Ambivalenzen beim Blick in den (Hand-)Spiegel der Geschichte
Die Kunst aus der DDR und ihre Künstler:innen sind auch weiterhin mit dem verbreiteten Klischee konfrontiert, sie könnten in Staatskunst einerseits und dissidentische Künstler:innen andererseits klar geschieden werden. Die Wirklichkeit ist komplexer und ihr sind Widersprüche immanent.
Davon zeugen sowohl der im vergangenen Jahr von Melanie Franke herausgegebene Sammelband Selbsterzählungen und Umbruchspuren im Œuvre von Künstler:innen aus der DDR, als auch die gegenwärtig in dem vom SAP-Mitgründer und Sammler Hasso Plattner finanzierten Potsdamer Kunsthaus DAS MINSK zu sehende Ausstellung Im Dialog.
Man mag kaum an einen Zufall glauben, dass in der kleinen Großstadt Potsdam, an deren Universität Melanie Franke als Professorin für Kunstwissenschaft lehrt, und Daniel Milnes für die Sammlung Hasso Plattner: Kunst aus der DDR die Dialog-Ausstellung kuratierte, unabhängig voneinander zwei hervorragende Projekte die Selbsterzählungen von Künstler:innen aus der DDR in den Mittelpunkt stellen.
„Das künstlerische Schaffen in der DDR stand oft in einem prekären Verhältnis zum eigenen und im klaren Widerspruch zum offiziellen Weltbild, da es durch die politischen und ideologischen Rahmenbedingungen beeinflusst und oft zugleich eingeschränkt wurde.“
Melanie Franke beschreibt dies in der Einleitung ihres Sammelbandes. Das Buch entstand im Rahmen des kunsthistorischen Forschungsprojekts Künstlerische Strategien zur Befragung von Geschichtsbildern seit den 1990er Jahren, das vom Schweizerischen Nationalfonds in Bern gefördert wird. Ziel des Projekts ist es, künstlerische Reflexionen über Geschichtsbilder seit dem Ende des Kalten Krieges zu untersuchen. Franke leitet das Forschungsprojekt und brachte es 2021 mit ihrem Wechsel an die Universität Potsdam dorthin. Zuvor forschte und lehrte sie von 2009 bis 2021 als Professorin für Kunstgeschichte im Fachgebiet „Art & Research“ an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel.Der in dem auf Kunstthemen spezialisierten Berliner Permanent Verlag erschienene Sammelband vereint Beiträge des im September 2023 durchgeführten Workshops (Selbst-)Erzählungen und Umbruchspuren im Œuvre von Künstler*innen, wenngleich nicht alle. So fand der seinerzeit von Florian Grotz gehaltene Beitrag keinen Eingang in die Publikation.
Ateliergespräche und biographische Selbsterzählungen
Selbsterzählungen dienen dazu, Brüche und Kontingenzen im eigenen Leben zu ordnen, Identität zu stabilisieren oder auch neu zu verhandeln. Dies gilt nicht zuletzt in Umbruchssituationen, wie der Friedlichen Revolution 1989 und der sich daran anschließenden Wiedervereinigung und dem ostdeutschen Transformationsprozess ab den 1990er Jahren.
Dass es in der DDR je zu einer Friedlichen Revolution kommen würde, war 1974 nicht zu erahnen, als der DDR-Kunsthistoriker Henry Schumann dem volkseigenen Verlag E.A. Seemann in Leipzig die Idee unterbreitete, Ateliergespräche mit Künstler:innen zu publizieren. Im kollektiven Bewusstsein war vielmehr die Erfahrung des sechs Jahre zuvor militärisch niedergeschlagenen Prager Frühlings verankert. Stefan Wolle nennt die tschechoslowakische reformkommunistische Epoche „eine zarte Jugendliebe, die niemals den Prüfungen des Alltags ausgesetzt wurde“. In Aufbruch und Utopia beschreibt er den DDR-Alltag und die Mechanismen der SED-Herrschaft in der Dekade nach dem Mauerbau 1961 bis zu Ulbrichts Ablösung durch Erich Honecker. Der Prager Frühling war „ein Stück Hoffnung, in einer Welt, die nur selten Spielräume für Hoffnungen ließ“. Mehr durfte er nicht sein.
