Erinnerung und Verantwortung: 80 Jahre nach der Befreiung
- Alle Rechte: Mitteldeutscher Rundfunk
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ (Richard von Weizsäcker)
Vor 40 Jahren hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker an einem Mittwoch im Bonner Deutschen Bundestag eine Rede, die die Art, wie in der Bundesrepublik an das Ende des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, maßgeblich veränderte. In diesem Jahr jährt sich die Befreiung vom Nationalsozialismus zum 80. Mal, die bedeutende Rede von Richard von Weizsäcker, die dieser anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes hielt, wird 40 Jahre alt.
Über beide Ereignisse und darüber, wie wir erinnern und gedenken sprach ich mit dem Direktor der Gedenkstätte, Prof. Dr. Jens-Christian Wagner. Zum Zeitpunkt des Gesprächs, das am 27. Januar 2025 in meinem Podcast Kunst der Freiheit konnten Jens-Christian Wagner und ich noch nicht erahnen, welche Kontroversen die Einladung des israelischen Wissenschaftlers Omri Böhm auslösen würden. Zu der umkämpften Erinnerungspolitik anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung schrieb ich auf meinem Blog Nachdenken im Handgemenge. Der vorliegende Text ist die aktualisierte Fassung des Gesprächs.
BIHoff: Die Süddeutsche Zeitung fragte jüngst ihren Kollegen, den Direktor der Gedenkstätte und des Museums Auschwitz-Birkenau, Piotr Tewinski, ob und wie Auschwitz erklärbar sei. Tewinski antwortete darauf:
„Je länger ich hier bin, denke ich, wer Auschwitz als etwas bezeichnet, das nicht erklärbar ist, versucht der Realität auszuweichen. Auschwitz ist viel näher als es scheint. Denken Sie an das, was alles passiert in der Welt. Die stupiden Massaker, Kriege oder Genozide. Auschwitz zeigt, das geht, man kann das machen, man kann industriell vernichten, man kann diese Maschine bauen.“
Ich gehe davon aus, dass Sie diese Sichtweise teilen?!
J.C.Wagner: Ja, dieser Topos der Black Box oder des Unvorstellbaren, des Nicht-Erklärbaren, das hat ja immer auch eine entlastende Funktion, weil etwas gewissermaßen weggeschoben wird, weil es entkonkretisiert wird. Ich zitiere in diesem Zusammenhang immer sehr sehr gerne Robert Antelme, einer der bekanntesten französischen Häftlinge des KZ Buchenwald beziehungsweise eines Außenlagers des KZ Buchenwald in Holzen, in Südniedersachsen und der schrieb zwei Jahre nach seiner Befreiung ein wirklich grandioses Buch mit dem Titel L’espèce humaine (Übersetzt: Das Menschgeschlecht) und dort schreibt er und ich zitiere:
„Unvorstellbar, das ist ein Wort, das sich nicht teilen lässt, das nicht einschränkt, es ist das bequemste Wort. Läuft man mit diesem Wort als Schutzschild umher, diesem Wort der Lehre wird der Schritt sicherer, fester, fängt sich das Gewissen wieder.“
Und ich glaube, wir müssen in einer zukunftsgerichteten, modernen Gedenkstättenarbeit versuchen, diesen Schutzschild gewissermaßen zu dekonstruieren. Wir müssen. Wir wollen nicht versichern, sondern wir wollen verunsichern.
Wir wollen Fragen bei unseren Besucherinnen und Besuchern auslösen und uns vor allen Dingen natürlich mit der Frage beschäftigen, wie es eigentlich zu diesen Verbrechen kommen konnte.
Und wenn man sich mit dieser Frage beschäftigen möchte, dann sollte man nicht a priori sagen, dass man das eigentlich gar nicht erklären kann.
BIHoff: Nun leben wir in regressiven Zeiten. In der Ukraine tobt weiterhin der russische Angriffskrieg.
In Südkorea wollte der Präsident die Opposition ausschalten. In den USA träumt Präsident Trump offen von Gebietserweiterungen der USA in Panama, Grönland und Kanada. Und die Tech-Milliardäre wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg unterwerfen sich ihm. Das hat dramatische Folgen für die sozialen Medien. In Österreich stand mit dem FPÖ-Mann Herbert Kickl erstmals seit Engelbert Dollfus in den 1930er Jahren ein Rechtsextremist knapp davor, Kanzler von Österreich zu werden.
Welche Perspektive sollte angesichts dessen unser Erinnern einnehmen? Das der Opfer oder vielmehr das der Tätergesellschaft?
J.C.Wagner: Man muss tatsächlich sagen, dass das, was gegenwärtig in der Welt passiert im Grunde kompletter Wahnsinn ist. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass mindestens die Hälfte der Menschheit den Verstand verloren hat. Auch deshalb denke ich, ist es unsere Aufgabe, aus der Geschichte zu lernen. Wenn wir aus der Geschichte etwas lernen wollen und glauben daran, dass das möglich ist, werde ich nicht aufgeben, sonst würde ich diesen Job nicht machen.
Wenn wir etwas lernen wollen aus der Geschichte, dann ist es natürlich wichtig auch um die Opfer zu trauern. Das haben die Opfer verdient. Das ist gewissermaßen auch ein ethisches Gebot.
Aber aus der Perspektive des Lernens ist es viel wichtiger, statt nur zu trauern, ohne nachzudenken, dass wir uns mit den Täterinnen und Tätern auseinandersetzen, mit den Mittätern, mit den Profiteuren und auch Zuschauern der Verbrechen.
Das heißt letzten Endes, dass wir uns mit der Frage auseinandersetzen, wie die nationalsozialistische Gesellschaft als eine radikal-rassistisch und antisemitisch formierte Gesellschaft eigentlich funktioniert hat. Es war eine Gesellschaft, die auf zwei Säulen stand: Einerseits Integrationsangebote an die Mehrheitsgesellschaft, die von den Nazis als eine vermeintlich rassisch überlegene Volksgemeinschaft bezeichnet wurde. Auf der anderen Seite die Ausgegrenzten, die Verfolgten und am Ende Ermordeten, die nicht zu der propagierten Volksgemeinschaft gehörten.
