„Es lebe die Entartete Kunst“: Surrealismus und Antifaschismus
Im Schlusskapitel seines Buches Hundert Jahre Zärtlichkeit. Surrealismus, Bürgertum, Revolution formuliert der Philosoph Pierre-Héli Monot ein vernichtendes Urteil über den Surrealismus:
„Frage: Was widerfährt den Surrealisten, nachdem der Nationalsozialismus und der Faschismus über Europa gerollt sind?
Antwort: Unehrenhaftes, und zwar bis zur endgültigen Kompromittierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Surrealismus als Politik gestorben. Er hat dafür als jene ‚Kultur‘ weitergelebt, die er zeitlebens bekämpfte. […] Wenige Konversionen sind so oft und so genüsslich erzählt worden wie der faschistische turn ehemaliger Antifaschisten.“
Verständlich wird dieses Diktum im Kontext der zuvor von Monot vorgenommenen Kritik an der Heuchelei als politischer Grammatik des Bürgertums. Gerechtfertigt ist die pauschale Verurteilung aller Surrealist:innen dennoch nicht. Zumal Monot 118 Seiten zuvor den Surrealist:innen ausdrücklich Differenzierung und Gerechtigkeit zubilligt: „Im Unterschied zu denen, die mit Lossagungen und Verleugnungen immer alles zu gewinnen haben werden, stehen die Surrealisten und ihre Weggefährten zwischen 1924 und dem Tod Bretons 1966 für die Geschichte mit ihrem Leben ein.“
Wie recht Monot mit dieser Einschätzung hat, davon konnte sich überzeugen, wer die Ausstellung Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus besuchte, die am letzten März-Sonntag 2025 ihre Pforten schloss. Zum 100. Jubiläum des Surrealismus gelang der Städtischen Galerie im Lenbachhaus im vis-à-vis gelegenen Kunstbau München eine beeindruckende Erzählung, die sich wohltuend abhob von jenen Blockbuster-Ausstellungen dutzendfach gezeigter Klassiker eines entpolitisierten Surrealismus.
Die Kurator:innen Stephanie Weber, Adrian Djukić und Karin Althaus wollten keine ästhetische Stilgeschichte des Surrealismus erzählen, sondern die politische Geschichte einer künstlerischen Bewegung, die sich im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) formierte: in einer Zeit zwischen zwei Weltkriegen, gezeichnet von Wirtschaftskrisen, dem Aufstieg des Faschismus, kolonialer Gewalt, kommunistischen Revolutionsversuchen und der Bedrohung durch autoritäre Herrschaft. In dieser Welt des permanenten Ausnahmezustands erhoben die Surrealist:innen den Anspruch, nicht nur die Kunst, sondern auch die Gesellschaft zu verändern – mit Bildern, Texten und Aktionen, die bestehende Machtverhältnisse infrage stellten.
Die Motivation der Kurator:innen bestand darin, das Klischee des weltfremden, unpolitischen Surrealisten gegen den Strich zu bürsten und die künstlerische wie politische Vielfalt der Bewegung sichtbar zu machen. Wie zeitgenössisch relevant die Motive des Kurator:innenteams sind, verdeutlicht ein Blick auf die gegenwärtige politische Lage – in die Vereinigten Staaten der Präsidentschaft Trump II, nach Ungarn, in die Slowakei oder zu weiteren autoritären bis faschistischen Regimen: Nicht nur die Kunst ist in Lebensgefahr, sondern ihre Träger:innen und die Freiheit als solche.
„Es ist bekannt, dass die gegenwärtige Gesellschaft mit Abneigung auf jede innovative Schöpfung in Kunst und Literatur blickt, die das kulturelle System, auf dem diese Gesellschaft beruht, bedroht, sei es vom Standpunkt des Gedankens oder der Bedeutung her.“ (Aus dem Manifest der Gruppe Art et Liberté, Kairo 1938)
Die politischen Wurzeln des Surrealismus reichen zurück in die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und die gesellschaftlichen Krisen der 1920er-Jahre. Schon im ersten Manifest des Surrealismus von 1924 – auf das sich das 100-jährige Jubiläum bezieht – formulierte André Breton die Idee, dass Kunst nicht der Repräsentation der bestehenden Welt dienen solle, sondern deren radikale Infragestellung ermöglichen müsse. Das Unbewusste, die Träume und die irrationalen Impulse sollten als Gegenkräfte zur gesellschaftlichen Ordnung befreit werden. Von Beginn an verbanden die surrealistischen Protagonist:innen die Befreiung des Unbewussten mit der Hoffnung auf eine befreite Gesellschaft.