So sehr sich dies wohl auch einige der 2 Künstlerinnen und 18 Künstler gewünscht haben dürften, die Henry Schumann für den 1976 tatsächlich erschienenen Gesprächsband Ateliergespräche in ihren Ateliers besuchte und interviewte. Von einem der Interviewten, Walter Womacka, wissen wir, dass er am 27. August 1968 im SED-Zentralorgan Neues Deutschland dem Einmarsch in Prag seine „volle Zustimmung“ erteilte. Bei allen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten von in der DDR staatlich geförderten oder protegierten Künstler:innen nimmt er im Kreis der im Gesprächsband Versammelten eine Sonderrolle ein. Andererseits wird auch das eigene Bild von der parallelen Enge und Weite des DDR-Alltags strapaziert.
Schumann hält in der Einleitung fest, dass die Auswahl der von ihm interviewten Künstler:innen „in allen Fällen der subjektiven Entscheidung des Autors überlassen“ war. Schumann betonte, dass alle Interviewten der sozialistischen Kunst verpflichtet seien und sich methodisch am Marxismus-Leninismus orientierten. Ob dies seiner eigenen Überzeugung entsprach, bleibt fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass diese Formulierung den Weg ebnete, um auch einen Künstler wie Carlfriedrich Claus in den Band aufzunehmen. Der avantgardistische Künstler, der sich mit Poesie und Schriftgrafik befasste, aus „Solidarität zu jüdischen Freunden“ Hebräisch lernte und mit Ernst Bloch im Austausch stand, wurde jahrzehntelang von der Staatssicherheit beobachtet und konnte erstmals 1980, staatlich geduldet, in der Kunstsammlung Dresden ausstellen. Sein Denken und Wirken war sicherlich einem demokratischen Sozialismus, nicht aber dem dogmatisch erstarten Marxismus-Lenismus verpflichtet.
Die Ausstellung im MINSK nimmt die Ateliergespräche im wörtlichen und übertragenen Sinne auseinander. Wer das Erdgeschoss betritt, kann zunächst ein Tablet in die Hand nehmen und durch die Seiten des Gesprächsbandes switchen oder sich dem Text physisch widmen. Denn auf zwei sehr langen und raumfüllenden Tischen wurde Seite für Seite auseinandergenommen und aneinandergereiht.
„Während wir im Gespräch sind, kommt Gewitter auf und steht stundenlang über der Elbe, wolkenbruchartig. Bald tropft es, fließt es, von der Zimmerdecke herab. Wir retten den Plattenspieler, den Recorder, die Liege, steigen schließlich aufs Dach und decken die durchlässigen Stellen ab, umzuckt von Blitzen.“
Allein für Stellen wie diese - heute nur schwer vorstellbare aber seinerzeit nicht ungewöhnliche - Zustandsbeschreibung des Bonk-Ateliers und Hilfeleistung in der Mangelwirtschaft, lohnt sich die Lektüre des Originaltextes. Der zugleich den patriarchalen und vorurteilsbehafteten Zeitgeist der 1970er Jahre atmet, wenn Schumann einleitend zu dem, im Verlauf ziemlich von oben herab geführten, Gespräch mit Núria Quevedo ausführt: „Von ihrer Attraktivität hatte ich schon gehört, war deshalb nicht überrascht, als sie die Wohnungstür öffnete. Sie hat etwas von den Bewegungen mittelmeerischer Frauen, die noch mit dem Krug auf dem Kopf zum Brunnen gehen, sicher und leicht, aufrecht“. Es wäre zu wünschen, eine solche Beschreibung wäre heute unvorstellbar – sie ist es leider nicht. Ebenso wenig wie die Diskussion, die Schumann und Quevedo im weiteren Verlauf über vermeintlich männliche oder weibliche Kunst führen.