Da gab es Wechselbeziehungen zwischen der Ausgrenzung auf der einen Seite und der Inklusion, den integrativen Angeboten auf der anderen Seite. Man denke zum Beispiel an die Verheißungen der Ungleichheit. Den Deutschen wurde erzählt, euch geht's besser, wenn es einem anderen schlechter geht. Darauf beruhen die Ideologien der Ungleichwertigkeit: Dieser Mensch ist etwas wert, der andere ist nichts wert. Und wer nichts wert ist, der muss raus, der gehört nicht dazu.
Im Grunde ist es völlig richtig, was einige Historikerinnen und Historiker gesagt haben, dass die sogenannte Volksgemeinschaft im Grunde eine völkische Leistungsgemeinschaft gewesen ist. Und diese Leistungsideologien, auch die muss man in den Blick nehmen.
Ebenso auch die Kriminalisierungsdiskurse gegenüber Ausgegrenzten. Wenn wir auf die Geschichte der Konzentrationslager blicken, dann werden wir feststellen, dass den Deutschen durch das NS-Regime medial vermittelt wurde, in den KZ’s säßen gefährliche Verbrecher, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsste. Und das haben die Deutschen nur zu gerne geglaubt.
So lassen sich unter anderem auch die sogenannten Kriegsendphase-Verbrechen erklären. Also Massaker an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, an KZ-Häftlingen, auf Todesmärschen zum Beispiel, die das Ziel hatten eine vermeintliche Gefahr zu beseitigen, indem man die gefährlichen Menschen beseitigte, nämlich ermordete.
BIHoff: Wir haben es beginnend dieser Folge von unserem Podcast schon gehört. Der damalige christdemokratische Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt vor 40 Jahren eine bemerkenswerte Rede anlässlich des 8. Mai. Lassen wir einen Teil dieser Rede noch einmal Revue passieren:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai überhaupt erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt viel mehr in seinem Anfang. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, da beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben. Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen.
Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah.
Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.
Wir Älteren müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es so lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet, lassen sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen […]. Lernen sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.“
Sie haben eben, lieber Professor Wagner, schon angedeutet die unterschiedlichen Opfergruppen, die es gegeben hat und auch deren Stigmatisierung, Ausgrenzung, Kriminalisierung. In den vergangenen Jahrzehnten, auch seit der Weizsäcker-Rede, ist es gelungen, auch in der öffentlichen Wahrnehmung bestimmte Opfergruppen stärker in den Vordergrund zu rücken. Dazu gehören zum Beispiel die Wehrdienstverweigerer, Homosexuelle, andere.
Bitte beschreiben Sie doch aus Ihrer Sicht des Historikers, was diese Rede des Bundespräsidenten zu ihrer damaligen Zeit so bemerkenswert machte. Was war nach dieser Rede anders als vorher und welche Wirkung hatte sie damals und hat sie bis heute?
J.C.Wagner: Tatsächlich war Weizsäcker einer der ersten, die überhaupt die Bandbreite der Opfer angesprochen haben. Die Gruppen, die sie gerade erwähnt haben. Besonders bekannt geworden ist seine Rede aber natürlich durch einen anderen Punkt, nämlich dass das Kriegsende explizit als Befreiung vom Nationalsozialismus bezeichnet wurde. Also dieser Topos der Befreiung, der ist im westdeutschen Diskurs sehr stark durch Weizsäcker eingeführt worden. Wobei man nicht vergessen darf, dass auch andere vorher diesen Begriff schon benutzt haben. Theodor Heuss zum Beispiel schon Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre. Und dann jemand, den man in diesem Zusammenhang wahrscheinlich eher nicht erwähnen würde oder vermuten würde, nämlich Helmut Kohl. Das wird manchmal vergessen, dass Helmut Kohl eine fast gleichlautende Rede, zumindest was diese Passagen mit der Befreiung anbelangt, einige Wochen vor der Weizsäcker-Rede gehalten hat. Und zwar anlässlich der Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Bergen-Belsen.
Aber dazwischen lag Bitburg und Bitburg war ein internationaler Skandal. Erinnern wir nochmal: Der damalige amerikanische Präsident Ronald Reagan besuchte Westdeutschland und der Plan war, - vorgeschlagen übrigens von deutscher Seite - auf einem Soldatenfriedhof in Bitburg in Rheinland-Pfalz einen Kranz niederzulegen. Als Versöhnungsgeste zwischen den USA und Deutschland.
Doch das war eben kein normaler Soldatenfriedhof in Bitburg, sondern ein Friedhof, auf dem auch Soldaten der SS lagen. Und eine Versöhnungsgeste auf einem SS-Friedhof, das geht gar nicht. Das hatte selbstverständlich große Proteste hervorgerufen, insbesondere auch bei Überlebenden der KZ’s und bei jüdischen Verbänden. Bundeskanzler Helmut Kohl versuchte dann das Ganze noch auszubügeln, indem unmittelbar vor der Kranzniederlegung in Bitburg der US-Präsident Reagan die Gedenkstätte Bergen-Belsen besuchte. Das war gewissermaßen die zentrale NS-Gedenkstätte der alten Bundesrepublik. Doch dieser instrumentelle Charakter des Regierungsbesuches war sehr offensichtlich, weshalb es vor Ort auch Proteste jüdischer Überlebende gab, die versucht haben, die Gedenkstätte gewissermaßen zu besetzen, um Reagan nicht drauf zu lassen. Kurzum es war ein riesiger Skandal.
Wenige Wochen später war dann der 8. Mai 1985, der 40. Jahrestag des Kriegsendes und der Bundespräsident sollte eine Rede im Bundestag halten. Es war klar, die Schande von Bitburg, die musste gewissermaßen ausgebügelt werden. Es wurde erwartet, dass eine wegweisende Rede gehalten wird und Richard von Weizsäcker war intellektuell dazu sehr in der Lage. Diese Rede, die er damals gehalten hat, löste tatsächlich erinnerungskulturell einen gewissen Paradigmenwechsel aus. Die Bundesrepublik entfernte sich von der Selbstviktimisierung der 1950-1960er Jahre und kam an in einer kritischen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Auch einer Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen in Verbindung mit der Frage, warum so viele Deutsche sich an diesen Verbrechen beteiligt haben. Das hatte Weizsäcker in dieser Rede auch stark gemacht. Insofern war das ein Meilenstein in der Entwicklung hin zu einer reflexiven, einer kritischen Erinnerungskultur.
