18.12.2025
Benjamin-Immanuel Hoff

Wirtschaftspolitik aus Sicht ökonomischer Engführung

Warum der Gegensatz von ordnungspolitischer Expertise und als laienökonomisch etikettierten Gerechtigkeitsvorstellungen analytisch in die Irre führt

In der Zeitschrift »Perspektiven der Wirtschaftspolitik«, herausgegeben vom Verein für Socialpolitik, erschien im November der Aufsatz Wirtschaftspolitik aus Sicht ökonomischer Laien. Zum Zielkonflikt zwischen ökonomischer Vernunft und Wählerpräferenzen. Von den sechs Autor:innen sind vier am Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) und zwei bei der Stiftung Familienunternehmen, der gemeinnützigen Stiftung des Interessenverbands der mittelständischen Wirtschaft tätig.

Nicht allein aufgrund meines grundsätzlichen Interesses an Positionierungen des IW Köln, das beispielsweise bei der Notwendigkeit, die restriktiven Regelungen zur Schuldenbremse zugunsten einer aktiven Infrastrukturmodernisierung zu überwinden, eine hohe Deckung mit dem Institut für Makroökonomie (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung aufwiesen und durch regionalwirtschaftliche Untersuchungen vielfach wichtige Erkenntnisse liefert, war ich auf den Beitrag gespannt.

Dessen selbstgewählter Anspruch ist hoch: Die Autor:innen wollen erklären, warum wirtschaftspolitische Maßnahmen in der Bevölkerung auf Widerstand stoßen, obwohl sie aus ökonomischer Sicht sinnvoll seien – und daraus Vorschläge für eine bessere ökonomische Politikberatung ableiten.

Methodisch stützt sich der Aufsatz auf eine im Dezember 2024 durchgeführte, quotenrepräsentative Online-Befragung von 3.267 Personen in Deutschland, die über ein Access-Panel rekrutiert wurden. Die Stichprobe wurde nach zentralen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Einkommen und Bundesland an den Mikrozensus angepasst, wobei die Autor:innen ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich nicht um eine Zufallsstichprobe handelt und Selektivitätseffekte nicht vollständig ausgeschlossen werden können. Die Ergebnisse sind daher bewusst ungewichtet ausgewiesen. Erhoben wurde die Zustimmung zu einer Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen aus unterschiedlichen Politikfeldern (Sozial-, Renten-, Arbeitsmarkt-, Klima- und Strukturpolitik). Ergänzend stellten sie die erhobenen Laienmeinungen ausgewählten Positionen aus Ökonomenpanels (ifo/FAZ) gegenüber, ohne dass dabei identische Fragestellungen, Zeitpunkte oder institutionelle Kontexte systematisch harmonisiert wurden. Die empirische Analyse ist primär deskriptiv und korrelativ angelegt; sie erlaubt Aussagen über Zusammenhänge und Muster in den Einstellungen der Befragten, nicht jedoch über kausale Wirkungen oder die normative Angemessenheit der betrachteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen.

Die im Text präsentierten Umfrageergebnisse sind instruktiv, wenn auch nicht neu. Die methodische Beschreibung ist transparent, die Datenlage selbst weitgehend unproblematisch. Die Schwächen des Aufsatzes liegen nicht in der Empirie, sondern in der theoretischen Rahmung, der normativen Setzung und der Art, wie aus den Befunden politische Deutungen abgeleitet werden. Durch sie wird der Text zu einem instruktiven Beispiel für diskursive Einflussnahme im Gewand wissenschaftlicher Objektivität, die nachstehend betrachtet werden soll.

 

Vermeintliche ökonomische Vernunft versus laienhafte Irrationalitäten

Der Aufsatz ist von Beginn an durch eine klare Gegenüberstellung strukturiert: Auf der einen Seite stehen die Ökonomen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie wirtschaftspolitische Maßnahmen entlang von Effizienz- und Nutzenkalkülen bewerten. Auf der anderen Seite stehen die sogenannten ökonomischen Laien. Sie haben – so die Autor:innen des Aufsatzes – in der Regel keine formale wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung. Dabei handelt es sich also um den absolut überwiegenden Teil der Bevölkerung, wenn man davon ausgeht, dass nur 3-5 Prozent der Studierenden im Fach Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben sind.

