18.06.2025
Benjamin-Immanuel Hoff/Kolja Möller
Interview aus dem Podcast »Kunst der Freiheit«

Volksaufstand & Katzenjammer: Potenziale und Grenzen eines progressiven Populismus

Wer sich mit Populismus befassen und dieses Phänomen verstehen will, spricht – wie ich in meinem Podcast KUNST DER FREIHEIT in der Sendung vom 8. Juni 2025 - mit dem habilitierten Politikwissenschaftler Dr. Kolja Möller. Der Autor verschiedener Bücher über Populismus und Volkssouveränität forscht und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden. Kolja Möller erläutert das Muster von Volk und Elite und legt dar, warum Populismus links sein kann, aber oft im Katzenjammer endet.  Rosa Luxemburg entwickelte Möllers Auffassung nach - entgegen vielen Klischees über die revolutionäre Sozialistin - ein bemerkenswertes Verständnis von Populismus und Lernprozessen von Massenbewegungen, das bis heute für progressive transformatorische Politik Inspirationen beinhalten kann. 

El LISSITZKY (1890-1941), Attribué à Composition suprématiste


BIHoff: Der Vorwurf populistischer Politik wird inzwischen ziemlich inflationär erhoben. Das führt aus meiner Sicht dazu, dass das tatsächliche Wesen populistischer Politik immer unschärfer zu erkennen ist. Du hast zur Geschichte des Populismus publiziert, unter anderem 2020 das Buch »Volksaufstand & Katzenjammer. Zur Geschichte des Populismus« beim Wagenbach-Verlag und 2022 hast du bei Suhrkamp einen Reader mit Standardtexten zum Populismus herausgegeben. Zuletzt erschien von dir 2024 ebenfalls bei Suhrkamp »Volk und Elite. Eine Gesellschaftstheorie des Populismus«. Als Experten an dich die Frage: woran erkennt man richtige Populist:innen und woran aber gerade nicht?

Kolja Möller: Die Frage liegt selbstverständlich auf der Hand, wenn man sich mit dem Thema befasst, weil der Begriff sowohl inflationär verwendet wird, wie du sagst, als auch oft abwertend. Es wird gesagt, das und das sei populistisch, und man meint damit, dass es schlecht sei, zuspitzend, emotionalisierend, nicht sachgerecht, polarisierend und so weiter.

Ich glaube aber, wenn man sich das Phänomen näher anschaut, dann ist in dem Begriff Populismus ja der lateinische Begriff Populus enthalten, also Volk. Und der Kern oder der Wesenskern dieser Politikform besteht darin, dass sie sich auf die Volkssouveränität bezieht, also auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Beispielsweise stellen wir uns unser Grundgesetz so vor, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Das ist nichts anderes als die Volkssouveränität.

Es gibt innerhalb des politischen Systems die Möglichkeit, dass auf der Ebene der Gesetzgebung und der Auseinandersetzung um die Besetzung von Ämtern, Akteur:innen auftreten und den Anspruch auf die Repräsentation der Volkssouveränität erheben, also die verfassungsgebende Gewalt des Volkes Und sie geben dieser verfassungsgebenden Gewalt einen negativen Twist, wenden sie gegen die Eliten.

Das ist nicht die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, die dann vertreten wird, sondern sie nutzen das Volk und die verfassungsgebende Gewalt als Widerstandsformel, um gegen die Eliten aufzubegehren und sich dann in diesen praktischen Machtauseinandersetzungen innerhalb des politischen Systems zu engagieren. Das grenzt den Populismus zunächst einmal von einer ganzen Reihe von Phänomenen ab, die zwar häufig, aber unzulässig als Populismus bezeichnet werden. Wenn emotionalisierend Politik gemacht wird, ist das noch nicht zwangsläufig populistisch. Dasselbe gilt, wenn polarisierend Politik gemacht wird oder wenn soziale Bewegungen auf die Straße gehen mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“: das ist noch nicht populistisch.

Populismus setzt an auf der Ebene des politischen Systems in Verbindung mit dem Gegensatz von Volk und Elite, wobei Elite negativ gewendet ist.

BIHoff: Benjamin Arditi sagte in einem Aufsatz einmal sinngemäß, Populismus sei der betrunkene Onkel oder Gast am Familientisch, der unangenehme Wahrheiten ausspricht, die keiner hören will. Was hältst du von dieser Kennzeichnung des Populismus?

Kolja Möller: Das finde ich unzutreffend. Denn dieses Bild beinhaltet etwas Irrationales und Irres. Irgendeiner, der sich betrinkt und dann vielleicht auch mal was Richtiges sagt.

Mein Verständnis von Populismus ist viel systematischer und auch rationaler. Wir nehmen bereits in unserer Verfassung Bezug auf die Macht des Volkes, und diesen Volksbezug kann man nicht einfach stillstellen. Das ist nichts Betrunkenes, sondern gehört systemisch zu unserer Politik.

In einer zweiten Komponente kommt im Populismus etwas Widerständiges zum Ausdruck. Ich hatte es bereits betont: Der Populismus wendet die Volkssouveränität negativ gegen die Eliten. Da stellt sich die Frage, ob dem ein Wahrheitskern zugrunde liegt. In vielen Fällen trifft es nicht zu, in anderen vielleicht schon.

Last but not least verharmlost das Bild vom betrunkenen Onkel auch die Wirkung autoritären Populismus, dessen Wirkungen wir in unseren Gesellschaften erleben und die wir ernst nehmen müssen.

BIHoff: Wenn wir an Populisten denken, sehen wir selbstverständlich Donald Trump, der mit Elon Musk und anderen Tech-Milliardären den Anspruch erhebt, das Volk gegen die Eliten, nämlich die liberalen demokratischen Eliten, zu führen. Wir haben in Brasilien den früheren Präsidenten Bolsonaro und eine ganze Reihe von weiteren Akteuren wie Orbàn in Ungarn. In dem Buch Volksaufstand & Katzenjammer unterscheidest du unterschiedliche Formen des Populismus bis hin zum Antipopulismus. Und wenn man dir zugehört hat, dann kannst du durchaus auch produktive Formen populistischer Politik erkennen, die du von den autoritären destruktiven Formen des Populismus unterscheidest.  Und diese Unterscheidung würde ich gerne ein bisschen stärker mit dir herausarbeiten.