Allerdings aus 40 Jahren Rückblick aus der Perspektive des Jahres 2025, muss man sagen. Heute würde diese Rede sicherlich ganz anders aufgenommen, weil sie nämlich durchaus auch noch eine Reihe von Angeboten für konservative, für rückwärtsgewandte beinhaltete. Es war sehr wohl auch vom deutschen Leid die Rede, von Flucht und Vertreibung und man konnte durchaus so etwas hineinlesen wie eine Form von Aufrechnung. Eine Aufrechnung übrigens bis dahin – das wäre der Punkt, den ich am stärksten kritisieren würde an der Weizsäcker Rede von 1985 –, dass er ein Zitat aus der jüdischen Tradition verwendete: das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung. Dieses Zitat ist in den Jahren darauf immer wieder bei Gedenkveranstaltungen – gewissermaßen als Slogan – verwendet worden und wie bis heute zum Teil verwendet.
Aus meiner Sicht ist das eine Anmaßung, wenn aus der Post-Täter-Generation oder der Post-Täter-Gesellschaft heraus, die ja Richard von Weizsäcker als Bundespräsident repräsentierte, das Wort der Erlösung in den Raum gebracht wird und damit gewissermaßen den Deutschen angeboten wird: wenn ihr euch der Erinnerung stellt, dann werdet ihr erlöst und dann ist irgendwann Schluss gewissermaßen.
Da sind wir dann bei dem alten Begriff, der längst überwunden ist, der Vergangenheitsbewältigung, den man in den 1960er- und 1970er-Jahren sehr viel benutzt hat, auch in den 1980er-Jahren noch, den heute eigentlich keiner mehr in den Mund nimmt.
BIHoff: Das Video dieser Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker kann man sich im Internet anschauen. Was ich erstaunlich fand, bei dieser Bundestagsfestveranstaltung, dass es in verschiedenen Fraktionen viele Hände gibt, die sich überhaupt nicht zu einem Beifall rühren.
J.C.Wagner: Ja, wobei der mangelnde Beifall eher so auf der rechten Seite des Plenums erfolgte, also seitens CDU, CSU, vielleicht auch bei der FDP. Wir müssen uns vor Augen halten, 1985, da war der Zweite Weltkrieg gerade mal 40 Jahre her. Heute sind wir 80 Jahre, also doppelt so weit davon entfernt. Und 1980, da lebten die Akteure des Jahres 1945 noch, die waren unter uns. Wenn jemand mit 20 Jahren das Kriegsende erlebt hat, dann war der 1985 60 Jahre alt. Das heißt, der arbeitete noch. Der war noch nicht mal Rentner. Es war also eine Gesellschaft, in der zum Beispiel die Wehrmachtsoldaten, wenn sie denn den Krieg überlebt hatten, zum größten Teil noch unter den Lebenden weilten. Nun stellt man sich vor, wie es auf diese Leute wirkt, wenn die Niederlage der eigenen Armee als Befreiung bezeichnet wird. Dann kann man sich, glaube ich, vor Augen halten, dass das durchaus Proteste hervorrief. Und es gab gerade bei der CDU/CSU Politiker, die – ich gendere hier ganz bewusst nicht, weil es Männer waren – Positionen vertreten haben, die man heute eher in extremen Rechten vermuten würde. Also Alfred Dregger zum Beispiel. Der war Chef eines Flügels in der CDU, den man damals als Stahlhelm-Flügel bezeichnet hat. Also nationalkonservativ. Das ist etwas, was in den Jahren danach oder im Grunde ab 1985 oder ab 1990 eigentlich kaum noch denkbar war. Allerdings eine Geisteshaltung, von der ich die Befürchtung habe, dass sie auch jenseits der AfD wieder hervorkriecht.
BIHoff: Ich möchte das aufgreifen und auf die Arbeit, der Gedenkstätte im Hinblick auf die Erinnerungsarbeit nach dem Ableben der Zeitzeugen kommen. Am 27. Januar wurde in Auschwitz der Befreiung des Konzentrationslagers gedacht. Im April in Buchenwald und Mittelbau-Dora. Am 8. Mai feiern wir den 80. Jahrestag der Befreiung, wie wir heute sagen. In einzelnen Ländern ist dieser Tag sogar ein Feiertag. Und dankenswerterweise werden auch in diesen Jahrestag Überlebende der Konzentrationslager noch erleben können.
Gleichwohl verändert sich die Arbeitsweise der Gedenkstätten. Wie wird künftig erinnert werden und wie gelingt es, Generationen, die keinerlei persönliche Kontakte mehr zu Menschen haben, die das Grauen des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Verbrechen erlebten oder die eben auch zur Täter-Generation gehörten, diesen Zivilisationsbruch nahe zu bringen und Ableitungen vornehmen zu können.
J.C.Wagner: Die Vorstellbarkeit von Auschwitz, Buchenwald, etc. ist – ohne in die Gleichsetzung fallen zu wollen – aus deutscher Perspektive eine andere als aus der Perspektive von Ruanda beispielsweise. Der Abschied von der Zeitgenossenschaft ist sowohl ein Verlust als auch die Möglichkeit einer Chance wenn wir über die Vorstellbarkeit des Zivilisationsbruchs reden. Denn dieser Topos der Unvorstellbarkeit war immer auch ein Schutzmechanismus. Gerade für Menschen, die selbst beteiligt gewesen sind und wenn es „nur“ als Zuschauer gewesen ist. Mit dem Abstand zum historischen Geschehen eröffnet sich deshalb vielleicht auch ein Gelegenheitsfenster, sich ohne diese apologetischen, rechtfertigenden Scheuklappen der Geschichte zu öffnen.
Auf jeden Fall aber bedeutet der zunehmende zeitliche Abstand, dass wir Inhalte, Methoden, auch Formate der Gedenkstättenarbeit ändern müssen, auch Begrifflichkeiten. Das fängt schon mit dem Begriff der Erinnerung an. Wir haben gerade drüber gesprochen. Weizsäcker hat diesem Begriff der Erinnerung fast so etwas wie eine sakrale Aufladung gegeben. Ich halte diese sakrale Aufladung tatsächlich für ein Manko unserer aktuellen Erinnerungskultur. Erinnerungen werden quasi als etwas unumstößliches gesehen und alle Regeln der Quellenkritik, auch was Berichte von Zeitzeugen anbelangt, werden über Bord geworfen.