Spätestens mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, der faschistischen Regime in Italien und Spanien sowie den kolonialen Kriegen europäischer Mächte positionierten sich bedeutsame Träger:innen des Surrealismus als Teil einer antifaschistischen und antikolonialen Politik. Homogen war diese Politik ebenso wenig wie die Bewegung selbst.
Monot stellt in Hundert Jahre Zärtlichkeit zutreffend fest:
„Die gegenseitigen Annäherungs- und Distanzierungsversuche der Kommunistischen Partei Frankreichs und des Surrealismus bilden einen vollends ausgetretenen Pfad durch die politische Geschichte der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Zu impulsiv und zu undiszipliniert, um ihr ‚fundamentales Streben nach Fanatismus‘ auf die Internationale einzustimmen, schwanken die Surrealisten zwischen der schwarz-roten Flagge des Anarchosyndikalismus und der roten Fahne des frühen stalinistischen Kommunismus.“
In Mexiko-Stadt kamen Exilant:innen wie Breton, Frida Kahlo, Diego Rivera und Leo Trotzki zusammen und gründeten die Fédération Internationale de l’Art Révolutionnaire Indépendant (F.I.A.R.I.), die Kunst als Mittel der Befreiung gegen Faschismus und Stalinismus verstand – ohne beide gleichzusetzen. Deren Manifest Für eine freie revolutionäre Kunst unterstreicht: „Eine vollständige und radikale Umgestaltung der Gesellschaft kann nur erfolgen, wenn die Kunst auf der Grundlage einer radikalen, staatlich garantierten Autonomie auch noch den revolutionärsten Staat angreifen darf.“ (Monot 2024: 32)
Diese Haltung wurde zur existenziellen Notwendigkeit, als in den 1930er-Jahren Faschismus und Nationalsozialismus in Europa erstarkten. Viele surrealistische Künstler:innen standen früh auf den Listen der NS- und faschistischen Regime. Sie verloren ihre Ateliers, wurden verfolgt, inhaftiert oder zur Flucht gezwungen.
Der Surrealismus war, entgegen des Zerrbildes, das auch Monot in seiner Pauschalkritik am surrealistischen Antifaschismus zeichnet, weder ein rein europäisches Projekt noch nach dem Zweiten Weltkrieg „als Politik gestorben“.
Dalís Weg steht singulär und ist nicht repräsentativ für die Bewegung als Ganzes. Breton und die Mehrheit der Surrealist:innen lehnten Dalís reaktionären Kurs ausdrücklich ab. Dies manifestierte sich etwa in Bretons Text „Dalí, die Hyäne der Malerei“ (1939) sowie in dessen öffentlicher Abrechnung mit Dalís Franco-Nähe.
Konträr zu Dalí und prototypisch für die Bewegung stand beispielsweise die Gruppe Art et Liberté, die sich 1938 im kolonialen Kairo gründete. In ihr vereinten sich ägyptische, europäische und jüdische Künstler:innen, Intellektuelle und Schriftsteller:innen, die sich explizit als Teil des internationalen surrealistischen Netzwerks verstanden. In ihrem Manifest „Long Live Degenerate Art“ („Es lebe die entartete Kunst“) von 1938, dem diese Besprechung ihre Überschrift entlehnt, positionierten sich die Mitglieder scharf gegen den europäischen Faschismus, gegen Kolonialherrschaft und gegen den reaktionären Nationalismus in Ägypten. Sie reagierten damit auf die berüchtigte NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ und verteidigten die Freiheit künstlerischen Ausdrucks als universelles Recht – jenseits von Rassismus, Antisemitismus und autoritärer Ideologie.