Kolja Möller: In meinem Projekt versuche ich einen weiten Bogen zu spannen. Historisch ist es bemerkenswert, dass es populistische Mobilisierungsformen schon sehr lange gibt. Über Jahrhunderte hinweg und mit unterschiedlichen Ansätzen und unterschiedlichen Varianten populistischer Politik. So gibt es zum Beispiel in vielen Ländern so etwas wie den Agrarpopulismus. Bäuer:innen, Landarbeiter:innen, die sich organisieren und aufbegehren...

BIHoff: Wir befinden uns gegenwärtig im 500. Jahr des Deutschen Bauernkrieges. In KUNST DER FREIHEIT sprach ich anlässlich dessen mit dem Direktor der Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Dr. Thomas T. Müller über Hintergründe, Instrumentalisierungen und die weltweite Ikonographie des Deutschen Bauernkriegs. Das Gespräch findet sich hier auf dem Blog NACHDENKEN IM HANDGEMENGE.


Kolja Möller: […] In den 1990er-Jahren entstand in Lateinamerika ein bedeutender Linkspopulismus, der sich gegen neoliberale Eliten und insbesondere gegen den Einfluss der USA auf dem Kontinent richtete. Daneben existiert auch ein Populismus der Mitte – etwa bei Matteo Renzi in Italien –, der sich als Ausdruck des „gesunden Menschenverstands“ gegen das politische Establishment positionierte, insbesondere gegen Berufspolitiker:innen.

Diese Beispiele zeigen: Populismus ist kein einheitliches Phänomen, sondern tritt in vielfältigen Formen auf. Um diese Vielfalt analytisch greifbar zu machen, unterscheide ich zwei grundlegende Dynamiken:

Erstens gibt es eine demokratische Dynamik, bei der sich das Volk gegen die Eliten richtet – jedoch nicht als homogene Einheit, sondern als plural zusammengesetztes Gemeinwesen. Populismus erscheint hier als ein urdemokratischer, oft auch plebiszitärer Impuls. Diese Form findet sich sowohl im linken als auch in zentristischen Populismus wieder.

Zweitens lässt sich eine identitäre Dynamik beobachten, die insbesondere im Rechtspopulismus dominiert, aber auch in populistischen Bewegungen der Mitte und sogar in Teilen des Linkspopulismus auftaucht. Sie beruht auf der Vorstellung eines bereits existierenden, homogenen Volkskörpers, der keiner politischen Auseinandersetzung bedarf, sondern „gegeben“ ist. In dieser Logik dient die Volk–Elite-Unterscheidung nicht mehr der Mobilisierung gegen Herrschaft, sondern der Abgrenzung gegenüber „den anderen“ – also nicht nur gegenüber den Mächtigen, sondern auch gegenüber sozialen, kulturellen oder ethnischen Gruppen oder Minderheiten.


BIHoff: Ich verstehe dich so, dass man über Populismus nur dann sinnvoll sprechen kann, wenn man auch über pluralistische oder identitäre Vorstellungen vom Volk und dessen Gegensatz, die Eliten, spricht.

Kolja Möller: Genau. An diesem Punkt lässt sich eine zentrale Unterscheidung deutlich machen: Zwar steht in beiden Fällen der Gegensatz von „Volk“ und „Elite“ im Zentrum, doch die dahinterliegenden Dynamiken sind grundverschieden. In der einen Variante richtet sich die Kritik gegen Eliten, denen vorgeworfen wird, zu viel Macht angesammelt und sich von verfassungsmäßigen Prinzipien sowie der Idee der Volkssouveränität entfremdet zu haben.

In der anderen Variante geht es hingegen um die Verteidigung einer imaginierten, homogenen Volksidentität – ein ideologisch überformtes Projekt. Hier dient die Volk–Elite-Gegensetzung nicht der Kontrolle von Macht, sondern der nationalistischen Ausgrenzung. Das lässt sich etwa bei rechten Bewegungen in Deutschland oder bei Trumps MAGA-Bewegung in den USA beobachten.

Diese Gruppierungen entfernen sich zunehmend von klassischen populistischen Mustern. Zwar nutzen sie weiterhin die Rhetorik vom „Volk gegen die Elite“, doch der Bezug auf die Verfassungsordnung tritt in den Hintergrund. Stattdessen rückt die Vorstellung einer ethnisch oder kulturell homogenen Volksgemeinschaft ins Zentrum. Daraus speisen sich auch autoritäre Fantasien wie jene Trumps zur „Remigration“ – politische Projekte, die auf Ausschluss, Selektion und gesellschaftliche Säuberung zielen.


BIHoff: Ich stimme deiner Einschätzung zu, dass die gängigen Populismustheorien kaum ausreichen, um das aktuelle Geschehen in den USA zu erklären – und dass Begriffe wie Bonapartismus oder Faschismus analytisch gehaltvoller sind, um diese Entwicklungen zu fassen.

Ich möchte auf das Konzept eingehen, das du einmal als „produktiven Populismus“ bezeichnet hast. Chantal Mouffe, auf die du dich ebenfalls beziehst, hat eine Theorie des linken Populismus entwickelt. Sie argumentiert, dass der Neoliberalismus viele gesellschaftliche Konflikte entpolitisiert habe – etwa durch die vermeintlich technokratische Behandlung von Globalisierung, Sparpolitik oder Marktlogik. Diese wurden als alternativlos dargestellt, als sogenannte TINA-Phänomene – „There is no alternative“.

Mouffe zufolge müsse ein linker Populismus diese Fragen repolitisieren, soziale Ungleichheit und Ausgrenzung sichtbar machen und so ein kollektives „Wir“ schaffen – also eine Form von Kollektivierung, die an unseren bisherigen Begriff des „Volkes“ anknüpft.

Dabei, so betont sie, gehe es nicht nur um rationale Argumente – sie kritisiert hier die strategische Schwäche etwa der Sozialdemokratie –, sondern um affektive Mobilisierung: Ein linker Populismus müsse Leidenschaften erzeugen können.

Das progressive Moment ihres Konzepts liegt für mich besonders in der Abgrenzung zum autoritären Populismus. Mouffe betont, dass politische Gegner – etwa die Vertreter:innen neoliberaler Politik – nicht als Feinde zu vernichten seien. Sie lehnt damit auch linke Traditionslinien ab, die in klassenkämpferischer Rhetorik auf Vernichtung der Bourgeoisie setzten. Stattdessen plädiert sie für die Zurückdrängung neoliberaler Hegemonie innerhalb eines demokratischen Rahmens.

