spezifische Recherchetechniken veranschaulichen. Insgesamt vermittelt sie eine umfassende Orientierung für Museen, die sich der Aufarbeitung ihrer Sammlungen widmen möchten.
So dankbar man beiden Museumsverbänden für diese Handreichung sein kann, stellt sich gleichwohl die Frage, warum kein großer Museumsverband aus den alten Bundesländern, wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Baden-Württemberg, Interesse und Bereitschaft zeigte, Mitherausgeber dieser Publikation zu sein, deren Adressat:innen im Wesentlichen eben auch die Museen der sogenannten alten Bundesländer sind. Dieser Zustand sollte im kommenden Jubiläumsjahr der Deutschen Einheit endgültig überwunden werden. Es wäre auch ein guter Beginn des nun vorgezogenen Starts der kommenden Wahlperiode auf Bundesebene.
Literatur
Blum, Ralf/Heidemeyer, Helge/Polzin, Arno, Auf der Suche nach Kulturgutverlusten Ein Spezialinventar zu den Stasi-Unterlagen, hrsgg. vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, Berlin 2020.
Danker-Carstensen, Peter, „Die Zustände […] sind als katastrophal zu beschreiben.“: Der Untersuchungsausschuss Verschwundene Kulturgüter der Rostocker Bürgerschaft, Working Paper 5 des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, Magdeburg 2023.
Deinert, Mathias et al., Welchen Stellenwert hat Provenienzforschung zu Kulturgutverlusten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR? Diskussionen, Literatur, Initiativen, in: transfer – Zeitschrift für Provenienzforschung und Sammlungsgeschichte, Heft 1/2022, S. 110–121.
Deinert, Mathias/Hartmann, Uwe/Lupfer, Gilbert, Enteignet, entzogen, verkauft. Zur Aufarbeitung der Kulturgutverluste in SBZ und DDR, Band 3 in der Schriftenreihe „Provenire“, hrsgg. vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, Verlag De Gruyter, Berlin 2022.
Finkenauer, Thomas/Thiessen, Jan, Kunstraub für den Sozialismus. Zur rechtlichen Beurteilung von Kulturgutentziehungen in SBZ und DDR, Sonderband in der Schriftenreihe „Provenire“, hrsgg. vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, Verlag De Gruyter, Berlin 2023.
Haufe, Rüdiger, Kulturgutentziehungen in der SBZ und der DDR. Ein Aufriss mit Fallbeispielen, in: Ganzenmüller, Jörg/Schlichting, Franz-Josef (Hrsg.): Verstaatlicht, verkauft und vergessen? Zum Kulturgutentzug in der SBZ/DDR und der Frage nach Restitution, Schriftenreihe Aufarbeitung Kompakt Bd. 18, Weimar, 2023, S. 11–34.
Kretzschmann, Julia, Tagungsbericht: Verstaatlicht, verkauft & vergessen? Zum Kulturgutentzug in der SBZ/DDR und der Frage nach Restitution, in: H-Soz-Kult, 25.06.2022.
Lupfer, Gilbert/Hartmann, Uwe/Deinert, Mathias, Operation Ausverkauf. Um an Devisen zu kommen, verkaufte die DDR selbst Kulturschätze an das kapitalistische Ausland. Ein Kapitel deutsch-deutscher Geschichte, dessen Aufarbeitung erst am Anfang steht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 22. Mai 2022.
Sachse, Alexander/Scheunemann, Jan, Kulturgutentzug in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR: Historische Hintergründe – Praxisbeispiele – Rechercheansätze, hrsgg. vom Museumsverband Sachsen-Anhalt und dem Museumsverband Brandenburg, Bernburg/Potsdam 2024.
Schiemann, Xenia, Die Auktionsgeschäfte der »Kunst und Antiquitäten GmbH« der DDR auf dem westlichen Kunstmarkt, in: Ganzenmüller, Jörg/Schlichting, Franz-Josef (Hrsg.): Verstaatlicht, verkauft und vergessen? Zum Kulturgutentzug in der SBZ/DDR und der Frage nach Restitution, Schriftenreihe Aufarbeitung Kompakt Bd. 18, Weimar, 2023, S. 57–72.
Schroeder, Werner, Institutionalisierte Kulturgutverwertung. Die Beschaffungs- und Einkaufspolitik des Zentralantiquariats der DDR, in: Bomski, Franziska/Seemann, Hellmut Th./Valk, Thorsten (Hrsg.), Spuren suchen. Provenienzforschung in Weimar, Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2018, Wallstein-Verlag, Göttingen 2018, S. 245–266.
Widera, Thomas, Die Aktion »Licht« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, in: Ganzenmüller, Jörg/Schlichting, Franz-Josef (Hrsg.): Verstaatlicht, verkauft und vergessen? Zum Kulturgutentzug in der SBZ/DDR und der Frage nach Restitution, Schriftenreihe Aufarbeitung Kompakt Bd. 18, Weimar, 2023, S. 35–56.
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Gesamtdeutsche Verantwortung im Umgang mit dem Kulturgutentzug zwischen 1945 und 1989Benjamin-Immanuel Hoff
Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.