Paradoxien und Ambivelenzen der DDR-Kunstpolitik
Um den Originaltext herum sind Werke von Künstler:innen gruppiert, die seinerzeit mit Henry Schumann im Gespräch waren: Quevedo natürlich, Ursula Mattheuer-Neustädt, Bernhard Heisig oder auch Werner Tübke.
Von letzterem sind die beiden großformatigen Werke zu sehen Der Narr und das Mädchen aus dem Jahr 1982 und das ein Jahr später fertiggestellte Drei Frauen aus Cefalú. Eine Videodokumentation vis-á-vis widmet sich der Entstehung von Tübkes Monumentalbildes Der deutsche Bauernkrieg im Rundbau des Panorama-Museums Bad Frankenhausen. Der Beginn der Arbeiten am Bild ebenso wie am Bau des Museums fallen auf das Jahr 1976, in dem die „Ateliergespräche“ erschienen. Das Museum am authentischen Ort des letzten Gefechts des Bauernkrieges sollte als „Fanal der Überlegenheit“ die bestehende Ordnung nobilitieren, und eröffnete ironischerweise am 14. September 1989 – zehn Tage nach den ersten Protesten in Leipzig, mit denen die Friedliche Revolution ihren Anfang nahm.
Es gehört zu den Paradoxien der DDR-Kulturpolitik, dass mit Werner Tübke ein Künstler ausgewählt und gewonnen wurde, der nur wenige Jahre vor der Auftragsübernahme als einer der problematischsten im Lande galt. Diese Paradoxie erwies sich als Glücksfall – aus heutiger Sicht. Eine historische Parabel menschlicher Irrungen und Wirrungen statt einer didaktischen Großillustration: „Eine Welt nicht im Aufbruch, sondern im Taumel einer Spätzeit: Weltgeschichte vollzieht sich als Weltgericht“, wie im Nachruf auf Tübke formuliert werden wird.
Das Jahr 1976 in der DDR, von Karsten Krampitz im Berliner Verbrecherverlag klug und differenziert beschrieben, war nicht nur ein Jahr, in dem Wolf Biermann mit kleinlicher Ranküne ausgebürgert wurde, sondern „auch das Jahr, in dem Michael Gartenschläger an der Grenze erschossen wurde: in Zeitz übergoss sich Pfarrer Brüsewitz mit Benzin und zündete sich an; der IX. Parteitag der SED beschloss ein neues Programm und Statut: Honecker wurde Staatsratsvorsitzender, der Palast der Republik wurde eröffnet, die DDR wurde Fußballolympiasieger et cetera. Und immerhin 15.168 Bürgerinnen und Bürger verließen das Land Richtung Westen“, wie Krampitz erinnert.
Insofern liegt es nahe, dass in der zweiten großen Ausstellung der Sammlung Plattner auch die Ambivalenz explizit gemacht wird. Stand im Erdgeschoss die Retrospektive auf den Schumann-Dialog mit den Künstler:innen im Fokus, wird im Obergeschoss des MINSK der Dialog fiktionalisiert und erweitert. Im Zentrum stehen Dialoge und „Begegnungen, die aus diversen Gründen nicht stattfinden konnten. Dieser spekulative Ansatz aus der heutigen Perspektive erweitert bestehende Narrative zur Kunst der DDR in den 1970er und 1980er Jahren und veranschaulicht sowohl die Beschränkungen des autoritären Kunstsystems der DDR, als auch die innovative und subversive Schaffenskraft der Künstler:innen, die in diesem System arbeiten“, wie die Ausstellungsmacher:innen im Begleitheft formulieren.
Formen der Selbstermächtigung
Die gegenwärtig ebenfalls in Potsdam, am Leibniz-Zentrum für zeithistorische Forschung tätige Wissenschaftlerin Alexia Pooth veröffentlichte im vergangenen Jahr eine hervorragende Studie Exhibition Politics. Die documenta und die DDR, die ich hier auf diesem Blog bereits besprochen habe.