Wie schätzt du diesen Ansatz ein – nicht nur als theoretisches Modell, sondern im Hinblick auf seine tatsächliche politische Umsetzbarkeit?

Kolja Möller: Die Geschichte des linken Populismus reicht weit zurück – vermutlich beginnt sie mit der People’s Party in den USA, die in den 1890er-Jahren unter dem Namen American Populist Party bekannt wurde. Sie vereinte vor allem Kleinbauern, Landarbeiter und Angehörige der damals größten Gewerkschaft, den Knights of Labor, die sich teils explizit für eine Solidarität zwischen Weißen und People of Colour einsetzten. Ziel war es, sich gegen die ökonomischen und politischen Eliten an der Ostküste zur Wehr zu setzen, nachdem beide großen Parteien die Anliegen der Landbevölkerung lange ignoriert hatten. Später übernahmen die Demokraten wesentliche Forderungen der Populisten in ihr Programm.

Ausgehend von dieser Bewegung lässt sich eine ganze Geschichte des linken Populismus erzählen – von antikolonialen Befreiungsbewegungen im globalen Süden bis hin zu zeitgenössischen Beispielen wie Syriza in Griechenland. In solchen Kontexten wird Populismus als demokratische Mobilisierungsform eingesetzt, die auf realen gesellschaftlichen Widersprüchen beruht. Er ist – zumindest phasenweise – weder irrational noch rein affektiv, sondern Ausdruck eines politischen Moments, das auf die Sichtbarmachung von Ungleichheit und Ausgrenzung zielt.

Allerdings bringt diese Form des Populismus ein strukturelles Problem mit sich: Der ursprüngliche Wahrheitskern der Volk–Elite-Gegensetzung verliert an Plausibilität, sobald er auf Dauer als universales Erklärungsmuster verwendet wird. Ich nenne das in Anlehnung an die Szene der Drogendealer das Getting High on Your Own Supply-Prinzip. Kurz: Die Drogen, die man vertickt, die soll man nicht selbst nehmen. Oder mit anderen Worten: die eigene Mobilisierungslogik wird nicht mehr als Werkzeug verstanden, sondern gerinnt zu einer Ideologie. Wer nur noch mit dem Hammer unterwegs ist, sieht überall Nägel.

Ein demokratischer, linker Populismus läuft dann Gefahr, die Komplexität moderner Gesellschaften zu unterschätzen. Nicht alle gesellschaftlichen Probleme lassen sich sinnvoll durch die Linse des Volk–Elite-Gegensatzes begreifen oder lösen. Wer jedoch eine breite politische Bewegung aufbauen will, wird zwangsläufig mit vielfältigen Widersprüchen konfrontiert – und muss darauf Antworten finden.

Historisch zeigen sich dafür verschiedene Reaktionsmuster: Manche Bewegungen verfallen in eine autoritäre Verhärtung und erklären alle inneren wie äußeren Widersprüche zu „Volksfeinden“. Andere weichen in Technokratie aus oder reduzieren den Populismus auf politische Folklore – mitsamt der Inszenierung von Führerfiguren, wobei die Realität dann bürokratisch verwaltet wird.

Insofern stimme ich Chantal Mouffes Analyse des anti-oligarchischen, linken Populismus in der Gegenwart weitgehend zu. Sie beschreibt treffend, wie dieser auf reale Machtverhältnisse reagiert. Doch auf längere Sicht stellt sich die Frage, wie Bewegungen oder Organisationen mit internen Widersprüchen demokratisch und emanzipatorisch umgehen – ohne in bloße Freund-Feind-Schemata zu verfallen.

Ein produktiver, demokratischer Populismus müsste hier eine klare Grenze ziehen: Er darf die Volk–Elite-Unterscheidung nicht als universales Erklärungsmuster für die Gesellschaft übernehmen, sondern sollte sie als temporäres, politisches Instrument begreifen – hilfreich zur Mobilisierung in bestimmten Situationen, aber nicht geeignet, die Komplexität gesellschaftlicher Realität dauerhaft zu strukturieren.


BIHoff: Gerade in der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts aber auch in ursprünglich sozialistisch motivierten nationalen Befreiungsbewegungen, bei denen die sozialistische Idee häufig abgestreift und auf das Nationale reduziert wurde, etablierte sich der fatale Grundsatz: der Zweck heiligt die Mittel. Die Kontroverse, die du beschrieben hast, um die Bearbeitung des Widerspruchs zwischen angestrebtem Endziel und der tagespolitischen Realitäten wurde verengt. Am Ende wurden Säuberungen oder Vertreibungen durchgesetzt, autoritär bis totalitär regiert, indem man den Eliten-Vorwurf, also der rückwärtsgewandten Repräsentanz von „revisionistischen Volksfeinden“ gegen die wechselnden politischen Gegner:innen, auch im eigenen politischen Lager, gegen bestimmte soziale Schichten oder auch ethnische Gruppen gewendet hat.

Mir erscheint, dass Chantal Mouffe die auf den linken Populismus folgende politische Praxis unzureichend betrachtet. Das erscheint mir jedoch mit Blick auf das 20. Jahrhundert ebenso wie auf die lateinamerikanischen linken Praxen des 21. Jahrhunderts notwendig zu sein. Denn zumeist endeten die entsprechenden politischen Experimente autoritär oder zumindest selten in einer erfolgreichen Praxis, in der die politische Entscheidung an den Volkssouverän auch dann übergeben wurde, wenn dieser Souverän einen anderen Weg einschlagen wollte, als die ursprünglich linken Populisten.

Kolja Möller: Das ist eine zutreffende Beobachtung. Dennoch würde ich die Stärke von Chantal Mouffes Ansatz vor allem in ihrem realistischen Blick auf konkrete politische Situationen sehen. Es geht bei ihr weniger um das Verhältnis von Gefühl und Verstand im Allgemeinen, sondern darum, wie linker Populismus – etwa nach dem Vorbild von Occupy Wall Street mit dem Slogan „We are the 99 percent“ – innerhalb bestehender politischer Verhältnisse ansetzen kann.