„„Diese Feindseligkeit zeigt sich heute in den totalitären Ländern – in Hitler-Deutschland insbesondere durch die niederträchtigste Aggression gegen eine Kunst, die von galonierten Unmenschen, die zu allwissenden Schiedsrichtern aufgestiegen sind, als ‚entartet‘ bezeichnet wird. Wir lehnen es ab, in diesen regressiven Mythen etwas anderes zu sehen als eitle Konzentrationslager des Denkens. Kunst – als ständiger geistiger und emotionaler Austausch, an dem die Menschen teilhaben. Die Menschen können sich nicht mehr mit derartigen Einschränkungen abfinden.“ (Aus dem Manifest der Gruppe Art et Liberté, Kairo 1938)
Das Manifest verband künstlerische Avantgarde mit sozialem und politischem Widerstand und stellte damit einen frühen Ausdruck der Verflechtung von Antifaschismus, Antikolonialismus und künstlerischer Autonomie dar, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des surrealistischen Widerstands zog.
In diesem Sinne verfolgte die Präsentation im Kunstbau die künstlerischen, literarischen und politischen Wege von Surrealist:innen, die sich nicht nur als Grenzgänger:innen zwischen Traum und Wirklichkeit verstanden, sondern auch als Akteur:innen im Widerstand gegen Nationalsozialismus, Faschismus, Kolonialismus und kapitalistische Unterdrückung.
Erzählt wurde die Geschichte von Claude Cahun und Marcel Moore, die auf den Kanalinseln mit subversiven, surrealistischen Interventionen gegen die deutsche Besatzung kämpften; oder von der Prager Surrealist:innengruppe Skupina surrealistů v ČSR, die in der Tschechoslowakei explizit antifaschistisch und antikapitalistisch arbeitete.
Die konzeptionelle Idee hinter der Ausstellung manifestierte sich besonders eindrucksvoll am großformatigen Modell des Pavillons der Spanischen Republik, der 1937 auf der Pariser Weltausstellung errichtet worden war. Die Präsentation dieses Pavillon-Modells im Kunstbau rückte einen Moment ins Zentrum, der wie kaum ein anderer verdeutlicht, worum es im Spanischen Bürgerkrieg und im internationalen Engagement der surrealistischen Bewegung tatsächlich ging: nicht allein um den militärischen Widerstand gegen den Faschismus, sondern um die Verteidigung der Möglichkeiten zur Verwirklichung eines politischen, sozialen und kulturellen Modells.
Der Pavillon der Spanischen Republik wurde 1937 unter den Bedingungen des Bürgerkriegs konzipiert und gebaut – als kulturelles Manifest und politisches Statement der Zweiten Spanischen Republik. Er stand im direkten Gegensatz zu den Pavillons des nationalsozialistischen Deutschlands und des italienischen Faschismus, die ihre Machtarchitekturen mit monumentalistischem Pathos inszenierten. Die spanische Republik hingegen präsentierte sich in einem offenen, modernen, funktionalen Bau aus Glas, Stahl und Holz, entworfen von den Architekten José Luis Sert und Luis Lacasa – eine Architektur der Transparenz, der Zugänglichkeit und der republikanischen Idee.
Doch nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt des Pavillons spiegelte das politische Projekt der Republik: In ihm vereinten sich einige der bedeutendsten künstlerischen Stimmen des antifaschistischen Internationalismus. Pablo Picassos „Guernica“, geschaffen als unmittelbare Reaktion auf die Bombardierung der baskischen Stadt durch die Legion Condor, wurde hier erstmals ausgestellt – als Anklage gegen faschistische Kriegsverbrechen. Joan Miró steuerte das monumentale Wandbild „Der Schnitter“ bei, das die Figur eines katalanischen Bauern mit erhobener Sichel als Symbol des Volksaufstands zeigte. Alexander Calder präsentierte die kinetische Skulptur „Mercury Fountain“, eine kritische Anspielung auf die ökonomische Ausbeutung Spaniens.
Durch die Integration des Modells dieses Pavillons machte die Ausstellung im Lenbachhaus deutlich, dass der antifaschistische Kampf der Surrealist:innen nicht auf militärische Solidarität oder Exilbeschreibungen reduziert werden kann. Vielmehr stand der Pavillon für eine republikanische Vision einer anderen Gesellschaft – einer Gesellschaft, die moderne Architektur, avantgardistische Kunst und soziale Befreiung zusammendachte. Er war Ausdruck eines politischen und kulturellen Projekts, das im Spanischen Bürgerkrieg brutal niedergeschlagen wurde, dessen ästhetische und emanzipatorische Ideen jedoch weiterwirkten und in der Ausstellung sichtbar gemacht wurden.