Doch Geschichte ist von Erinnerung zu unterscheiden. Geschichte ist komplexer als die Erinnerung und wenn wir auf Geschichte blicken, dann wenden wir alle Methoden der Quellenkritik an und das gilt für mündliche oder schriftliche Berichte von ehemaligen Täterinnen und Tätern ebenso wie von Überlebenden der Konzentrationslager.
Hinzu kommt, dass wir uns in der eigentlichen Bedeutung des Wortes nur an etwas erinnern können, was wir selbst erlebt haben. Doch an was sollen sich 16-jährige Schülerinnen und Schüler erinnern, die man nach Buchenwald führt, die hier eine Betreuung in Anspruch nehmen? Junge Menschen, die so jung sind, dass mittlerweile ihre Großeltern den Nationalsozialismus schon gar nicht mehr selbst erlebt haben, weil wir es mit der vierten, fünften Generation zu tun haben. Wenn man denen sagt, erinnert euch, dann wirkt das wie eine moralische Überforderung. Man sieht förmlich den erhobenen Zeigefinger. Und wir alle wissen, dass moralische Appelle, das erhobene Zeigefinger nicht unbedingt förderlich sind für einen Lernerfolg gewissermaßen.
Also wir müssen uns von Begrifflichkeiten entfernen. Wir müssen aufhören, nur um die Opfer zu trauern, ohne danach zu fragen, warum sie zu Opfern wurden. Und das heißt vor allen Dingen, wer sie zu Opfern gemacht hat. Wir müssen uns viel stärker mit der Tätergesellschaft auseinandersetzen. Und das alles mit einer Perspektive, die in die Gegenwart gerichtet ist. Indem wir sauber aus der Geschichte herausarbeiten, wie es zu diesen Verbrechen gekommen ist, um dann zu fragen, wie es heute mit Verheißungen der Ungleichheit aussieht, wie es heute mit Leistungsdiskursen aussieht, wie es heute mit Ideologien der Ungleichwertigkeit aussieht oder mit Kriminalisierungsdiskursen gegenüber Ausgegrenzten. Und da wird man jenseits falscher historischer Analogien sehr viele Bezugspunkte zur Gegenwart finden.
BIHoff: Das führt uns zu der Eröffnung des Museums Zwangsarbeit unter dem Dach der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, das im vergangenen Jahr in Weimar eröffnet hat. Es hat seinen Sitz im sogenannten Gauforum. Hierbei handelt es sich um einen 1936 errichteten Gebäudekomplex der nationalsozialistischen Gauleitung unter dem NS-Gauführer Fritz Sauckel, der auch für die Organisation und Umsetzung des Systems der Zwangsarbeit verantwortlich war.
Dieser Gebäudekomplex steht gegenüber dem neu errichteten Bauhaus Museum der Klassik Stiftung Weimar, beziehungsweise das Bauhausmuseum ist quasi in Konfrontation zu diesem NS-GAU-Forum erbaut worden. Gemeinsam mit dem Bauhaus Museum, dem benachbarten Neuen Museum und weiteren Einrichtungen, wie z.B. dem Haus der Weimarer Republik sowie Installationen, bildet das Museum Zwangsarbeit das Quartier der Moderne, das den Bogen vom ausgehenden 19. Jahrhundert über die Brüche der Moderne bis zur Gegenwart spannt. Ich weiß aus unserer Zusammenarbeit, dass Ihnen die Errichtung des Museums Zwangsarbeit auch deshalb so wichtig ist, weil es die Möglichkeit gibt, sich mit einer Tätergesellschaft und ihrer Alltäglichkeit auseinanderzusetzen. Ein Stück weit auch mit der Banalität des Grauens, um hier Hannah Arendt zu zitieren. Und Sie haben gerade deutlich gemacht, dass Ihnen eine Überforderungsdidaktik, die, glaube ich, wir beide noch in unseren ersten Besuchen von Konzentrationslagern erlebt haben, und zwar in Ost wie in West, unzeitgemäß erscheint.
J.C.Wagner: Das Museum Zwangsarbeit thematisiert diese spezifische Form der Ausbeutung und Entrechtung im Nationalsozialismus in allen möglichen Facetten. Die verschiedenen Formen der Zwangsarbeit, die diversen Kategorien von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, von jüdischer Zwangsarbeit über Sinti und Roma, kriegsgefangene KZ-Häftlinge bis hin zu den Millionen zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die insbesondere aus Osteuropa nach Deutschland verschleppt wurden. Aber auch die Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten wird in der Ausstellung erzählt. Über diese Erörterung des Systems der Zwangsarbeit zeigt dieses neue Museum aber eigentlich, wie die nationalsozialistische Gesellschaft funktioniert hat. Eine Gesellschaft, die eine Ausschlussgesellschaft ist, die integrative Angebote an die Mehrheitsgesellschaft unterbreitete. Auf Kosten dieses Heeres der Arbeitsvölker, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden.
Das System der Zwangsarbeit bot den Deutschen konkrete Aufstiegserlebnisse. Indem der normale Bauer plötzlich einen Zwangsarbeiter hatte. Gewissermaßen ein Sklave, mit dem er machen konnte, was er wollte. Indem kinderreiche Familien, eine polnische oder sowjetische Zwangsarbeiterin als Haushaltshilfe bekamen. Eine Erfahrung, die normale Menschen außerhalb der Oberschicht oder der oberen Mittelschicht nie gemacht hätten. Das waren reale Aufstiegserfahrungen, aber auch subjektive, gefühlte Aufstiegserfahrungen, einfach indem ein Arbeiter in der Fabrik merkte, plötzlich war die soziale Leiter nach unten verlängert und es gab jemand, auf den er gewissermaßen trampeln konnte, der unter ihm stand. Damit entfaltete sich eine integrative Wirkung in der deutschen Gesellschaft, in die Mehrheitsgesellschaft hinein und das erzählen wir in dieser Ausstellung und wirklich in der ganzen Bandbreite, aber eben nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern wir erzählen zunächst mal, wie diese Gesellschaft eigentlich funktioniert hat. Zum Beispiel, indem wir demütigende Umzüge thematisieren in den 30er Jahren, in dem gewissermaßen dieses System der Ausgrenzung und Verfolgung eingeübt wurde und die Deutschen noch an dieses System gewöhnt wurden. Demütigende Umzüge von Frauen, denen unterstellt wurde, intime Kontakte zu Juden gehabt zu haben und die dann durch 1935/1936 durch deutsche Städte geführt werden, dann werden ihnen die Haare abrasiert. Sie müssen Schilder um den Hals tragen, auf denen steht, „Ich bin eine Rassenschänderin, ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen“ und das begegnet uns dann auch in der Ausstellung in der Kriegszeit wieder.