Laienüberzeugungen stützen sich, so führen die Autor:innen weiter aus, vor allem auf intuitive Einschätzungen, sind anfällig für kognitive Verzerrungen und greifen auf stark vereinfachte oder unzutreffende Annahmen zurück. Diese Annahmen würden zwar auf den ersten Blick schlüssig wirken, stünden jedoch entweder im Widerspruch zu etablierten wissenschaftlichen Erkenntnissen oder bewegen sich außerhalb der in der Ökonomik anerkannten Erklärungsmuster

Die hierbei von Dominik Enste et al. gewählte Formulierung, Laienüberzeugungen liefen dem akademischen Wissensstand „zuwider oder konkurrierten mit ihm“, ist bewusst doppeldeutig und diskursiv keineswegs neutral.

Zuwiderlaufen“ bedeutet, die Überzeugungen widersprechen dem als gesichert geltenden wissenschaftlichen Wissen. Die Hierarchie ist klar – akademische Ökonomik auf der einen, irrige Alltagsannahmen auf der anderen Seite.

Im wissenschaftlichen Kontext bezieht sich „konkurrieren“ auf andere Theorien, Erklärungsmodelle oder Hypothesen innerhalb eines Faches. Bei Laienüberzeugungen, die nach Enste et al. „oft auf Bauchgefühl [bzw.] fehlerhaften Annahmen“ beruhen und „kognitiven Verzerrungen (Biases)“ unterliegen, „mit dem akademischen Wissensstand konkurrieren“, gibt es hingegen keine gleichberechtigte Konkurrenz. Laienüberzeugungen wird hier der Status alternativer Deutungen ohne wissenschaftliche Grundlage zugeschrieben.

Vor dem Hintergrund, dass insbesondere in der Corona-Pandemie wissenschaftlich nicht haltbare Laienpositionen diskursive Gleichberechtigung beanspruchten, obwohl in Virologie, Epidemiologie und Public Health ein breiter, empirisch abgesicherter fachwissenschaftlicher Konsens bestand, ist eine solche Hierarchisierung grundsätzlich plausibel. Zumal mit dem gegenwärtigen US-Gesundheitsminister Kennedy Jr. diese Haltung zu „alternativen Fakten“ über exekutive Handlungsmöglichkeiten verfügt und diese notorisch gegen wissenschaftliche Empirie einsetzt.

Der hier diskutierte Fall unterscheidet sich davon jedoch. Denn in der Wirtschaftspolitik bewegen sich viele als „laienhaft“ markierte Positionen innerhalb realer innerwissenschaftlicher Kontroversen, in denen unterschiedliche theoretische Ansätze, empirische Befunde und normative Prämissen nebeneinanderstehen. Der von den Autor:innen erörterte Konflikt verläuft daher nicht zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, sondern zwischen konkurrierenden wissenschaftlich legitimierten Deutungen, die in politische Präferenzen übersetzt werden.

 

Chimäre eines ökonomischen Konsenses

Im Aufsatz werden ökonomische Annahmen rationalen Verhaltens – konkret Effizienzüberlegungen, Nutzenmaximierung und aggregierte Wohlfahrtseffekte – als Position „der Ökonomen“ gekennzeichnet und den Gerechtigkeitsvorstellungen ökonomischer Laien gegenübergestellt. Dabei erfolgt jedoch kein Vergleich zweier Gerechtigkeitskonzepte, sondern ein Vergleich unterschiedlicher Bewertungsebenen. Auf der einen Seite modellbasierte Effizienzannahmen der Ökonomik, auf der anderen Seite alltagsweltliche Fairness- und Gerechtigkeitsurteile.

Diese Gegenüberstellung ist methodisch unsauber, weil sie ökonomische Zweck-Mittel-Relationen mit normativen Urteilen über Verteilung und Legitimität vergleicht. Es werden also nicht zwei normative Theorien oder zwei Gerechtigkeitskonzepte kontrastiert, sondern Rationalitätsannahmen mit moralischen Bewertungen.

Hinzu kommt, dass Gerechtigkeitsvorstellungen im Alltagsbewusstsein nicht notwendig rein intuitiv oder irrational sind. Vielmehr sind sie häufig kulturell vermittelt (z. B. Leistungs-, Bedarfs- oder Chancengerechtigkeit), institutionell gelernt (Sozialstaat, Arbeitsrecht, Tarifautonomie), oder theoretisch anschlussfähig an explizite Gerechtigkeitstheorien (Rawls, Sen, progressive oder christlich-soziale Traditionen).