Sichtbar wurde in deren Stationen, wie eng verflochten die Bewegung mit antikolonialen Kämpfen einerseits und Exilnetzwerken andererseits war. In Paris, Mexiko-Stadt, Kairo, Martinique oder Prag bildeten sich Gruppen, die Kunst und politisches Handeln bewusst miteinander verbanden. Der Surrealismus wurde so zu einem transnationalen Netzwerk gegen Repression, Kolonialismus und Krieg.
Deshalb blieb der Surrealismus nach 1945 Teil der antikolonialen Kämpfe. Die Schau im Kunstbau erinnerte an die Solidarität surrealistischer Künstler:innen mit dem algerischen Unabhängigkeitskrieg und an die künstlerischen Interventionen im Fall Djamila Boupacha, die Opfer kolonialer Gewalt wurde. Das großformatige Grand tableau antifasciste collectif, das in der Ausstellung zu sehen war, wurde als künstlerische Antwort auf Folter und Unterdrückung geschaffen.
Das Lenbachhaus-Team richtete zudem den Blick auf oft eurozentrisch marginalisierte Stimmen innerhalb der surrealistischen Bewegung. Gewürdigt wurde stellvertretend Ted Joans, afroamerikanischer Jazz-Poet, der den Surrealismus mit der Black Liberation Movement und dem Afrofuturismus verband. Für Joans war der Surrealismus Teil eines transatlantischen Kampfes gegen Rassismus, Kolonialismus und kulturelle Vereinnahmung.
Andere Surrealist:innen engagierten sich aktiv im Algerienkrieg – etwa Jean-Jacques Lebel, der am Grand tableau antifasciste collectif beteiligt war. Ein Film erinnerte an das Pan-Afrikanische Kulturfestival in Algier von 1969 – ein kulturpolitisches Großereignis und bis heute ein Schlüsselmoment der globalen antikolonialen und postkolonialen Kulturgeschichte. In Algier kulminierte die Vorstellung, dass Kunst, Poesie und politische Befreiung untrennbar zusammengehören. Viele der im Lenbachhaus thematisierten Protagonist:innen – darunter Aimé Césaire, Jean-Jacques Lebel und Wifredo Lam – standen ideell oder persönlich in Verbindung mit dieser Bewegung.
Mit dieser weit gefassten Perspektive setzte sich die Ausstellung bewusst ab von den Präsentationen der vergangenen Jahrzehnte, die den Surrealismus oft auf spektakuläre Bildwelten, Prominentenmythen und dekorative Traumästhetik reduziert hatten.
Doch warum nun die Anlehnung an Tocotronic – Aber hier leben? Nein danke – im Titel der Münchner Ausstellung?
Bemerkenswert ist, dass der Surrealismus in Deutschland während der 1920er- und 1930er-Jahre kaum Fuß fassen konnte. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen dominierte in Deutschland die Neue Sachlichkeit – eine Kunstrichtung, die ebenfalls auf ein hundertjähriges Jubiläum zurückblickt und der jüngst eine große Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim gewidmet wurde. Dieser nüchterne und von realistischer Darstellung geprägte Stil stand in starkem Kontrast zur traumhaften und irrationalen Ästhetik des Surrealismus. Zum anderen trockneten die politischen Spannungen und der aufkommende Nationalsozialismus die Biotope aus, auf denen avantgardistische Strömungen wie der Surrealismus hätten gedeihen können. Diese Lücke in der deutschen Kunstgeschichte war ein zentraler Beweggrund für das Lenbachhaus, die Ausstellung auszurichten und somit einen Beitrag zur Aufarbeitung und Sichtbarmachung dieser bislang wenig beachteten Thematik zu leisten.
Der sorgfältig edierte Katalog, der im Verlag Hatje Cantz erschienen ist und einen beachtlichen Umfang von mehr als 670 Seiten aufweist, trägt wesentlich zu dieser Sichtbarmachung bei. Die Anthologie versammelt erstmals eine breite Auswahl von Manifesten, Essays, Gedichten und künstlerischen Texten aus der Zeit zwischen 1925 und 1980, die die politische Geschichte des Surrealismus dokumentieren.
Die Ausstellung Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus im Lenbachhaus München füllte eine Lücke in der deutschen Rezeption dieser internationalen Bewegung – und erzählte politisch fundiert die Geschichte der transnationalen Vernetzung, widerständigen Praxis und konkreten Kämpfe der Surrealist:innen.