Da geht es dann nicht um vermeintliche Rassenschande mit Juden, sondern um unerlaubte intime Kontakte, also angebliche intime Kontakte zu französischen Kriegsgefangenen zum Beispiel oder zu sowjetischen und polnischen Zwangsarbeitern. Und da sieht man dann Filmaufnahmen und auch Fotos in der Ausstellung, wie auf Marktplätzen, auch in Thüringen, in Eisenach zum Beispiel oder in Altenburg, eine johlende Menge auf dem Marktplatz steht und einer deutschen Frau werden die Haare rasiert und sie hat auf dem Schild um den Hals steht drauf, „Ich schlief mit einem Judenbengel“ oder „Ich schlief mit einem Polenbengel“. Und es wird deutlich, dass das Verbrechen waren, die eben nicht irgendwo im vermeintlich fernen Osten oder hinter Wäldern und Bergen versteckt begangen wurden, sondern inmitten der deutschen Gesellschaft unter Beteiligung von Millionen Deutschen, die durch diese Verbrechen auch profitiert haben. Und ich glaube, dieser Profit, die eigenen Aufstiegserfahrungen und die Mitwisserschaft waren der Kitt, der die Kriegsgesellschaft zusammengehalten hat. Das ist eine ganz wesentliche Erklärung dafür, warum es gegen Ende des Krieges nicht zu etwas kam, wie wir es am Ende des Ersten Weltkrieges erlebt haben, nämlich einer Revolution, einem Aufbegehren gegen die Obrigkeit, sondern tatsächlich hielt die Mitwisserschaft, hielt die Komplizenschaft, die Gesellschaft zusammen. Deshalb haben die meisten Deutschen mehr oder weniger bereitwillig bis zum 8. Mai 1945 mitgemacht.
Da sind wir wieder bei Weizsäcker. Das ist etwas, was er angesprochen hat. Das hat vielen 1985 wehgetan. Deswegen gab es dann von rechts außen, aber auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus, Proteste gegen die Befreiungsrede von Weizsäcker.
BIHoff: Ich bin häufig selbst mit der Frage konfrontiert und denke, dass meine Kinder sie ähnlich stellen werden: Was hätte ich eigentlich getan?
Diese Frage ist mir beim Besuch des Museums Zwangsarbeit ebenso in den Sinn gekommen wie bei einer Veranstaltung, die wir beide gemeinsam besucht hatten in Mühlhausen. Dort wurde eine Studie vorgestellt, die das System der Zwangsarbeit in der thüringischen Kleinstadt Mühlhausen beschrieb. Dieses jeder konnte es sehen, keiner konnte behaupten, er hätte es nicht gewusst, führt uns ja wiederum zu Hannah Arendt, der Philosophin, und zu der Frage einer Schrift, die bei ihr lautet die Verantwortung des Einzelnen in der Diktatur.
Wie kommuniziert man eine solche Frage, ohne wieder zu moralisch erhobenen Zeigefingern zu kommen?
J.C.Wagner: Indem wir sauber aus der Geschichte heraus argumentieren und uns zunächst einmal ansehen, wie es überhaupt zu den nationalsozialistischen Verbrechen gekommen ist. Dabei immer ausgehend vom konkreten historischen Ort.
Das heißt hier in Buchenwald beschäftigen uns mit der Geschichte dessen, was hier in Buchenwald geschehen ist, mit dem Ort Dora mit dem, was in Dora geschehen ist. Dabei wollen wir nicht stehenbleiben bei dem Begriff, bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Sondern wenn wir gelernt haben, was in der Geschichte geschehen ist und wie es bzw. was es mit der Motivationsstruktur der Täter:innen und Mittäter:innen, den Profiteuren der NS-Verbrechen auf sich hat, dann müssen die Gegenwartsbezüge hergestellt werden. Wenn es ideal läuft, stellen diejenigen, mit denen wir Bildungsarbeit machen, diese Gegenwartsbezüge selbst her. Das heißt, wenn eine Betreuung einer Schulklasse zum Beispiel gut läuft, dann stellen die diese Frage selbst und müssen gar nicht in die Richtung gelenkt werden. Denn das wollen wir nicht. Wir machen ganz bewusst keine Überwältigung der Besucher:innen, sondern versuchen uns gemeinsam mit ihnen multiperspektivisch der Geschichte anzunähern.
Dabei gibt es Möglichkeiten, Fragen auch herauszukitzeln. Ein gutes Beispiel dafür ist das Outdoor-Lagermodell des ehemaligen KZ-Geländes in der Gedenkstätte Mittelbau Dora, das vor dem Museumsgebäude steht. Das haben wir 2006 ganz bewusst an eine Stelle positioniert, wo man einen guten Überblick hat, nicht nur über das Lagergelände, sondern auch zur Altstadt von Nordhausen. Ich hab es selbst dutzendfach erlebt, wenn ich dort mit Gruppen stand, dass wenn man eine kurze topografische Orientierung zum Lager gab, sofort die Frage kam: „was ist denn das da hinten?“
Und dann sagt man: „Das ist das Krankenhaus von Nordhausen, das man dort am gegenüberliegenden Hang sieht. Und dort sind die Kirchtürme von Nordhausen.“ Und dann kommt sofort von den Besucher:innen die Feststellung, dass das unglaublich nah ist, verbunden mit der Frage, ob die Leute das Lager denn gar nicht gesehen haben und was dort passierte? Das ist natürlich das Beste, was einem passieren kann, weil dann kann man erzählen.