Viele sogenannte „Laienurteile“ reproduzieren damit normative Konzepte, die auch in der politischen Philosophie und der normativen Ökonomik systematisch ausgearbeitet sind. Dass diese Urteile nicht formalisiert oder modelliert auftreten, bedeutet nicht, dass sie theorielos sind.

Enste et al suggerieren eine klare Trennlinie zwischen wissenschaftlicher Rationalität und gesellschaftlicher Wahrnehmung, wo in Wirklichkeit innerwissenschaftliche Konflikte verlaufen. Die Ökonomik ist keine einheitliche Disziplin. Sie ist geprägt von tiefgreifenden Kontroversen zwischen neoklassischen, keynesianischen, postkeynesianischen, institutionenökonomischen und politischen-ökonomischen Ansätzen, um nur einige zu nennen. Fragen nach Mindestlöhnen, Sozialstaatlichkeit, Rentenpolitik oder Klimaschutz werden innerhalb der Ökonomik seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert – nicht zwischen „Experten“ und „Laien“, sondern zwischen unterschiedlichen theoretischen Schulen. Diese Konfliktlinien blendet der Text absichtlich aus.

Besonders deutlich wird diese Engführung im Abschnitt zu Ethik und Fairness. Der Aufsatz behauptet, Ökonom:innen neigten dazu, utilitaristische Prinzipien anzuwenden und Effizienz mit Fairness gleichzusetzen. Demgegenüber würden Laien stärker deontologisch argumentieren und sich an moralischen Regeln orientieren.

Diese Darstellung ist normativ aufgeladen und theoretisch verkürzt. Utilitarismus ist keineswegs die unhinterfragte Grundlage ökonomischen Denkens. Normative Ungleichheits- und Gerechtigkeitsforschungen à la Rawls, Sen oder Atkinson widersprechen explizit der Gleichsetzung von Effizienz und Gerechtigkeit. Auch keynesianische und institutionenökonomische Perspektiven verstehen Verteilung, soziale Sicherheit und Machtasymmetrien nicht als moralische Zusatzfragen, sondern als ökonomisch relevante Größen.

Im Umgang mit den Daten spiegelt sich die Aufladung und Verkürzung im Text. Besonders deutlich zeigt sich dies an der Thematisierung des Mindestlohns. Einer Zustimmung von 66 Prozent der im Panel Befragten zu einem Mindestlohn von 15 Euro wird eine Mehrheit von 56 Prozent der Ökonom:innen gegenübergestellt, die rückblickend die Einführung des Mindestlohns 2015 für einen Fehler halten.

Diese Gegenüberstellung mag methodisch nicht zu überzeugen. Denn hier werden völlig unterschiedliche Fragestellungen miteinander in Beziehung gesetzt, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass es um Mindestlohn geht. Darüber hinaus stellt ein Wert von 56 Prozent von befragten Ökonom:innen, die die Einführung des Mindestlohns rückblickend ablehnen keinen klaren Konsens dar, sondern verweist eher auf einen erheblichen Dissens innerhalb der Ökonomik.

Daraus ein Gegensatz zwischen „Laienintuition“ und „ökonomischer Expertise“ zu konstruieren, ist ziemlich weit hergeholt – hat aber immerhin, wie die Autor:innen in einer Danksagung erwähnen, zwei anonyme Gutachter:innen ebenso wenig gestört, wie die Herausgeber:innen vom Verein für Socialpolitik, „deren sehr wertvolle Impulse […] zur klareren Fokussierung des Artikels geführt sowie die Analyse und Bewertung der Ergebnisse bereichert haben.“

 

Biases – aber bitte nur bei den anderen

Der Aufsatz benennt, wie dargelegt, ausführlich vermeintlich kognitive Verzerrungen auf Seiten der Bevölkerung: Verlustaversion, Status-quo-Bias, Fairnessheuristiken. Und nicht nur bei der Wahlbevölkerung, sondern auch bei Politiker:innen, wie Enste et al hervorheben:

