Realistische Utopien und ostdeutsche Suppenküche
Soziale Unterschiede sind mit Demokratie vereinbar; ungleiche Teilhabe ist es nicht. Wie eng soziale Lage und politische Beteiligung miteinander verknüpft sind – und welche Folgen das für Repräsentation und demokratischen Zusammenhalt hat, ist empirisch gut belegt: Wahlforschung und Ungleichheitsstudien zeigen seit Jahren, dass mit sinkendem Einkommen, unsicherer Beschäftigung und niedriger Bildung nicht nur die Wahlbeteiligung abnimmt, sondern auch das Gewicht ganzer Milieus im politischen Prozess. Armin Schäfer hat diesen Befund als „Verlust politischer Gleichheit“ beschrieben: Eine niedrige Wahlbeteiligung ist fast immer eine sozial ungleiche Wahlbeteiligung, weil vor allem sozial benachteiligte Gruppen der Urne fernbleiben. Analysen, u.a. der Friedrich-Ebert-Stiftung, bestätigten das auf kleinräumiger Ebene: Je ärmer ein Stadtteil oder Wahlkreis, desto niedriger die Beteiligung – und desto geringer die Chance, dass die Lebenslage der Prekarisierten überhaupt repräsentativ abgebildet wird.
Inzwischen liegt für das zivilgesellschaftliche Engagement ein ganz ähnliches Bild vor. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2019 zeigte, dass zwar rund 40 Prozent der Bevölkerung sichtbar engagiert sind, die Ungleichheit der Engagementbeteiligung aber zugenommen hat: Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen und höherem Einkommen weiteten ihr Engagement aus, während die Beteiligung in den unteren Bildungs- und Einkommensgruppen stagnierte oder zurückging.
Der von Christoph Gille und Katja Jepkens 2022 herausgegebene Band Teilhabe und Ausschlüsse im Engagement fasst entsprechende Studien zusammen: Engagementorganisationen bilden soziale Spaltungen ab, anstatt sie zu überwinden, wenn sie vorrangig ressourcenstarke, mobilisierungsnahe Milieus erreichen.
Für die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt führte Bettina Hollstein das Projekt „Erfahrungen von sozial Benachteiligten Menschen im ehrenamtlichen Engagement“ durch, dessen Erkenntnisse, was Organisationen für die Förderung des Engagements lernen können, im Jahr 2024 veröffentlicht wurden. Deutlich wurde auch darin, dass Ehrenamtliche im Durchschnitt eher männlich, besser gebildet und einkommensstärker sind. Menschen in Armut hingegen sind unterrepräsentiert und ihr Zugänge zu Selbstwirksamkeit, Anerkennung und Netzwerken sind vielfach verschlossen.
Prekarisierung ist, dies muss immer wieder hervorgehoben werden, mehr als „nur“ materielle Knappheit. Sie begrenzt Zeitbudgets und Planbarkeit, erhöht die Abhängigkeit von Umständen, deren Wirkung oft als unabänderlich wahrgenommen werden, schwächt Vertrauen in Institutionen und produziert Räume, in denen sich politische Öffentlichkeit oder Teilhabe kaum mehr bildet. Studien zu politischer Partizipation marginalisierter Menschen zeigen, dass diese – entgegen weitläufiger Annahmen – keineswegs „apathisch“ sind, aber eben in formellen Beteiligungsformaten systematisch unterrepräsentiert bleiben – und wenn, ihre Interessen eher in nachbarschaftlichen Initiativen, Selbsthilfezusammenhängen oder Konflikten vor Ort artikulieren.
Die Folge sind mehrfache Ausschlüsse: von Entscheidungen, von symbolischer Anerkennung und von jenen Lern- und Mobilisierungserfahrungen, die bürgerschaftliches Engagement für Mittel- und Oberschichten so attraktiv machen.