Gerade darin liegt, meines Erachtens, die Überzeugungskraft ihres Modells: Es formuliert keine rein theoretische Alternative, sondern bietet einen praktischen Zugang, um unter realen Bedingungen progressive Politik zu ermöglichen. Das erklärt auch, warum ihr Ansatz so breite Diskussionen ausgelöst hat und viele sich davon angesprochen fühlen – unabhängig davon, ob man ihre Perspektive vollständig teilt oder nicht.

BIHoff: Ich stimme dir zu. Mouffes Argument, dass Politik immer auch mit Leidenschaften verbunden ist, überzeugt mich. Ein Grund für den Niedergang der Sozialdemokratie seit den späten 1990er-Jahren liegt meiner Einschätzung nach im Irrweg des sogenannten Dritten Weges – etwa bei New Labour oder den New Democrats. Der Übergang vom Welfare- zum Workfare-Staat wurde dabei nicht nur vollzogen, sondern auch mit dem Argument legitimiert, er sei alternativlos. Linke Politik wurde so durch eine postpolitische Erzählung ersetzt, in der sich alle in der vermeintlich pragmatischen Mitte versammeln sollten.

Doch die Empörung über reale und zunehmende soziale Ungerechtigkeiten – etwa im Kontext der Wohnungsfrage als zentrale soziale Konfliktlinie – bietet weiterhin Potenzial für Mobilisierung. Bewegungen wie Occupy Wall Street haben solche Empörung aufgenommen und dazu beigetragen, dass bislang unhinterfragte Grundsätze infrage gestellt wurden. Gerade nach der Finanzkrise 2007/08 entstanden so erste Risse in der neoliberalen Diskurshegemonie.

Gleichzeitig müssen wir aber feststellen: Es sind derzeit vor allem autoritäre Populisten, denen es besser gelingt, diese soziale Empörung für sich zu nutzen – indem sie sie mit identitätspolitischen Narrativen verknüpfen und so diskursiv dominieren.

Kolja Möller: Die Bilanz des linken Populismus ist sicherlich durchwachsen. Einerseits ist es kurzfristig gelungen, Mobilisierungsprojekte in Gang zu setzen, die relevant gewesen sind. Andererseits müssen wir feststellen, dass die betreffenden Organisationen wie beispielsweise Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland oder auch das italienische Movimento 5 Stelle – hier als Fünf-Sterne-Bewegung bekannt – in erhebliche Konflikte auch intern als Organisationen geraten sind. Einerseits der Erfolg im politischen System und andererseits kontroverse Spaltungsdiskussionen, Auflösungen und Führungskonflikte mit einem letztlich geringen Maß an Stabilität und Resilienz in diesen Organisationen.

Für mich stellt sich angesichts dessen die Frage, die ich nicht abschließend beantworten kann, ob dies nicht ein systematisches Problem des linkspopulistischen Ansatzes ist. Zwar erfolgreich in politische Situationen und reaktiv in bestimmte Lagen eingreifen zu können, aber keinen ausreichend längerfristig stabilen und resilienten Horizont zu bieten für die ihn tragenden politischen Organisationen und die notwendige politische Praxis.

BIHoff: In deiner Antwort zu Chantal Mouffe und der Beschreibung des Übergangs – von einer situativ sinnvollen populistischen Mobilisierung hin zu einer demokratisch-linken Gestaltungspraxis – klingt für mich eine tiefere Kontroverse innerhalb der sozialistischen und emanzipatorischen Bewegung an: Nämlich die Frage, wie reformistisch oder wie revolutionär ein politisches Projekt eigentlich ist. Und eng damit verbunden: Wie viele Widersprüche und reale Begrenzungen ist man bereit anzuerkennen? Und wie weit geht die Bereitschaft, auf dem Weg zur Veränderung auch Kompromisse einzugehen – nach dem alten Muster: zwei Schritte vorwärts, einen zurück?

Du hast 2023 einen Text geschrieben »Von jacobinischen Fehlern zu transformatorischem Populismus: Linker Populismus und das Erbe der europäischen Sozialdemokratie«. Du betrachtest darin Karl Marx und Friedrich Engels, aber auch Rosa Luxemburg. Du hast bei ihr eine Art transformatorischen Populismus entdeckt, der nicht nur eine Gegenmacht aufbaut, sondern auch kollektive Lernprozesse anstößt, die du für sehr wichtig hältst.

Kolja Möller: Rosa Luxemburg ist in dieser Debatte eine ausgesprochen interessante Figur. In der öffentlichen Wahrnehmung wird sie heute häufig auf ihr berühmtes Zitat »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden« reduziert und als Symbolfigur für Freiheit gelesen. Andere stilisieren sie vor allem als radikale Klassenpolitikerin.

Wenn man Luxemburgs Schriften näher betrachtet, erkennt man darin allerdings Ansätze eines eigenständigen Verständnis des Populismus, oder wie sie es nennt: von Volksbewegungen. Für sie entstehen politische Bewegungen entlang gesellschaftlicher Konflikte – aus Massen, die sich zu breiteren Volksbewegungen formieren und sich gegen die herrschende Klasse wenden. Entscheidend ist dabei: Luxemburg begreift diese Bewegungen nicht nur als Mittel zur Mobilisierung, sondern als Räume politischer Bildung und Veränderung. Sie betont die Bedeutung von Erfahrung, Kritik und Selbstkritik – und die Fähigkeit, sich auf neue Lagen einzustellen.

In dieser Perspektive liegt Luxemburg näher am amerikanischen Pragmatismus als an Chantal Mouffe: Politik wird als ein offener Lernprozess gedacht, als Trial-and-Error-Verfahren, in dem Bewegungen, Organisationen und Gesellschaften gemeinsam reifen. Es geht Luxemburg nicht allein darum, das Volk gegen „die da oben“ zu mobilisieren. Vielmehr interessiert sie, wie sich aus dieser Mobilisierung tatsächliche Transformationen ergeben – in der Bewegung selbst, in ihren Organisationsformen und letztlich in der Gesellschaft insgesamt.

Man könnte sagen: Luxemburg verschiebt den Fokus schrittweise vom populistischen Impuls hin zu einem Prozess gesellschaftlicher Veränderung – getragen von Reflexion, Lernfähigkeit und praktischer Erfahrung.