„Wie die Wähler verfügen nur weniger Politiker über einen (betriebs- oder volks-)wirtschaftlichen Hintergrund: Lediglich 18,7 Prozent der Abgeordneten des vergangenen (20.) Bundestages haben ein wirtschaftswissenschaftliches Studium abgeschlossen. […] Auch sie sind daher als Laien im Sinne der hier geltenden Definition zu erfassen. Wenn die Angehörigen dieser beiden Gruppen ökonomische Zusammenhänge verzerrt wahrnehmen, kann dies zu politischen Entscheidungen führen, die (langfristig) nicht im besten Interesse der Gesellschaft liegen.“

Starke Aussage. Dass auch Expert:innen nicht frei von Biases sind, wird zwar kurz erwähnt, bleibt aber folgenlos. Denn auf eine systematische Reflexion institutioneller und diskursiver Verzerrungen verzichten die Autor:innen ebenso wie auf die auf die kritische Reflexion eigener Rollen. Dies wäre jedoch bedeutsam, denn ökonomische Politikberatung ist kein neutraler Raum. Sie ist eingebettet in Stiftungen, Thinktanks, Auftraggeber und Interessenlagen. Dass zwei der Autor:innen bei der Stiftung Familienunternehmen tätig sind – einem Lobbyverband der mittelständischen Wirtschaft –, wird im Text folgerichtig auch nicht thematisiert und in seiner möglichen Bedeutung für Fragestellung, Auswahl der Vergleichsmaßstäbe, normative Setzungen und Interpretation der Ergebnisse auch nicht reflektiert.

Dass eine solche Einbindung jedoch analytisch relevant ist, weil zentrale Argumentationslinien des Aufsatzes – Skepsis gegenüber Mindestlöhnen, Betonung von Arbeitskosten, Präferenz für Angebotsanreize – mit den Interessen dieser Akteur:innen korrespondieren, liegt freilich auf der Hand. Doch Enste et al verorten Biases individualpsychologisch bei den Laien, während dasselbe Phänomen auf Seiten der ökonomischen Expert:innen unberücksichtigt bleibt.

 

Welche Politikberatung?

Diese Schieflage kulminiert im abschließenden Kapitel. Die Empfehlungen bleiben bemerkenswert dünn. Im Kern beschränken sie sich auf den Appell, verhaltensökonomische Erkenntnisse stärker zu berücksichtigen und wirtschaftspolitische Maßnahmen besser zu kommunizieren.

Nicht thematisiert wird,

  • ob bestimmte ökonomische Empfehlungen selbst normativ umstritten sind,
  • wie mit legitimen Interessenkonflikten demokratisch umzugehen ist,
  • oder wann gesellschaftliche Ablehnung ein Hinweis auf reale Verteilungswirkungen darstellt.

Akzeptanz erscheint hier als pädagogisches Problem der Bevölkerung, nicht als Prüfstein ökonomischer Politikberatung. Die Möglichkeit, dass Wählerpräferenzen Ausdruck rationaler Erfahrungen mit Unsicherheit, Machtasymmetrien oder sozialer Ungleichheit sind, blendet das Autor:innenkollektiv vom IW Köln und der Stiftung Familienunternehmen aus.

Die Richtung des Aufsatzes entspricht dem bekannten Palmströmschen Prinzip: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“. Erkenntnis wird dabei nicht aus Beobachtung gewonnen, sondern aus der Vorentscheidung, was sein darf.

Enste et al zeigen exemplarisch, wie wissenschaftliche Autorität genutzt wird, um bestimmte wirtschaftspolitische Deutungen zu stabilisieren, ohne ihre normativen und institutionellen Voraussetzungen offenzulegen. Innerökonomische Kontroversen werden externalisiert, demokratische Präferenzen pathologisiert und Politikberatung auf Kommunikationsoptimierung reduziert.

Wirtschaftspolitik ist kein technokratisches Erziehungsprojekt – egal in welche Richtung widerstreitender ökonomischer Theorien. Vielmehr ist sie ein Feld legitimer Auseinandersetzungen über Verteilung, Risiko und gesellschaftliche Prioritäten. Wissenschaft kann diese Konflikte erhellen; sie sollte jedoch weder durch diskursive Setzungen unsichtbar machen noch so argumentieren, als träfen politische Laien per se falsche ökonomische Entscheidungen, wenn sie sich an anderen normativen Maßstäben als der jeweils dominanten ökonomischen Orthodoxie orientieren.