Der Think Tank More in Common hat diese Spaltung mit einem sozialpsychologischen Zugang für Deutschland vermessen. In der bereits 2019 publizierten Studie Die andere deutsche Teilung identifizierte sie sechs gesellschaftliche Typen mit unterschiedlichen Wertorientierungen:
- die Offenen (Selbstentfaltung, Weltoffenheit),
- die Involvierten (Bürgersinn, Miteinander),
- die Etablierten (Sicherheit, Ordnung),
- die Pragmatischen (privates Fortkommen, Kontrolle),
- die Enttäuschten (verlorene Gemeinschaft, fehlende Wertschätzung) und
- die Wütenden (national-autoritäre Ordnung, grundlegendes Misstrauen).
Daraus leitete More in Common eine Dreiteilung ab:
- die gesellschaftlichen Stabilisatoren (Etablierte und Involvierte),
- die gesellschaftlichen Pole (Offene und Wütende) und
- das unsichtbare Drittel aus Pragmatischen und Enttäuschten, das durch schlechte Einbindung, geringen Selbstwirksamkeitserfahrungen und einem hohen Maß an Desorientierung geprägt ist.
Dieses unsichtbare Drittel hat dieselben normativen Ansprüche auf Mitsprache und Teilhabe, wird aber von Politik und Beteiligungsformaten kaum adressiert und meidet aus oben beschriebenen Gründen konfliktorientierte Diskurse. Beteiligungsangebote, die vor allem auf diskursive Selbstwirksamkeit, Zeitressourcen und politisches Vorwissen setzen, erreichen überproportional die Stabilisatoren und Teile der Pole, während das unsichtbare Drittel fernbleibt – aus Misstrauen, Überforderung oder weil der Modus der Teilnahme nicht zu seiner Lebensrealität passt.
Kaßner und Kersting sprechen in diesem Zusammenhang von „neuer Beteiligung und alter Ungleichheit“: Auch innovative Formate reproduzieren alte Exklusionen, wenn sie nicht gezielt an den Marginalisierungslagen und Alltagserfahrungen beteiligungsferner Gruppen ansetzen.
Für diejenigen, die tatsächlich interessiert sind, diese Lücke zu schließen, hat Bettina Hollstein, von der in diesem Beitrag bereits die Rede war, im Campus-Verlag ein exzellentes Buch vorgelegt: »Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Erfahrungen in einer Suppenküche in Ostdeutschland«. Hollstein, die als wissenschaftliche Geschäftsführerin des Max- Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt tätig ist, verschiebt den Blick von den „üblichen Verdächtigen“ des bürgerlichen Engagements auf eine Praxis, in der Prekarisierte in der Unterstützung für Arme tätig sind. In der ostdeutschen Suppenküche, die sie untersucht, engagieren sich Menschen, die selbst von Erwerbslosigkeit, Krankheit, prekären Wohnverhältnissen und sozialer Stigmatisierung betroffen sind; viele kommen über Maßnahmen des Jobcenters, den Bundesfreiwilligendienst oder Sozialstunden in die Einrichtung und bleiben, weil sie dort Anerkennung, Struktur und eigene Wirksamkeit erfahren.
Hollstein arbeitet konsequent „from below“ im Sinne der von Jepkens, Sehnert und van Rießen inspirierten Perspektive: Engagement erscheint als Arbeiten an der eigenen Partizipation, nicht als altruistische Zusatzleistung der Mittelschicht.
Methodisch verbindet sie die von More in Common angestoßene Debatte über gesellschaftliche Spaltungen mit einer pragmatistischen Handlungstheorie à la Dewey und Jane Addams. Sie hört den Engagierten in narrativen Interviews zu (Kapitel 3), analysiert den institutionellen und sozialstaatlichen Kontext der Suppenküche (Kapitel 4) und rekonstruiert im fünften Kapitel Engagement als tätiges Handeln, das Resonanz, Selbstachtung und demokratische Lernerfahrungen ermöglicht – gerade unter Bedingungen von Prekarisierung. Aus dieser empirisch dichten Nahaufnahme entwickelt sie im abschließenden Kapitel 6 „Wider die Resignation – was wir tun können“ normative Vorschläge, wie Engagement von sozial Benachteiligten politisch ernst genommen und institutionell gefördert werden sollte.
