20.12.2024
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Documenta und die DDR

Die Weltkunstausstellung Documenta ist „eine Institution, die sich im ständigen Dialog mit der Geschichte befindet und gleichzeitig ein Barometer für Kunst und Kultur in der unmittelbaren Gegenwart“, sagte Naomi Beckwith, die kürzlich benannte Kuratorin der Documenta 16, die vom 12. Juni bis 19. September 2027 geplant ist, nach ihrer Auswahl. Diesem Dialog mit der Geschichte fühlt sich auch Alexia Pooth verpflichtet. Von ihr erschien in diesem Jahr „Exhibition Politics. Die documenta und die DDR“ im Kerber-Verlag.

Alexia Pooth ist gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam. Nach mehrjähriger Arbeit an der Stiftung Bauhaus in Dessau war sie zwischen 2019 und 2021 am Deutschen Historischen Museum an der Konzeption und Realisierung der Ausstellung „Documenta. Politik und Kunst“ beteiligt. Dort zeichnete sie, gemeinsam mit Klara Kemp-Welch, für denjenigen Teil der Ausstellung und des 2021 im Prestel-Verlag erschienenen Ausstellungskatalogs verantwortlich, der die Überschrift „Der ‚Osten‘ als das andere der Moderne“ trägt. Gestaltet wurde das mit 363 Seiten umfangreiche Buch attraktiv von Pascal Storz und Lucas Manser vom Studio Storz in Berlin

Der Fokus des Buches liegt auf der documenta und dem Umgang mit „dem Osten“ zwischen der documenta-Premiere 1955 und der von Catherine David kuratierten „documenta X“ (1997). Gleichwohl kann es auch als ein Beitrag zur Aufarbeitung des ostdeutschen Bilderstreits gelesen werden. Derjenigen nach 1989 einsetzenden Kontroverse über die Frage, ob in der Diktatur Kunst entstehen könne. Georg Baselitz hatte dies bekanntlich 1990 verneint mit der Aussage, dass die Maler der DDR keine Künstler, sondern „ganz einfach Arschlöcher“ gewesen seien.

Inzwischen hat sich, wie Karl-Siegbert Rehberg in der von ihm gemeinsam mit Paul Kaiser 2013 herausgegebenen Dokumentation dieser Kontroverse festhielt, ein Verständnis von „Kunst in der DDR“ durchgesetzt, dass die Bereitschaft zum differenzierten Blick zeigt: „auf der östlichen Seite gab es, selbst in der Ulbricht-Ära, keineswegs nur gegenständliche Arbeiten oder gar Werke des Sozialistischen Realismus. Und ebenso wenig sah man in Westdeutschland etwa nur Informel, Abstrakten Expressionismus, Fluxus oder Minimal Art. Auch dort wurde nach 1945 vielfältig realistisch gemalt, gab es akademische Bildhauer alten Stils, waren die Entwürfe für kommunale Wettbewerbe und Aufträge noch nicht einmal in ihrer Mehrheit ‚modern‘ […].“ (Rehberg/Kaiser 2013: 24)

Auf der anderen Seite der Medaille entwickelten sich in beiden deutschen Staaten, solange sie unter den Bedingungen des Kalten Kriegs und der sogenannten Systemkonfrontation bestanden, „zwei schroff einander opponierende Geltungskünste: Sozialistischer Realismus versus ‚Weltsprache der Abstraktion‘.  […] Auf beiden Seiten entstand eine Doktrin des gelten sollenden Stils, der beiderseits mit ‚Fortschrittlichkeit‘ gerechtfertigt wurde, indem man die Leitidee der jeweils ‚feindlichen‘ Kunstauffassung verwarf oder teilweise gerade verdammte.“ (ebd.)

Der Gründungsanspruch der documenta war „antitotalitär“ und damit im Sinne des westlichen Verständnisses sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch gegen den Kommunismus gerichtet, die im Kalten Krieg gleichgesetzt wurden. Der Geltungsanspruch der Kunstausstellung bestand, wie Pooht darlegt, im Selbstverständnis als „Kunstbastion im Kalten Krieg – eine Funktion, die sie bis zum Beginn der Neuen Ostpolitik behielt“ (Pooth 2024: 21).