BIHoff: Liegt das vielleicht daran, dass Rosa Luxemburg – im Unterschied zu Chantal Mouffe – Teil einer sozialistischen Partei war, die auf einen Machtübergang orientiert war und Regierungsübernahmen als einen Schritt zum Sozialismus verstand? Möglicherweise musste sie sich deshalb viel stärker mit praktischen Fragen der Organisierung und der politischen Bildung der Massen auseinandersetzen, als es Chantal Mouffe getan hat.

Kolja Möller: Ja, das mag sein. Die Sozialdemokratie wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer starken politischen Kraft. Sie engagierte sich in Parlamenten, Kommunalvertretungen und Gewerkschaften – und mit diesem Engagement traten zwangsläufig ganz praktische Probleme zutage. Die Wahl der richtigen Strategie wurde innerhalb der Bewegung äußerst kontrovers diskutiert. Rosa Luxemburg nahm in dieser Auseinandersetzung eine zentrale Rolle ein. Sie sah die Risiken, die aus der Tagespolitik erwuchsen: etwa die Sektoralisierung politischer Kämpfe oder die Integration von Arbeiter:innen und Funktionär:innen in institutionelle Strukturen. Ihre Kritik lautete sinngemäß: Unser sozialdemokratisches Befreiungsprojekt ist nicht mehr sichtbar; wir arbeiten uns an Einzelproblemen ab, erreichen aber strukturell zu wenig. Deshalb plädierte sie für einen anderen Weg – die Massenaktion.

Dass Luxemburg Teil der sozialdemokratischen Bewegung war, spielte dabei eine zentrale Rolle – insbesondere auch in intellektueller Hinsicht. Wenn man sich die Debatten jener Zeit vergegenwärtigt, zeigt sich eine bemerkenswerte Diskussionskultur. Luxemburgs strategische Kontrahenten wie Eduard Bernstein oder Karl Kautsky, aber auch viele andere, führten diese Auseinandersetzungen auf hohem argumentativem Niveau, schriftlich in Artikeln, Pamphleten und theoretischen Texten. Alles wurde zur Kenntnis genommen, es wurde ernsthaft gestritten – sachlich und analytisch. Eine solche Kultur des Widerspruchs, die intellektuelle Auseinandersetzung nicht scheut, sondern produktiv nutzt, würde ich mir auch in heutigen Parteien und Organisationen wünschen.

BIHoff: Viele dieser Diskussionen, die du beschreibst, wurden in den Tages- und Wochenzeitungen der Sozialdemokratie geführt, die eben parteiliche Zeitungen der Arbeiter:innenbewegung waren und von denen einige heute noch existieren, auch wenn diese Herkunftsgeschichte des Massenjournalismus und der Tageszeitungen weitgehend verschüttet ist. In der Redaktion der Leipziger Volkszeitung war beispielsweise Rosa Luxemburg kurzzeitig tätig, schied aber im Konflikt um die Linie der Zeitung auf eigene Entscheidung aus.

Würdest du, um zu deinem 2023er Text zurückzukommen, dem Eindruck zustimmen, dass du über diese Forschungsarbeit versuchst, eine Form von oder einen Begriff von Transformationspolitik zu entwickeln, der über den gemeinhin gebrauchten Begriff der digitalen oder industriellen Transformation hinausreicht und vielmehr gesellschaftlich transformatorische Politik meint. Im Sinne einer auf den Volksbegriff des Populus bezogenen populären Transformation zu entwickeln.

Kolja Möller: Das ist absolut zutreffend, weil Transformation meines Erachtens immer politisch übersetzt werden muss. Natürlich kann man in einzelnen Wirtschaftssektoren beginnen – etwa durch die Einführung neuer Technologien oder strukturelle Anpassungen in bestimmten Branchen. Doch am Ende stellt sich die Frage nach der politischen Verallgemeinerung: Wie wird aus punktuellen Veränderungen ein gesamtgesellschaftlicher Prozess? Und wie geht man damit um, wenn eine solche Transformation gegen bestehende Machtverhältnisse durchgesetzt werden muss?

Nehmen wir die Elektro- oder Automobilindustrie: Dort sind Veränderungen innerhalb der Fabriken möglich. Doch wer eine umfassende sozial-ökologische Transformation will, muss klären, wie unterschiedliche Ebenen und Maßnahmen ineinandergreifen, welche Widerstände entstehen – und vor allem: Wer sind die Träger:innen dieses Prozesses? Und wie steht es um ihr Bewusstsein, ihre Organisierung, ihre Handlungsfähigkeit?

In den Debatten um Rosa Luxemburg sind jedenfalls Ansätze zu identifizieren, die genau in diese Richtung weisen – natürlich unter völlig anderen historischen Bedingungen, aber mit einer vergleichbaren grundsätzlichen Fragestellung. Deshalb, denke ich, lohnt sich der Blick zurück, wenn man sich heute ernsthaft mit Transformationsprozessen beschäftigt.

BIHoff: Du hast jüngst einen Text über die Fragen transformatorischer Politik geschrieben – etwas frei übersetzt – der in der Zeitschrift ‚European Journal of Social Theory’ erschienen ist. Darin zeichnest du eine Matrix vier unterschiedlicher Formen von Politik: (1) Politik im politischen System, (2) Politik als Übertragung von Machtlogiken auf andere Bereiche, (3) Politik als innere Systemreflektion und schließlich (4) – da kommt eine gewisse Neigung zu einem Autor, Peter Weiß, bei dir durch – Politik als Ästhetik des Widerstands. Und du warnst davor, Politik zu sehr auf Machtfragen zu reduzieren.

Kolja Möller: Die gegenwärtige Öffentlichkeit ist stark von einer neuen Politisierung  geprägt – in den Medien ebenso wie in sozialen Netzwerken. Diese Konzentration auf politische Konflikte und Lagerbildungen greift jedoch zunehmend auf andere gesellschaftliche Bereiche über. Wir erleben eine Zeit intensiver Politisierung, in der die technokratische Verwaltung von Gesellschaft – wie sie lange im Zeichen des Neoliberalismus dominierte – an ihre Grenzen stößt. „There is no alternative“ gilt nicht mehr; stattdessen wird in Theatern, Universitäten, Unternehmen und anderen Institutionen politisch gestritten. Diese Politisierungswelle verläuft ist mit widersprüchlichen Dynamiken und dem gleichzeitigen Aufstieg autoritärer und rechter Bewegungen verbunden.