BIHoff: Sie haben als Topos eingeführt, aus der Geschichte heraus zu argumentieren. Nun ist das Lager Buchenwald ja selbst eines, das historisch zum Gegenstand von unterschiedlichen Überlagerungen geworden ist. Wir haben auf der einen Seite die KZ Mittelbau-Dora und Buchenwald.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurde in Buchenwald durch die sowjetische Besatzungsmacht ein sogenanntes Speziallager eingerichtet. Und wir haben eine Gedenkstätte, die in der DDR eingerichtet bereits architektonisch-künstlerisch die spezifische Erinnerungskultur der DDR als antifaschistischer Staat repräsentiert und dabei unter bewusster Auslassung vor allem den kommunistischen Widerstand im Konzentrationslager heroisiert. Wie gelingt es, diese unterschiedlichen Bezüge des historischen Ortes zu erläutern. Bei denen wir über die große Zahl der Außenlager der KZ noch gar nicht gesprochen. Wieviele Geschichten müssen Sie und Ihr Team erzählen, die vielen gar nicht präsent sind, die verschüttete Erinnerung darstellen?
J.C.Wagner: Wir sind jetzt gerade dabei, die Dauerausstellung zur Geschichte des Speziallagers Buchenwald komplett neu zu erarbeiten. Die soll dann Ende 2026 eröffnet werden. Tatsächlich ist es nötig, sich hier vor Ort mit den drei Schichten zu beschäftigen. Also der Zeit des Konzentrationslagers, des Speziallagers, aber auch der DDR-Gedenkstätte. Und je nachdem, mit welchen Gruppen man arbeitet, ist meine Erfahrung die, dass die Frage, wie nach 1945 an das Lager erinnert wurde in Ost und West, für manche Gruppen ein viel besserer Opener, um sich mit der Geschichte des Ortes zu beschäftigen, als mit dem KZ anzufangen. Das heißt zunächst mal mit der Frage anzufangen, warum sieht es hier eigentlich so aus, wie es jetzt gerade aussieht? Warum steht am Südhang des Ettersbergs so ein riesiger stalinistisch anmutender Turm? Warum steht da eine riesige Bronzeplastik mit kämpfenden Figuren? Warum gibt es drei riesige Trichter, die aussehen wie so neo-germanische Totenburgen? Und über die Frage der Repräsentation der NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit merkt man natürlich, dass das viel dichter dran ist als das Verbrechen selbst. Weil letzten Endes wir ja auch heute vor der Frage stehen, wie wir das Gelände gestalten. Das fängt an mit Infotafeln, das fängt aber auch mit Denkmälern an, die hier im Gelände stehen. Manche sind 70 Jahre alt, andere sind vielleicht erst fünf Jahre alt. Das Jüngste ist glaube ich zwei Jahre alt.
Und die haben auch verschiedene inhaltliche Schwerpunktsetzungen. Auch die Frage, um ein Beispiel zu nennen, wie wird eigentlich hier am Ort an jüdische Überlebende oder jüdische Häftlinge erinnert. In der DDR spielte das keine große Rolle. Es gibt diese großen Ringgräber, von denen ich gerade sprach. Und da steht eine Infotafel auf der steht: hier liegt die Asche von 3000 europäischen Patrioten. Da steht kein Wort von Juden. Mit den Patrioten sind aber eigentlich Juden gemeint. Das muss man erklären.
Ebenso die Frage, wie sich die beiden deutschen Staaten gewissermaßen mit der Geschichte des NS auseinandergesetzt haben oder eben nicht auseinandersetzten. Im Grunde war es eine wechselseitige Schuldprojektion. In der DDR sagte man, die Schuldigen sitzen im Westen. Im Westen sagte man, naja, der Nationalsozialismus ist zwar vorbei, aber jetzt haben wir die neuen KZ-Herren, die roten KZ-Herren im Osten und verwies auf das Speziallager zum Beispiel. Das zeigt uns, dass der Blick auf die Geschichte immer ein Aushandlungsprozess ist, ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess und Geschichte immer wieder neu konstruiert wird und das hört auch in unserer Gegenwart nicht auf. Das wird in der Zukunft genauso sein.
BIHoff: Ich hab vor einigen Jahren erst gelernt, dass wenn man ins Holocaust Memorial in den USA kommt, gar nicht Buchenwald, sondern ein Ort ein Stückchen weiter von hier, nämlich der in Deutschland wahrscheinlich sehr sehr unbekannte Ort Ohrdruf, als zentraler Eingangsort für die NS-Verbrechen erinnert wird. Warum gerade Ohrdruf?
J.C.Wagner: Ohrdruf war einige Tage vor der Befreiung von Buchenwald im April 1945 der erste Ort nationalsozialistischer Massenverbrechen, das erste Konzentrationslager, nämlich ein Außenlager von Buchenwald, das von amerikanischen Truppen befreit wurde. Und die meisten Häftlinge waren vor der Befreiung auf Räumungstransporte geschickt worden und nach Buchenwald gebracht worden. Viele sind auf diesen Räumungstransporten, die Todesmärsche gewesen sind, ums Leben gekommen. Und einige, die nicht mehr transportfähig waren, sind von der SS vor Ort erschossen worden und zum Teil auch verbrannt worden und die Leichen lagen dort herum. Als die amerikanischen Truppen in Ohrdruf ankamen, traf sie gewissermaßen der Schock. Das waren hartgesottene Frontsoldaten, die als erste Ohrdruf erreichten und die sahen Dinge, die sie in ihrem schlimmsten Albtraum noch nicht gesehen haben. Das hat sich tief nicht nur in das Gedächtnis der jeweiligen Soldaten, sondern tief auch in das kollektive Gedächtnis der USA eingegraben. So wie dann einige Tage später auch die Bilder aus dem befreiten KZ Buchenwald. Genauso wie bei den Briten die Fotos und Filmaufnahmen aus dem befreiten KZ Bergen-Belsen.
Weil Ohrdruf das erste Lager war, das befreit wurde, ist das so dermaßen tief im kollektiven Gedächtnis eingesunken. Das hat viele Amerikaner betroffen. Einer der prominentesten amerikanischen Politiker, der etwas mit Ohrdruf zu tun hat, ist Barack Obama. Der Onkel des ehemaligen US-Präsidenten gehörte zu den Befreiern von Ohrdruf. Das ist übrigens der Grund, weshalb Obama kurz nach Beginn seines Amtsantrittes gleich Buchenwald besucht hat.
BIHoff: Es gibt einen Ort in dieser Gedenkstätte Buchenwald, in der auch bei Frost und Schnee die Kälte nicht haften bleibt. Ich empfinde diesen Ort als sehr besonders. Können Sie dazu bitte etwas erzählen?