Dieses Thema greift Obergeschoss des MINSK der erste „Dialog“ auf. Und erinnert daran, dass während 1977 die staatlicherseits protegierten Künstler Sitte, Heisig, Mattheuer, Tübke, Jastram und Cremer in Kassel ausstellen durften, Gabriele Stötzer in der Justizvollzugsanstalt Hoheneck inhaftiert war, weil sie 1976 mit einer Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestieren wollte. Das Frauengefängnis Hoheneck war das größte Frauengefängnis der DDR, Sinnbild für politisch verfolgte Frauen zwischen 1945 und 1989 und ist seit Sommer des vergangenen Jahres endlich als Gedenkstätte ein Ort der historisch-politischen Bildung. Auch Peter Graf, von Schumann in den Ateliergesprächen interviewt, unterzeichnete 1976, gemeinsam mit Dresdner Kunstkolleg:innen einen Offenen Brief gegen die Ausbürgerung Biermanns. Das Schicksal Stötzers, deswegen inhaftiert zu werden, blieb ihm erspart. Ein solcher Querverweis fehlt in der Ausstellung bedauerlicherweise.
In hartem Kontrast zu den großformatigen Bildern Tübkes im Untergeschoss steht ist Gabriele Stötzers kleines Bild Seher in der Wüste (1978/79). Das nur 7 × 13 cm große, holzgerahmte Werk entstand nach ihrer Haftentlassung aus dem Frauengefängnis Hoheneck. Durch sein Kleinformat und den historischen Kontext gehört es zu den eindrucksvollsten und auch emotional bewegendsten Exponaten der Ausstellung.
Der bewusst für die Fahrt nach Potsdam und zum Besuch dieser Ausstellung im MINSK in die Tasche gesteckte Sammelband von Melanie Franke, mit seinen 9 Beiträgen auf etwas mehr als 208 Seiten, erweist sich spätestens an dieser Stelle als wahrer Glücksfall. Den Super 8-Film Stötzers aus dem Jahr 1989 …hab ich euch nicht glänzend amüsiert? zu sehen und begleitend dazu den spannenden Beitrag von Luise Thieme Radikale Intimität. Formen der Selbstermächtigung bei Gabriele Stötzer und Tina Bara zu lesen, in dem dieser Film sowie ein Fotobuch von Bara im Mittelpunkt stehen, schafft eine besondere Verbindung zum Text von Thieme, die 2019 die Ausstellung Bewusstes Unvermögen. Das Archiv Gabriele Stötzer in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst ko-kuratierte und an der Uni Jena zu künstlerisch-feministischer Praxis in der DDR promoviert:
„Die Motive und Assoziationen, derer sich Stötzer im Film bedient, wie das Skelett oder das Gespenstische, Gitter und Blut, verweisen auf die Repressionen und die körperliche Fremdbestimmung, die sie [G. Stötzer – BIH] im Gefängnis erfahren hatte und die sie auch in ihren Texten aufarbeitet. Zugleich persiflieren sie das Bild, das sich insbesondere die Stasi von Stötzer machte.“ (Thieme: 122)
Der zweite im MINSK fiktionalisierte Dialog entsteht entlang des Gemäldes Dresdner Freunde (1983/84) von Ralf Kerbach, auf dem sich der Künstler selbst neben der Künstlerkollegin Cornelia Schleime und dem Schriftsteller Sascha Anderson an einem Tisch sitzend abbildete. Die dargestellte Szenerie ist eine Retrospektive, denn zum Entstehungszeitpunkt des Bildes hatte Kerbach die DDR bereits verlassen. Zwei Jahre nach Kerbach verließ 1984 auch Schleime die DDR, weitere zwei Jahre später folgte Anderson. Er war, wie die Dialog-Ausstellung zeigt, bereits seit Mitte der 1970er Jahre als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit tätig und berichtete dieser auch nach seiner Ausreise aus der DDR weiterhin über Aktivitäten ehemaliger DDR-Bürger:innen. Wir können nur ahnen, ob im Wissen um Andersons-Stasitätigkeit ein Bild „Dresdner Freunde“ je entstanden wäre. Cornelia Schleime wird ab 1993 ihre umfangreiche Stasiakte künstlerisch bearbeiten und darüber auch Verarbeitung vornehmen. Teil dieses Prozesses ist auch ihr Roman Wie weg.