Auch wenn die DDR 1972 zur Beteiligung an der documenta 5 eingeladen wurde und 1977 tatsächlich die DDR-Künstler Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke sowie Fritz Cremer und Jo Jastram mit Werken auf der documenta 6 vertreten waren, blieben die documenta-Verantwortlichen gegenüber den staatssozialistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa weitgehend ignorant: „Die abweichenden kulturpolitischen Konditionen, unter denen im ‚Ostblock‘ Kunst produziert wurde, waren kaum von Interesse, es fehlte das Bewusstsein für die Nuancen des Kunstbetriebs, wie auch für die Tatsache, dass die Grenzen – insbesondere zwischen der Bundesrepublik und der DDR – durchlässig waren.“ (Pooth 2024: 23)

Vor diesem Hintergrund erzählt Pooth eine doppelte Beziehungsgeschichte. Die documenta war, wie bereits dargestellt, sowohl eine Kunstausstellung als auch ein Schaufenster der Westbindung und der „weltgeschichtlichen Diskurse: in den 1950er Jahren der Antikommunismus, in den 1970ern die Neue Ostpolitik oder nach 1989 der Systemumbruch“ (Pooth 2024: 24). In der DDR hingegen bestimmte sich das Verhältnis zur documenta reziprok. Die Kunstausstellung wurde, wie Pooth insbesondere im zweiten Kapitel „‘documenta humana‘ – Die documenta im Visier der DDR“ anhand von Fallbeispielen darstellt, einer „schablonenartig[en] Kunst-, Ausstellungs-, System- und Personenkritik“ unterzogen (Pooth 2024: 88) und deshalb auch zunächst die Einladung zur documenta 5 – nach Rücksprache mit den zuständigen Stellen in Moskau – abgelehnt. Mit der Neuen Ostpolitik unter Willy Brandt, insbesondere aber auch dem KSZE-Prozess und darauf aufbauenden Abkommen entstanden Rahmenbedingungen änderte sich dies. Für die DDR wurde es sowohl kulturpolitisch als auch mit Blick auf die zunehmend bedeutsamer werdende Notwendigkeit, Devisen zu beschaffen, ökonomisch interessant, die Beteiligung an der documenta 6 ins Auge zu fassen. Die Vor- und Nachgeschichte der DDR-Beiträge in Kassel 1977 sind durch Gisela Schirmer bereits 2005 ausführlich dargelegt worden.

Pooths Erzählung geht weit über diese von Schirmer aber auch an anderen Stellen bereits oft beschriebene Episode hinaus. Das Werk besticht durch enorme Detailkenntnis und die Verknüpfung von Analyse, Künstlerporträts sowie Interviews. Die neun Gespräche u.a. mit Eduard Beaucamp, Hans Eichel, Gudrun Brüne-Heisig, Gabi Dolf-Bonekämper bilden, räumlich in der Mitte des Buches angesiedelt, so etwas wie das oral history-Herzstück des Buches.  

Dem Verhältnis zwischen der documenta und der DDR widmet sich Pooth in sechs chronologisch aufgebauten Kapiteln. Im Zentrum der ersten drei Kapitel steht der wechselseitige Blick zweier sich im Kalten Krieg gegenüberstehender Länder und die jeweils dominierende Ideologieproduktion. Zugleich aber – und dies macht diese Studie so lesenswert – durchbrachen Ambivalenzen und Widersprüche die offiziösen Strukturen und hegemonialen Erzählungen. Pooth erläutert dies beispielsweise am Interesse des documenta-Freundeskreises, den nach dem 17. Juni 1953 in der Bundesrepublik als Systemapologeten geschmähten Bertolt Brecht einzuladen. Oder am widersprüchlichen Brief Gerhard Richters, den dieser nach dem Besuch der documenta 2 noch in Kassel ab Bahnhof sitzend, an einen Freund in Dresden schrieb. Pooth beschreibt den Brief in einem Interview als „Selbstverständigungsort“ Richters mit sich selbst und es gelingt ihr im Buch, anhand dieses Briefes die Zerrissenheit des Künstlers zwischen Herkunft und Sehnsuchtsort, plausibel zu machen.