Vor diesem Hintergrund habe ich in meinem Text die Struktur des Politischen differenziert und vier Politikbegriffe unterschieden. Ziel war es, zu analysieren, welche Folgen es hat, wenn Logiken, die wir aus der Politik kennen, in andere gesellschaftliche Sphären übertragen werden – und wer davon profitiert.

Die erste Dimension betrifft das politische System im engeren Sinne: Hier geht es klassisch um politische Macht – ihre Organisation, Verteilung und Legitimation (Politik 1). Die zweite Dimension beschreibt die Übertragung dieser Logik auf andere gesellschaftliche Bereiche – etwa wenn Theater, Universitäten oder Museen zunehmend als politische Kampffelder verstanden werden (Politik 2). Diese Verschiebungen sind nicht per se illegitim, aber problematisch, wenn sie die je eigene Logik dieser Bereiche verdrängen.

Die dritte Dimension verweist auf Politik als systeminterne Reflexion (Politik 3): Gesellschaftliche Teilsysteme – etwa Wissenschaft, Kultur oder Wirtschaft – folgen jeweils eigenen Logiken und Zielen. Im Wissenschaftssystem etwa dominiert nicht das Machtstreben, sondern das Erkenntnisinteresse. Problematisch wird es, wenn diese interne Logik durch politische Interventionen überlagert wird. Dann besteht die Gefahr, dass das beispielsweise Streben nach Wahrheit durch strategische oder machtpolitische Erwägungen vollständig verdrängt wird.

Manchmal ist politische Einflussnahme natürlich notwendig – etwa wenn es um gesellschaftliche Verantwortung oder die Durchsetzung von Gleichheit geht. Aber eine nachhaltige transformative Politik muss die Eigenlogik gesellschaftlicher Bereiche ernst nehmen, statt sie einseitig der Machtlogik zu unterwerfen.

BIHoff: Wie wir das gegenwärtig in den USA am Beispiel der Harvard University oder des Smithsonian Institute erleben.

Kolja Möller: Exakt. Und dennoch ist das nicht einfach nur die Übertragung einer Machtlogik auf andere Bereiche. Darum geht es im Matrixfeld Politik (3).

Und dann gibt es noch Politik (4). Dabei gehe ich in einer bestimmten Lesart von Peter Weiss‘ berühmtem Buch Ästhetik des Widerstands vor. Peter Weiss befasst sich darin mit dem Problem, das ich gerade ausgeführt habe, und zwar im Verhältnis von Kunst und Politik. Die Logik der Ästhetik und der Kunst auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Politik und deren Machtlogik. Er kommt in dem Buch immer wieder darauf zurück, dass es da zwar Überschneidungen gibt, aber dass das sehr unterschiedlich funktioniert und dass es sinnvoll ist, Politik und Kunst auseinanderzuhalten.

Zugleich zeigt er mit der dem Roman zugrunde liegenden Erzählung der Gruppe von Antifaschist:innen, dass offenbar in gewissen Situationen eine Politik möglich ist, die quer zu den drei beschriebenen Ebenen liegt und die sozusagen alles macht und alles im Blick hat. Dadurch gelingt es der Politik als Ästhetik des Widerstands, bestimmte Gelegenheitsfenster, die sich historisch öffnen, zu nutzen. Das ist ein unglaublich anspruchsvolles Vorhaben und – wie das Buch zeigt – am Ende auch ein massiv überforderndes Projekt. Dennoch ist mir wichtig, deutlich zu machen, dass es keineswegs unmöglich ist.

BIHoff: Du warnst vor diesen Machtlogiken und der Fokussierung auf die Machtfragen, warum?

Kolja Möller: Ich glaube, es gibt ein bestimmtes Problem. Das trifft sich auch mit dem Begriff, den wir zurzeit auch häufiger hören, der Hyperpolitik. Anton Jäger prägte diese Bezeichnung für den Übergang von einer Phase der Postpolitik, in der politische Entscheidungen vor allem technokratisch getroffen und von der Bevölkerung allenfalls passiv kommentiert wurden, zu einer Zeit ständiger Unruhe und Erregung. Diese Erregungszustände führen jedoch selten zu gemeinsamem Handeln und die zunehmende Politisierung schlägt deshalb auch kaum in tatsächliche politische Veränderungen um. Dies liegt laut Jäger insbesondere auch darin begründet, dass die politische Einbindung über große Organisationen, wie z.B. diejenigen der Arbeiter:innenbewegung zur Zeit Luxemburgs, durch digitale Individualisierung und Vereinsamung ersetzt wurde.

Kritisch sehe ich den inzwischen weit verbreiteten Versuch, politische Verfahren und Logiken auf andere gesellschaftliche Bereiche zu übertragen. Seit den 1980er-Jahren lässt sich eine große Euphorie beobachten, insbesondere in Bezug auf die Demokratie und ihre Verfahren. Trotz aller Herausforderungen – etwa durch den Rechtsruck – kann man sagen, dass dieses System bisher relativ erfolgreich war: Die Mehrheit der Menschen, selbst Rechtspopulisten, bezieht sich in irgendeiner Weise auf die Demokratie, auf repräsentative Verfahren und auf individuelle Rechtsansprüche. Diese Elemente sind fest in der Logik des politischen Systems verankert.

Doch wenn man nun beginnt, diese Logik auf andere gesellschaftliche Teilbereiche wie Wissenschaft, Theate, Unternehmen oder Museen zu übertragen, stellt sich die Frage, ob das überhaupt passt – und welche Folgen das hat. Wollen wir wirklich, dass etwa in der Wissenschaft oder an Kultureinrichtungen nur noch so diskutiert wird, wie es eigentlich im politischen System üblich ist? Oder brauchen wir für diese Bereiche andere Formen des Umgangs, des Austauschs und der Entscheidungsfindung?

Ich würde hier ein Fragezeichen setzen: Ist der Transfer politischer Verfahren in andere Funktionsbereiche tatsächlich sinnvoll – angesichts der Ziele, die wir mit diesen Bereichen verfolgen? Möglicherweise müssen wir hier grundlegend neu nachdenken und alternative Modelle entwickeln.

Ein gutes Beispiel für die Ambivalenz der Übertragung auf andere gesellschaftliche Bereiche ist die aktuelle Debatte um sogenannte „woke Wissenschaften“, etwa in den USA im Kontext der Auseinandersetzungen um Harvard. Hier stellt sich die Frage: Handelt es sich bei dieser Entwicklung tatsächlich um ein Resultat jener Übertragung politischer Logiken, wie zuvor beschrieben – oder eher um eine Instrumentalisierung durch autoritäre Politik?

