01.04.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Eine Welt zu verlieren, Ketten zu gewinnen.

„Weil es uns leichter fällt, uns das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, werden wir ihm ausgeliefert bleiben; weil wir etwas nicht tun, glauben wir, dass wir es ohnehin nicht tun könnten.“

Dass man mit einem prägnanten Satz am Beginn eines Buches die Leser:innen fesseln sollte, gilt als alte verlegerische Weisheit. Pierre-Héli Monot hingegen lässt einen solchen Satz eher beiläufig fallen – auf Seite 14 seines Buches „Hundert Jahre Zärtlichkeit. Surrealismus, Bürgertum, Revolution“.

Offenkundig hielt Monot einen solchen Eisbrecher-Satz nicht für nötig. Wer den Leser:innen zumutet, seiner Argumentation „weitgehend aufs Wort“ zu glauben, kann es sich leisten, die eigene These zugleich als „in der kulturgeschichtlichen Wahrheit verworfen und im Namen politischer Möglichkeiten geduldet“ (S. 23) zu präsentieren.

Vielleicht würde Monot, der gegenwärtig an der LMU München Politische Theorie, Ästhetik und Public Humanities lehrt, auch fragen, warum man nur den erstbesten der Eisbrecher-Sätze auswählt. Und er hätte damit Recht, denn auf den 200 Seiten seiner meinungsstarken Analyse finden sich eine Vielzahl herausragender Formulierungen, wunderbarer Anekdoten und äußerst kluger Gedanken. Umso ärgerlicher, dass manche provokante Äußerung im Buch nur deshalb das Lektorat überdauert zu haben scheint, weil der Autor sich von ihr partout nicht trennen wollte, auch wenn sich Monot dadurch selbst zu widersprechen scheint. Ein Beispiel führe ich in meiner Besprechung der Ausstellung „Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus“ im Münchner Lenbachhaus auf.

Wer Hundert Jahre Zärtlichkeit in der Erwartung zur Hand nimmt, anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Surrealismus eine Kulturgeschichte dieser künstlerischen und politischen Strömung zu erhalten, dürfte enttäuscht sein. Monots Interesse gilt weniger der Geschichte des Surrealismus als vielmehr der These, dass die Surrealisten zu Beginn der 1920er Jahre – im Schatten des Ersten Weltkriegs – als einzige Bewegung zugleich bürgerlich waren und sich revolutionär gegen das Bürgertum wandten, also „das doppelte Kriterium einer bürgerlichen und revolutionären Bewegung gegen das Bürgertum erfüllten“ (S. 12).

„Die Schlusszeilen des Manifests der Kommunistischen Partei betonen 1848 noch, die Proletarier hätten in einer kommunistischen Revolution nichts zu verlieren ‚als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.‘ Für die Surrealisten – wie einst für Marx selbst – war es 1924 andersherum: eine Welt zu verlieren, Ketten zu gewinnen. Sie waren zumindest bereit, sich selbst als Klassengebilde zu schaden.“ (S. 28)

Seither ist keine bürgerlich-revolutionäre Bewegung gegen das Bürgertum mehr entstanden, bedauert Monot. Mehr noch, die Kritik der bürgerlichen Heuchelei, als einer klassischen Figur der politischen Philosophie, ist in der Mottenkammer der politischen Theorie verschwunden. Monot hat sie dort herausgeholt, einmal kräftig ausgeschüttelt und lässt die Leser:innen seines Buches daran teilhaben, was dabei alles zu entdecken ist.

Progressiven Leser:innen aus neo-ökologischen oder postmateriellen Milieus sei geraten, bei der Lektüre das Vorwurfsohr auf Snooze zu stellen. Monots Analyse schont ihre Selbstbilder nicht – und das aus guten Gründen.