J.C.Wagner: Das ist tatsächlich ein sehr beeindruckendes Denkmal, das 1995 geschaffen wurde. Die Rede ist von der Gedenktafel für alle Häftlinge Buchenwalds, die sich auf dem Appellplatz befindet. Auf dem früheren Appellplatz. Bis 1990 fanden Gedenkveranstaltungen eigentlich immer nur an der DDR-Mahnmalanlage von 1958 statt, über die wir gerade eben gesprochen haben. Vor dem Glockenturm und der Bronzeplastik des Künstlers Fritz Cremer. Nach dem Ende der DDR suchte die neue Gedenkstätte in ihrem Neukonzeptionsprozess nach einem neuen Ort, an dem Gedenkveranstaltungen stattfinden, an dem tatsächlich an alle Opfer von Buchenwald erinnert wird. Als Ort kam man auf den Standort des ersten Denkmals, das für Buchenwald überhaupt errichtet wurde. Ein hölzerner Obelisk, der an die Toten von Buchenwald erinnerte, der Zentrum einer Gedenkveranstaltung war, die am 19. April 1945 abgehalten wurde, also nur acht Tage nach der Befreiung.
- Alle Rechte: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
Das muss man sich mal vorstellen, acht Tage nach der Befreiung, zu einem Zeitpunkt, als in Berlin noch gekämpft wird, Hitler lebt noch, wird in Buchenwald die erste Gedenkveranstaltung für die Opfer von Buchenwald abgehalten. Angetreten sind alle überlebenden Häftlinge, jeweils in nationalen Blogs, also die Franzosen, die Polen, die sowjetischen Häftlinge und so weiter und so fort, und die Deutschen und versammelt haben sie sich um diesen hölzernen Obelisken, der improvisiert das Denkmal für die Toten von Buchenwald ist.
Dieses Denkmal wurde dann in den Wochen danach wieder demontiert, spätestens im Sommer 1945, als dann das Lager als Speziallager von den sowjetischen Besatzungskräften benutzt wurde, aber um an dieses erste Denkmal gewissermaßen zu erinnern und gleichzeitig an alle Opfer von Buchenwald zu erinnern, wurde gesagt, okay, hier wollen wir ein zentrales Gedenkzeichen für die Opfer von Buchenwald haben. Es wurde ein Architektenwettbewerb ausgelobt und gewonnen hat ihn Herr Hoheisel, ein bekannter Künstler aus Kassel. Er hatte die Idee, auf der Grundfläche des ehemaligen holzenden Obelisken eine beheizte Gedenk-Tafel anzubringen, eine horizontale Gedenk-Tafel, in der die Länder vermerkt sind, aus denen Häftlinge nach Buchenwald verschleppt wurden. Auf der aber auch auf die jüdischen Häftlinge hingewiesen wird und an die Sinti und Roma erinnert wird. Diese Gedenk-Tafel ist Sommer wie Winter auf 37 Grad erwärmt. Im Sommer merkt man das nicht richtig, aber im Winter. Wenn wir bei Schnee dort hinuntergehen würden, dann würden wir feststellen, es gibt dort eine zweimal zwei Meter große Fläche, die frei ist vom Schnee. Und wenn man die Hand drauflegt, dann spürt man die menschliche Wärme und den Verlust dessen, was der Tod von 56.000 Menschen bedeutet.
BIHoff: Ich möchte einen weiteren Ort ansprechen, der für einen Podcast wie Kunst der Freiheit bedeutsam ist, aber nicht sofort mit Buchenwald assoziiert wird oder mit einem Konzentrationslager. Die Gedenkstätte hat eine Kunstsammlung. Wie kommt ein Konzentrationslager zu einer Kunstsammlung? Und wie geht man mit dieser Kunst um?
J.C.Wagner: Tatsächlich verfügt die Gedenkstätte Buchenwald über die größte Sammlung von Kunst aus und über Buchenwald aus einem Konzentrationslager in ganz Deutschland, vielleicht sogar weltweit. Das hat mit der DDR-Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald zu tun. Buchenwald war, gewissermaßen das Nationaldenkmal der DDR. Und spätestens Anfang der 1970er Jahre, also etwa zwölf Jahre nach Gründung der Gedenkstätte, fing man an hier sehr professionell zu arbeiten. Es gab eine Sammlung für Exponate aus der Lagerzeit, aber auch eine Kunstsammlung, die seit dieser Zeit angelegt wurde, beraten durch das Museum für deutsche Geschichte, das heutige Deutsche Historische Museum in Berlin. Seinerzeit wurde mit wissenschaftlichen und hohen musealen Standards eine Sammlung angelegt. Darin enthalten sind Kunstwerke, die in Buchenwald bis 1945 heimlich, teilweise auch mehr oder weniger mit Wissen der SS angelegt wurden. Das sind sowohl Häftlingszeichnungen als auch Schnitzereien. Nach 1945 begann die Verarbeitung der Haft auch über den Weg der Kunst. Unter den 280.000 Menschen, die nach Buchenwald verschleppt wurden, waren namhafte Künstler:innen. Vor allem sie versuchten nach 1945, ihre Lagererfahrung mit künstlerischen Methoden zu verarbeiten. Hierzu gehörten die Mittel der bildnerischen Kunst aber auch Literatur zum Beispiel. Denken Sie an die Werke von Imre Kertesz, von Jorge Semprun, von Ivani Ivani, vielen anderen, aber eben auch Bildhauer, die sich mit der Geschichte Buchenwalds beschäftigt haben.
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Die Kunstsammlung umfasst also ein großes Kaleidoskop unterschiedlicher Kunstwerke und -formen aus der Zeit der Haft und nach der Haft, bis hin zu Kunst, die hier auch gesammelt wurde, von Personen, die selbst biografisch mit Buchenwald gar nichts zu tun haben, sich trotzdem mit Buchenwald auseinandergesetzt haben. Wir verfügen durch all diese Werke über eine großartige Sammlung, von deren Objekten wir einen kleinen Teil in unserer Kunstausstellung, in der ehemaligen Desinfektion des Lagers präsentieren. Die Kunstausstellung wurde immer wieder überarbeitet und wird im Grunde laufend angepasst, weil auch heute immer wieder neue Kunstwerke zu uns gelangen. Teilweise auch Kunstwerke, die aus der Zeit von vor 1945 stammen. Einer der beeindruckendsten Fälle dieser Art, gehört zu meiner eigenen Biografie hier in der Stiftung und ereignete sich 2012. Seinerzeit wurde uns eine Mappe übergeben mit etwa 200 Porträtzeichnungen von KZ-Häftlingen aus einem Außenlager von Buchenwald. Das waren Zeichnungen, von denen wir wussten, dass es sie bis 1945 gab, die aber auf einem Todesmarsch Richtung Bergen-Belsen verschwunden sind, verloren gegangen sind. Eigentlich galten sie als verloren. Und plötzlich waren sie wieder da. Das war ein großartiger Moment.