Gerade in den USA wird das derzeit stark politisiert – allerdings von rechts. Das führt zu einem paradoxen Befund: Einerseits wird kritisiert, dass alles überpolitisiert sei, insbesondere durch progressive Bewegungen; andererseits betreibt die politische Rechte selbst eine gezielte Politisierung – sie schürt Konflikte, um eigene Politik durchzusetzen. Man könnte sagen, hier stehen unterschiedliche Politisierungsprojekte gegeneinander.

Zugleich ist es selbstverständlich legitim und notwendig, dass an Universitäten – besonders in den USA – politische Auseinandersetzungen über Diskriminierung, Repräsentation und Teilhabe geführt werden. Diese Themen gehören auch in den akademischen Raum. Das rechte Lager hat daraus allerdings ein Feindbild konstruiert und reagiert darauf mit einer eigentümlich gleichgerichteten politischen Agenda, die letztlich selbst das betreibt, was sie vermeintlich kritisiert.

Aus einer linken, demokratischen oder auch liberalen Perspektive stellt sich jedoch die Frage, wie unter den aktuellen Bedingungen gelingende gesellschaftliche Transformationen möglich sind. In diesem Zusammenhang bin ich beim bloßen Transfer politischer Verfahren in andere gesellschaftliche Bereiche ein wenig skeptisch. Eine bloße Ausweitung etwa repräsentativer Strukturen auf Kontexte wie Universitäten oder Kultureinrichtungen, ohne den jeweiligen Gegenstand und die spezifische Funktion zu berücksichtigen, kann problematische Folgen haben. Allein dadurch entsteht noch kein überzeugendes oder tragfähiges politisches Projekt.

BIHoff: Zugespitzt: Aus mehr Bürger:innenräten wird noch keine gelingende Transformation?

Kolja Möller: Genau, aus mehr Bürger:innenräten allein entsteht noch keine gelingende Transformation. Die Idee, durch mehr Beteiligung und Demokratisierung gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern, war insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren ein zentrales Projekt – angestoßen durch die neuen sozialen Bewegungen und aufgegriffen von unterschiedlichsten politischen Lagern. Dieses Demokratisierungsvorhaben war durchaus erfolgreich in seiner breiten gesellschaftlichen Etablierung, funktionierte aber vor dem Hintergrund einer stabilen liberalen Demokratie, ohne größere geopolitische Spannungen.

Heute jedoch befinden wir uns in einer Phase tiefgreifender Umbrüche, in der die Voraussetzungen dieser früheren Demokratisierungsdebatten nicht mehr gegeben sind. In dieser veränderten Lage reicht es nicht aus, allein auf eine Ausweitung partizipativer Verfahren wie Bürger:innenräte zu setzen. Gerade für jene, die an echter gesellschaftlicher Veränderung interessiert sind, bedarf es darüber hinaus substantieller politischer Projekte.

Hier kommt ein zentrales Konzept ins Spiel: die Suche nach funktionalen Äquivalenten – also nach alternativen Problemlösungen, die Blockaden auf dem Weg zu einer sozial-ökologischen Transformation überwinden helfen. Aus einer radikaldemokratischen Perspektive stellt sich die Frage, wo Akteure heute ansetzen können, um tatsächlich transformative Politik möglich zu machen. Es geht darum, über klassische Demokratisierungsmechanismen hinauszudenken und neue politische Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.

BIHoff: Wo würdest du auf der Suche nach zuversichtlichen Ideen empfehlen, am ehesten anzusetzen?

Kolja Möller: Die Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Neofaschismus ist zweifellos zunächst eine defensive Notwendigkeit. Zugleich aber eröffnet sie auch Chancen für gesellschaftliche Veränderung. In historischen Krisenzeiten – etwa in den 1930er-Jahren – entstanden in der Konfrontation mit autoritären Bewegungen nicht nur Abwehrstrategien, sondern auch politische Initiativen, die auf grundlegenden Wandel zielten: Die Volksfrontpolitik in verschiedenen Ländern, der New Deal in den USA oder die Reformpolitik in der Spanischen Republik stehen beispielhaft dafür.

Solche historischen Erfahrungen zeigen, dass es in krisenhaften Situationen nicht nur um die Bewahrung des Status quo geht, sondern auch um das Erkennen und Nutzen von Gelegenheitsfenstern für Veränderung. In diesem Sinne kann der gegenwärtige Moment, trotz seiner Herausforderungen, auch produktiv gewendet werden – sofern es gelingt, solche Möglichkeiten zu erkennen und entschlossen zu nutzen.

BIHoff: Kann ich das auf die Formel zusammenbringen – man kann eine Demokratie eigentlich wirkungsvoll nur verteidigen, wenn man eine Vision für ihre Weiterentwicklung formuliert?

Kolja Möller: Das bringt es sehr gut auf den Punkt. Gerade wenn man ernsthaft substanzielle Veränderungen anstrebt, reicht es nicht aus, lediglich bestehende Verfahren zu verteidigen. Es braucht vielmehr eine klare Vorstellung davon, wohin die Reise gehen soll – ein kohärentes und machtfähiges Projekt.

Denn die rechtspopulistischen und neofaschistischen Bewegungen agieren selbst mit einer spezifischen Macht-Ohnmachts-Dramaturgie: Sie inszenieren sich als Sprachrohr der Ohnmacht, treten gleichzeitig aber mit großem machtpolitischem Anspruch auf. Um ihnen wirksam zu begegnen, genügt es nicht, formal an demokratischen Strukturen festzuhalten – man muss auch in die sozialpsychologischen Dynamiken dieser Machtinszenierungen mit einem eigenen politischen Projekt vordringen.

BIHoff: Du hast drei historische Beispiele genannt, die deutlich machen, dass es in Zeiten autoritärer Bedrohung nicht nur um die Verteidigung der Demokratie ging, sondern um weiterreichende gesellschaftliche Neuentwürfe. Die Volksfront in Frankreich etwa war nicht nur ein Zweckbündnis zwischen zuvor verfeindeten sozialistischen und kommunistischen Kräften, sondern brachte konkrete sozialpolitische Verbesserungen auf den Weg – etwa den Achtstundentag. Sie steht damit auch für das politische Potenzial gemeinsamer Praxis jenseits ideologischer Spaltung.