Cornelia Schleime entschied sich bereits früh, wie Viola Hildebrand-Schat im Sammelband von Melanie Franke darlegt, „ihre Lebensgeschichte als die eines Widerstandes zu erzählen, sich selbst als Rebellin zu inszenieren und die Rolle konsequent ihrer künstlerischen Biografie einzuschreiben.“ Schleime begehrt in zweifacher Weise auf, zeigt Hildebrand-Schat, Kunstprofessorin an der Universität Frankfurt am Main: „Zum einen strebt sie einer männlich dominierten Kunstszene danach, einen ihr eigenen Platz zu finden: zum anderen will sie sich mit ihren künstlerischen Arbeiten innerhalb eines Systems behaupten, das Kunst reglementiert und kontrolliert.“ Mit der Übersiedlung nach West-Berlin treten andere Fragen in den Vordergrund: Übermalungen im eigenen Werk „etwas gelten einer Assimilierung, die die Ankunft in West-Berlin nach sich zog. Nicht nur Schleime, auch andere Künstlerinnen berichten davon, dass es Jahre gedauert habe, den ‚migrantischen Komplex‘ zu reflektieren und schließlich zu überwinden.“ (Hildebrand-Schat: 112)
Ost-West-Grenzgänge und die europäische Nachkriegsmoderne
Obwohl die Ausstellung um Kerbachs Gemälde weitere Arbeiten gruppiert, die sich den Themen Exil und Ost-West-Grenzgängen widmen, darunter die Arbeiten Styx I und Styx II von Cornelia Schleime, wird diese Ebene nicht berührt.
Auch jene Grenzgänge aus den Ateliergesprächen im Erdgeschoss bleiben von Daniel Milnes unberücksichtigt. Was unverständlich ist: Der von Schumann interviewte Bildhauer und Maler Hartmut Bonk verließ die DDR 1982. Zwei Jahre später ging der ebenfalls porträtierte Maler Peter Herrmann denselben Weg. Schumanns Gesprächspartner Werner Henning wiederum siedelte 1961 aus Düsseldorf in die DDR über und verblieb dort bis zu ihrem Ende. Die Malerin Núria Quevedo exilierte Anfang der 1950er Jahre als Tochter republikanischer Emigranten aus dem franquistischen Spanien in die DDR. Das Thema Exil und Entwurzelung wird ihr bestimmendes künstlerisches Thema bleiben. Darüber schreibt im Sammelband April Eisman, Mitgründerin des Transatlantic Institute for the Study of East German Art.
„Maler [malen] die eigene Biografie, auch wenn man Stillleben malt oder Landschaften. Es ist die eigene Biografie. Allerdings kann man sich natürlich immer hinter den Bildern ein bisschen verbergen. Aber es ist die eigene Biografie, die man immer wieder aufzeichnet.“ (Núria Quevedo, 2016)
In dem Beitrag, dem dieses Zitat vorangestellt ist, verweist Eisman auf Leerstellen in der Rezeption der Werke von Núria Quevedo. Indem sowohl „ihre deutschen Bezüge heruntergespielt oder zugunsten der spanischen ganz außer Acht gelassen werden“ als auch die Bezüge zwischen ihrer Arbeit und dem dokumentarfilmischen Schaffen ihres Mannes Karlheinz Mund unterschätzt werden. Anhand Quevedos Werk „Dreißig Jahre Exil“ (1971) und dem Film Canto de Fé – Gesang einer Hoffnung (1965) legt sie plausibel den Einfluss des Films auf das Werk offen.