Indem Alexia Pooth die einzelnen Künstlerinnen und Künstler, handelnde Akteur:innen und die in jedem von ihnen, wie auch in uns Leser:innen – ob sie nun wie der Autor dieser Rezension in der DDR geboren wurden, oder nicht – schlummernden Widersprüche in den Blick nimmt, entsteht ein vielschichtiges Panorama. Dem wollten sich die documenta-Macher – und wenigen Macherinnen – lange Zeit nicht nähern. Hätten sie sich diese Mühe gemacht, wären 1977 möglicherweise nicht nur die von der DDR staatlich hofierten Künstler Sitte, Heisig, Mattheuer, Tübke, Jastram und Cremer eingeladen worden. Bedeutsamer aber noch, es wären möglicherweise auch zu späteren documenta-Ausstellungen Künstler:innen aus der DDR eingeladen worden. Und zwar nicht, weil man im Sinne der documenta 1977 damit ein kuratorisches Statement gesetzt hätte, sondern aufgrund ihrer jeweiligen künstlerischen Leistungen. Dass es hierzu nicht kam, hat viel mit einem aus Unkenntnis und Desinteresse gespeisten Klischee der bundesdeutschen Seite gegenüber den Künstler:innen aus der DDR zu tun. Deutlich wird dies in der von Pooth zitierten Antwort des künstlerischen Leiters der documenta 7, Rudi Fuchs, der auf die Frage, ob die geringe Berücksichtigung von Künstler:innen aus Ost- und Südosteuropa ein Zeichen von Unkenntnis oder Geringschätzung sei, feststellte: „Im Ergebnis ist die zeitgenössische Kunst des Ostens für uns leider mehr ein anthropologisches als ein künstlerisches Problem.“ (Pooth 2024: 261) Die daraus erwachsende Arroganz gegenüber der östlichen Kunst als nicht nur „anthropologisch“, sondern auch als „Problem“, überdauerte den aus der Friedlichen Revolution erwachsenden Mauerfall. Pooth legt dies anhand der documenta IX, die 1992 stattfand, und dem sogenannten Zweiten Marathongespräch in Weimar überzeugend dar.

Welches Interesse und Potential in einem Dialog auf Augenhöhe enthalten gewesen wäre, wurde erst in der Überwindung des ostdeutschen Bilderstreits deutlioch. Eckhard Gillen gelang 2008 mit seiner bis heute weitgehend unerreichten Darstellung „Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990“ ein solcher Dialog.

Auch Pooth eröffnet im Kapitel, das den Titel „Von Ost nach Kassel reist man nicht als Insider“ trägt, bedeutsame Perspektiven. Betrachtet werden die documenta 7 und 8 in den 1980er Jahren, insbesondere aber die Rezeption der documenta in der DDR.

Das Wissen um die Kunstproduktion in der Bundesrepublik und dem westlichen Ausland generell war nach Aussage von Pooth im bereits zitierten Interview „deutlich höher als andersherum. Viele wussten etwas über die documenta, weil sie West-Fernsehen gucken konnten, aber auch weil mal jemand etwas mitgebracht hat. Das galt nicht nur für die documenta, sondern auch für andere Ausstellungen.“

Plastisch beschreibt Pooth, wie mühselig, reglementiert und außeralltäglich der Zugang von Interessierten in der DDR zur documenta und vergleichbaren Ausstellungen war. Dass Gabriela Ivan ihre Dissertation an der HU-Berlin über „Kunstpolitische und kunsttheoretische Fragen der Konzeption der documenta-Ausstellungen in Kassel 1955 bis 1972“ schrieb, ohne jemals zuvor nach Kassel oder auf eine documenta fahren zu dürfen, macht nachdrücklich die bestehenden Restriktionen deutlich. Deutlich wird dies auch in den Interviews, z.B. mit Gudrun Brüne-Heisig, denn Pooth interessiert sich auch für die Frage, wer aus der DDR die documenta besuchen durfte und welche Rolle der Verband Bildender Künstler der DDR dabei spielte. Jenseits der Künstlerporträts von Gerhard Altenbourg bis Klaus Staeck auf jeweils nur auf 1-2 kartonierten Seiten, porträtiert Pooth exemplarisch den Kunstwissenschaftler und Galeristen Klaus Werner. Er übersendete seinerzeit ungefragte Künstlervorschläge nach Kassel. In Verbindung mit den Schilderungen über Lothar Langs Rolle bei der DDR-Präsentation auf der documenta 1977 und Jürgen Schweinebraden, dessen Interview überraschend desinteressiert ist, entsteht ein vielschichtiges Panorama des Kunstbetriebs und Alltags in der DDR-Diktatur.

Mit dieser Studie wird eine bislang offene Forschungslücke zumindest zu einem großen Stück geschlossen. Gleichzeitig weist Pooth in dem Buch an verschiedenen Stellen auf weitergehende Forschungsfragen hin, die es lohnt, zu ergründen. Man darf gespannt sein, ob dieser Faden aufgenommen wird, um an dem Bild über das Verhältnis der beiden feindlichen deutschen Brüder anhand der documenta weiterzuspinnen.  

 

Alexia Pooth, Exhibition Politics. Die documenta und die DDR, in: Schriftenreihe des documenta archivs 32, hrsgg. v. Britta Coers, Kerber Verlag, Bielefeld/Berlin 2024 (ISBN: 978-3-7356-0955-7)

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.