Der New Deal in den USA markierte einen grundlegenden Wandel im Verständnis von staatlicher Verantwortung – hin zu einer aktiven, interventionistischen Sozialstaatspolitik, die das Verhältnis von Markt, Staat und Gesellschaft neu bestimmte.

Und schließlich die Spanische Republik: Ihre kulturelle Dimension wurde jüngst wieder in der Ausstellung über Surrealismus und Antifaschismus, die in München zu sehen war, deutlich – besonders im Modell des spanischen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris 1937. Dieser Pavillon, gebaut mitten im Bürgerkrieg von Luis Lacasa und Josep Lluís Sert und gestaltet unter anderem mit Werken u.a. von Picasso, Renau oder Miró, verkörperte das Selbstverständnis einer modernen, demokratischen und kulturell erneuerten Gesellschaft. Es war ein Ausdruck dessen, was man mit kultureller Hegemonie im Sinne Gramscis fassen könnte: ein gesellschaftlicher Entwurf, der sich nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch und symbolisch artikulierte.

Diese drei Beispiele – sozialpolitischer Fortschritt, sozialstaatliche Transformation und kulturelle Erneuerung – zeigen: Es ging nicht bloß um den Erhalt bestehender demokratischer Strukturen, sondern um die Entwicklung populärer, zukunftsgerichteter Gesellschaftsvorstellungen.

Kolja Möller: An Roosevelts New Deal ist besonders bemerkenswert, dass er kein von Anfang an durchdachtes Projekt war. Die Roosevelt-Administration trat ihr Amt an, ohne ein fertiges Konzept – vielmehr entwickelte sich der New Deal in einem pragmatischen Prozess des Trial and Error. Entscheidend war, dass sie das historische Möglichkeitsfenster erkannten und bereit waren, es zu nutzen. Diese Fähigkeit – Gelegenheiten wahrzunehmen, Unsicherheit auszuhalten und zugleich entschlossen zu handeln – erscheint heute als eine zentrale politische Tugend.

Ebenso wichtig ist die Bereitschaft, gesellschaftliche Bündnisse einzugehen: nicht nur mit Gleichgesinnten, sondern auch mit Akteur:innen aus anderen politischen oder sozialen Lagern. Eine transformative Politik muss in der Breite der Gesellschaft verankert werden, um wirksam zu sein. Das erfordert eine gewisse Offenheit über bekannte Grenzen und über die Verteidigung des Status quo hinauszugehen.

Der Begriff der „Brandmauer“ gegen rechts ist umstritten, bleibt aber als politische Grenzziehung notwendig – insbesondere in der Zusammenarbeit demokratischer Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen. Zugleich darf diese Abgrenzung nicht dazu führen, dass die inhaltliche Auseinandersetzung innerhalb des demokratischen Spektrums unterbleibt. Gerade jetzt ist es entscheidend, auch scharfe Konflikte über Inhalte, Richtungen und unsere Zukunft offen zu führen – und nicht nur über Verfahren zu sprechen.

BIHoff: Ich denke, dass die von dir skizzierte Perspektive – etwa in den drei zuvor diskutierten Modellen – zentrale Elemente dessen enthält, was man als „utopischen Überschuss“ bezeichnen könnte. Ob es sich um die kulturelle Vision der Spanischen Republik handelt oder um sozialstaatliche Ansätze wie beim New Deal oder der Volksfront: In all diesen Beispielen ging es nicht nur um Reaktion auf Krisen, sondern auch um die Formulierung einer gesellschaftlichen Zukunftsvorstellung.

Gerade darin liegt ihr transformatorisches Potenzial. Solche politischen Projekte eröffnen erst die Möglichkeit, überhaupt alternative Handlungsspielräume zu erkennen – und lassen zugleich frischen Wind in die eigenen Überlegungen. Sie zeigen, dass transformatorische Politik mehr leisten muss, als nur auf akute Notwendigkeiten zu reagieren. Sie sollte zugleich in der Lage sein, ein positives Bild der Zukunft zu entwerfen – eines, das motiviert, Orientierung bietet und über die bloße Krisenbewältigung hinausweist.

Genau diese Verbindung aus Problembewusstsein und Gestaltungsanspruch habe ich auch in deinen Texten wiedergefunden: die Einsicht, dass wir uns zwar den gegenwärtigen „Stapelkrisen“ stellen müssen, dass echte Transformation aber nur dann möglich wird, wenn wir über das Notwendige hinaus auch das Wünschbare denken.

Kolja Möller: Gramscis Diktum vom „Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens“ bringt eine zentrale Spannung  gut auf den Punkt. Als Wissenschaftler ist man zunächst dem Pessimismus des Verstandes verpflichtet: der nüchternen Beobachtung und Analyse dessen, was tatsächlich geschieht. Und wenn man sich die gegenwärtige Weltlage ansieht – geopolitisch ebenso wie gesellschaftlich –, dann wirkt sie mitunter wie ein endloser Kampf rivalisierender Gewaltakteure, vergleichbar mit der Serie Game of Thrones, in der Machtkämpfe immer wieder neu ausbrechen, ohne grundlegenden Fortschritt.

Auch die heutige Welt scheint zunehmend in diese Logik abzurutschen. Dennoch bleibt die Herausforderung bestehen, unter diesen Bedingungen Spielräume für gesellschaftliche Veränderungen zu finden. Transformation darf also nicht von idealen Voraussetzungen abhängig gemacht werden, sondern muss gerade unter widrigen Bedingungen erkämpft werden. Hier hat dann der „Optimismus des Willens“ seinen Platz. Das ist, glaube ich, die Herausforderung, vor der wir stehen.

BIHoff: Vielen Dank für dieses Gespräch.

 

Zur Person

Kolja Möller studierte Politikwissenschaften, Philosophie und Jura in Frankfurt am Main und arbeitete als Postdoc an der University of Bremen oder Universität Bremen mit den Schwerpunkten internationale politische Soziologie, politische Theorie, Verfassung und Rechtstheorie.

Er promovierte 2014 über den »Formwandel der Verfassung. Die postdemokratische Verfasstheit des Transnationalen« und habilitierte einige Jahre später über Volkssouveränität und Gesellschaft.
Möller publiziert regelmäßig u.a. im Suhrkamp-Verlag.