Im Mittelpunkt des dritten Dialogs im Obergeschoss des MINSK steht die Mail-Art-Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt, der das Potsdamer Kunsthaus von Februar bis Mai 2023, ein Jahr vor ihrem Tod, bereits die Ausstellung Ruth Wolf-Rehfeldt: Nichts Neues gewidmet hatte. Marie Eggers, die in Potsdam zu Mail-Art-Aktionen in der DDR promoviert, beschreibt im Sammelband anhand der im Februar 1990 initiierten Letzte Mail Art Aktion aus der DDR das künstlerische Schaffen des Ehepaares Wolf-Rehfeldt und Robert Rehfeldt. Beide waren Protagonisten, um das für die DDR doppeldeutige Wort Pioniere zu vermeiden, dieser Form des künstlerischen Austauschs, mit dem eine unzensierte Zirkulation nicht nur innerhalb der DDR, sondern auch (System-)Grenzen überschreitend ermöglicht wurde. Wolf-Rehfeldt stellte mit dem Ende der DDR auch ihre eigene Arbeit ein. Eggers spürt den Hintergründen dieser Entscheidung sensibel nach und schließt ihre Betrachtungen mit der nachvollziehbaren Feststellung, dass „die sich anlässlich des Umbruchs 1989/90 auflösende, vermeintlich antithetische Bindung der Mail-Art beziehungsweise ‚nonkonformer Kunst‘ an das totalitäre Regime der DDR für sie [Ruth Wolf-Rehfeldt] keinen zu betrauernden Verlust des eigenen Subversionspotenzials dar[stellte]. Sie bot in ihren Augen eher eine vielversprechende Möglichkeit, um mit den Mittel der Kunst die eigene Zukunft aktiv mitzugestalten und eben nicht, spurlos im Archiv zu verschwinden.“
Die abschließenden beiden Beiträge des Sammelbandes thematisieren im wahrsten Sinne Ost-West-Geschichten. Melanie Franke spricht mit Joachim Jäger, dem stellvertretenden Direktor der Neuen Nationalgalerie über Kunst nach 1945 und die Sammlung der Neuen Nationalgalerie, deren ursprünglich nichtintendiertes Potenzial in der jahrzehntelang getrennten Sammlung der Nationalgalerie Ost und West besteht, aus der sich nach der Wiedervereinigung auch dieser Sammlungsbestände eine Einzigartigkeit ergibt, die wohl kein anderes Kunstmuseum in dieser Art vorweisen kann.
Angela Lammert, wissenschaftliche Leiterin interdisziplinärer Sonderprojekte der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste, befasst sich in einem durch die selbstreflexive Betrachtung der Autorin äußerst spannend zu lesenden Beitrag mit den Malereien an den Wänden des sogenannten Bilderkellers der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz. Dieser Ort, der vom Mauerbau bis zum Mauerfall im Grenzgebiet lag und die Akteur:innen der Berliner Schule werden in der Beschreibung Lammerts ebenso lebendig, wie deren Werke, die sogenannten Schwarzen Bilder.
Auch deren Rezeption unterlagKonjunkturen des Diskurses, zu denen u.a. der ostdeutsche Bilderstreit gehörte. Eine Neulektüre der Bilder lässt, wie Lammert zeigt, eine Verbindung dieser in den 1950er Jahren entstandenen Werke und ihrer Produzent:innen zur europäischen Nachkriegsmoderne zu. Der Weg zu dieser Erkenntnis ist jedoch mit Klischees über Kunst aus der DDR gepflastert:
„Ein westlich sozialisiertes Publikum assoziiert bis heute mit Kunst in der DDR eher Maler wie Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte oder Werner Tübke. Man wollte ‚das andere‘, das vom ‚Westen‘ Unterschiedene. Das ist für historische Deutungen symptomatisch.“
Umso dringlicher ist es aus Sicht von Lammert, die „schwarzen Bilder“ – aber nicht nur diese – „auf ihre Korrespondenz zur europäischen Nachkriegsmoderne neu zu bewerten. Dazu gehört auch, keinen Unterschied zwischen Ost und West zu vermuten, wenn es um das Verhältnis von Selbstzeugnissen und künstlerischer Praxis geht, und den Blick über Europa hinaus zu richten.“
Sowohl die Ausstellung „Im Dialog“ im Potsdamer Kunsthaus „DAS MINSK“ als auch der Sammelband „Selbsterzählungen und Umbruchspuren im Œuvre von Künstler:innen aus der DDR“ hinterfragen gängige Klischees über DDR-Kunst. Beide Projekte bieten neue Perspektiven auf ein vielschichtiges Kapitel der Kunstgeschichte.