Ein anderer Fund, den ich selbst gemacht habe, war die Wiederentdeckung von Gipsfresken zwei französischer Künstler aus dem Außenlager Erich-Julius-Hütte. Das ist ein Lagerort, der direkt auf der späteren deutsch-deutschen Grenze lag. Im Rahmen des Grenzausbaus durch die DDR-Grenztruppen wurden 1958 die ehemaligen Häftlingsunterkünfte zerstört und abgetragen, um Platz für den Todesstreifen zu schaffen und freies Schussfeld zu haben. Im Rahmen dieses Abrisses wurden durch das Museum für deutsche Geschichte die Gipsfresken aus diesen Gebäuden sichergestellt, die wirklich von zumindest in einem Fall eine hohe künstlerische Qualität haben, in einem Fall eine eher dokumentierende Qualität. Dargestellt sind Märchenszenen und eine Flusslandschaft. Die wurden nun nach Ost-Berlin gebracht und dort aber nur unzureichend verzeichnet und lagen im Depot des Deutschen Historischen Museums. Im Onlineverzeichnis dieses Museums habe ich diese Artefakte, gewissermaßen wiedergefunden. Verzeichnet waren die Objekte mit dem Hinweis Kunst aus Ellrich (Thüringen) circa 1900 bis 1945. Daraufhin habe ich mich an das Museum gewandt und habe mir Fotos davon schicken lassen. Und siehe da, es waren die Fresken, die in den 50er Jahren noch von überlebenden Häftlingen bei einer Reise nach Ellrich fotografiert worden waren. So konnten wir feststellen, dass es sich um die Objekte handelte, die dann sichergestellt worden waren, um sie vor dem Verlust zu retten. So passiert es manchmal, dass wir noch heute durch Zufälle neue Objekte für die Kunstsammlung gewinnen können.
Manchmal, auch in professionellen Museen, verliert sich das dort vorhandene Wissen. Wenn die Kuratorin in Rente geht und bestimmte Objekte zu bestimmten Zeitpunkten nicht vernünftig oder aus heutiger Sicht nicht mehr vernünftig verzeichnet wurden, dann weiß man nicht mehr, wo das herkam. In unserem Fall konnten wir die Herkunft rekonstruieren. Diese zwei Kunstwerke werden übrigens auch in der jetzigen Kunstausstellung hier in Buchenwald präsentiert.
BIHoff: Diese Darstellung ermöglicht eine Sicht auf die Gedenkstätte und deren Arbeit jenseits der Vorstellungen, die gemeinhin mit einer KZ-Gedenkstätte assoziiert werden. Gestatten Sie mir bitte zum Abschluss eine persönliche Frage. Sie sind, Prof. Wagner, von ihrer Persönlichkeit her ein fröhlicher Mensch. Wie bleibt man zuversichtlich und woraus schöpft man Kraft, wenn der tägliche Arbeitsort das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald ist, in den sich die unvorstellbaren Schrecken unauslöschlich eingeschrieben haben? Wie resilient muss man sein, um all diesen Schmerz und diese Trauer nicht in sich eindringen, zur eigenen Persönlichkeit werden zu lassen?
J.C.Wagner: Ich glaube, man braucht einen gesunden Mittelweg zwischen professioneller Distanz und der Fähigkeit zur Empathie und Dinge auch an sich heranzulassen. Man braucht tatsächlich beides – Distanz und Empathie. Allein mit professioneller Distanz würde man so etwas wie ein „Schreibtischtäter“ werden. Dann ist man fehl am Platze. Genauso falsch wäre es aber, sich erdrücken zu lassen von dem Grauen, das hier geschehen ist.
Wir erleben das immer mal wieder, dass es jüngere Kolleginnen oder Kollegen gibt, die dann auch nach einer gewissen Zeit sagen, nein das ist nichts für mich. Ich habe dafür Verständnis und empfehle dann, sich einen anderen Job in einem „normalen Museum“ zu suchen, das sich einer anderen zeitlichen Epoche mit weniger Grauen und weniger Tod widmet. Es ist wichtig, sich dem rechtzeitig bewusst zu werden und kein Ausdruck von Stärke oder Schwäche.
Auf der anderen Seite wäre es nämlich auch schwierig, wenn man merken würde, dass einen die Geschichte dieses Ortes nicht oder nicht mehr berührt. Auch mich springt das manchmal an – bis heute. Dann ist eine gewisse Form von professioneller Distanz hilfreich. Diejenige Distanz, wie sie auch jemand braucht, der im Hospiz arbeitet, im Krankenhaus mit dem Tod konfrontiert ist oder eine Psychologin, die im Dreiviertelstunden-Rhythmus schreckliche und traumatisierende Lebensgeschichten hört. Und man braucht auch ein gesundes Umfeld, das einen auch wieder erdet.
BIHoff: Vielen Dank für dieses Gespräch.
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Hier geht's zur Folge Erinnerung und Verantwortung: 80 Jahre nach der Befreiung meines Podcasts Kunst der Freiheit vom 17. Januar 2025, in dem das Gespräch mit Prof. Dr. Jens-Christian Wagner nachgehört werden kann.
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Zur Person:
Jens-Christian Wagner studiert in Göttingen und Santiago der Schule und promovierte im Jahr 99 mit einer Studie zur Geschichte des KZ Mittelbau-Dora.
Er leitete die Gedenkstätte Mittelbau-Dora dann auf folgerichtig in den Jahren 2001 bis 2014, bevor er nach Niedersachsen wechselte, um als Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen zu wirken.
Seit Oktober 2020 ist er wieder zurück in Thüringen, als Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Er gilt als einer der öffentlichkeitswirksamsten Kritiker der neuen Rechten, erteilte der AfD in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Hausverbot und ist aufgrund seines Engagements für Humanität und Demokratie Zielscheibe rechter Provokation bis hin zu offenen Morddrohungen.