Seine Analyse greift über die historische Auseinandersetzung mit dem Surrealismus hinaus und formuliert eine grundsätzliche Kritik an der gesellschaftlichen Rolle der mittleren Bourgeoisie. Er knüpft an die marxistische Unterscheidung von „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ an, erweitert diese jedoch um die Beobachtung, dass sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts – entgegen der Prognose von Marx und Engels – eine ökonomisch, kulturell und ideologisch stabilisierte Mittelschicht herausgebildet hat. Diese „mittlere Bourgeoisie“ agiert laut Monot nicht nur als Vermittlerin zwischen Kapital und Arbeit, sondern beansprucht zugleich kulturelle Hegemonie innerhalb emanzipatorischer Bewegungen. Theoretische Anknüpfungspunkte finden sich dabei unter anderem bei Nicos Poulantzas, der die ambivalente Klassenlage der neuen Mittelschichten analysierte, sowie bei Pierre Bourdieu, der deren kulturelle Distinktionsstrategien offenlegte. Monot positioniert sich dezidiert gegen die „Vormundschaft“ dieser gesellschaftlichen Gruppe, die – so seine These – revolutionäre Bewegungen immer wieder neutralisiere, indem sie deren Radikalität in kulturelle oder moralische Diskurse überführe. Seine Argumentation korrespondiert damit auch mit späteren Kritiken, etwa von Frantz Fanon oder Nancy Fraser, die die politischen Ambivalenzen intellektueller Mittelschichten in sozialen Kämpfen thematisierten.  

Während diese Überlegungen das Kapitel 6 ‘In eigener Sache‘: Bürgerlicher Bürgerhass prägen und zu den im Schlusskapitel aufgezeigten Figuren einer Politik der Möglichkeiten hinführen, sind die vorhergehenden Kapitel vom zentralen Motiv in Monots Analyse geprägt: Der Kritik an der bürgerlichen Heuchelei – einer Figur, die bereits bei Rousseau und Marx auftauchte und im Surrealismus eine radikale ästhetisch-politische Zuspitzung erfuhr. Die Surrealisten verstanden die bürgerliche Werteordnung als ideologische Fassade, die Freiheit und Moralität predigte, während sie soziale Ungleichheit, Kolonialismus und kulturelle Ausgrenzung stabilisierte. Hätte Monot eine politische Kulturgeschichte des Surrealismus geschrieben, hätte er deutlich gemacht, wie dessen Protagonist:innen diese Heuchelei entlarvten und ästhetisch unterliefen. Indem sie das vermeintlich Vernünftige mit dem Unbewussten, dem Politischen mit dem Poetischen kurzschlossen. Sie ergänzten auf diese Weise die antikapitalistische Kritik um eine Dimension, die bis heute in politischen Bewegungen häufig fehlt: die Reflexion der eigenen kulturellen und moralischen Privilegien als Teil bürgerlicher Herrschaftspraxis. Monot verzichtet auf die Herleitung und geht den Schritt weiter. Sein Buch ist zu lesen als die bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus kritische Reflexion dieser Privilegien als Teil bürgerlicher Herrschaftspraxis. Und deshalb bedeutsam. Dies nachzuvollziehen ist hilfreich, um zu verstehen, warum manche Besprechungen dieses klugen Buches an der Oberfläche geblieben sind. Horkheimer paraphrasierend: Wer über die bürgerliche Heuchelei nicht sprechen will, sollte von progressiver Politik schweigen.

Präsentiert Monot im Schlusskapitel Im Angesicht apokalyptischer Aussichten: Figuren einer Politik der Möglichkeiten? Erwartungsgemäß nicht. Oder wenn doch dann in einer Anekdote über Yannis Varoufakis und der historischen Analogie über die Volksfront in Frankreich 1936 versteckt. Jacques Danos und Marcel Gibelin gingen in ihrer 1982 beim Junius-Verlag erschienen Geschichte des Generalstreiks und der Linksregierung im Juni 1936 auf den Zusammenhang zwischen proletarischem Kampf und der Gewinnung der Mittelklassen ein. Ihr Fazit mit den Worten des seinerzeitigen Gewerkschaftsvorsitzenden Jouhaux: 

„Die Zeiten sind vorbei, wo man, um, die Unterstützung der Mittelklassen zu gewinnen, nur den eigenen Wein etwas verdünnte. In unseren Tagen lassen sich die Mittelklassen viel leichter durch ein Programm mitreißen, das zwar kühn ist, ihnen aber in ihrem Elend Erleichterungen bringt, als durch eine sterile und perspektivlose Tagespolitik.“ 

Es könnte sein, dass Monot dem zustimmen würde. In jedem Fall lässt sich seine Empfehlung an heutige Bewegungen mit dem Alten Testament zusammenfassen: Hüte dich vor deinen Feinden und vor deinen Freunden nimm dich in Acht. (Sirach 6,13)

 

Pierre-Héli Monot, Hundert Jahre Zärtlichkeit. Surrealismus, Bürgertum, Revolution, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024 [ISBN: 978-3-7518-2023-3]