“Realistische Utopien zu entwickeln, klingt wie ein Selbstwiderspruch”, formuliert Bettina Hollstein in ihrem Erfahrungsbuch aus einer ostdeutschen Suppenküche.
Doch im Sinne der US-amerikanischen Sozialaktivistin und Feministin Jane Addams (1860-1935) fährt Hollstein fort, ist mit der Realistischen Utopie gemeint, “keine abstrakten Utopien einer bestmöglichen Welt zu entwerfen, sondern ausgehen von unseren konkreten Lebenswelten Utopien als Erzählung einer besseren Welt zu entwickeln, die ein kritisches Potenzial gegenüber dem Status quo entfalten”.
In diesem Sinne setzt sich Hollstein im zweiten Buchkapitel mit der Frage auseinander, ob bürgerschaftliches Engagement eine Antwort auf die demokratische Erosion sein könne. Dabei geht sie weder normativ noch programmatisch vor, sondern konsequent empirisch, indem sie das Engagement in der Suppenküche als eine Alltagspraxis untersucht, in der sich demokratische Erfahrung überhaupt erst bilden kann. Sie widerspricht der politisch etwas naiv-normativen Erwartung, Engagement könne und müsse im Sinne eines kompakten Demokratieprogramms wirken.
Engagement die Demokratie gerade nicht im Sinne eines Automatismus, sondern nur, wenn es Erfahrungen von Resonanz, Anerkennung, Wirksamkeit und Mitsprache ermöglicht. Hollstein legt dar, dass Engagement nur unter diesen Voraussetzungen zu einem Ort werden kann – auch hier ist der Konjunktiv bedeutsam –, an dem Menschen mit prekären Lebenslagen überhaupt erst in Berührung mit Formen gemeinschaftlicher Gestaltung kommen – oft erstmals seit langer Zeit oder erstmals überhaupt. Ob Engagement demokratiestärkend wirkt, hängt nicht von moralischen Appellen oder institutionellen Beteiligungsinstrumenten ab, sondern von der konkreten Gestaltung sozialer Räume: von partizipativen Routinen, der Möglichkeit, Entscheidungen mitzuprägen, und der erlebbaren Erfahrung, dass eigenes Tun eine Wirkung hat. Damit löst Hollstein die Kapitelüberschrift ein, indem sie zeigt, dass Engagement unter Bedingungen eine demokratische Ressource ist – nicht als Reparaturbetrieb einer beschädigten Demokratie, sondern als alltägliche Praxis einer demokratischen Lebensform.
Im dritten Kapitel verändert Hollstein die Perspektive: Sie tritt zurück und lässt diejenigen sprechen, die in den üblichen Debatten über bürgerschaftliches Engagement selten vorkommen. Die Suppenküche ist kein Ort klassischer Freiwilligenmilieus, sondern ein sozialer Raum, in dem Menschen zusammenarbeiten, deren Biografien von Unsicherheiten, gesundheitlichen Belastungen und materiellen Einschränkungen geprägt sind. Viele gelangen über das Jobcenter, über Sozialstunden oder den Bundesfreiwilligendienst in die Einrichtung und bleiben, weil sie hier eine Form von Struktur, Kontakt und Verlässlichkeit finden, die im Alltag häufig fehlt.
Hollstein ordnet diese Erzählungen nicht vorschnell ein. Sie lässt sie stehen – mit ihren Brüchen, ihrer Klarheit und ihren tastenden Beobachtungen. Eine Engagierte beschreibt, dass ihr die Arbeit „den Tag ordnet“ und sie „nicht nur zuhause rumsitzt“. Ein anderer berichtet, dass er beim Kochen und Servieren „merkt, dass man gebraucht wird“, obwohl er selbst mit Krankheit und Erwerbslosigkeit ringt. Solche Stimmen öffnen den Blick auf eine Praxis, die unter Bedingungen der Prekarität Möglichkeiten von Stabilität, Beziehung und Anerkennung schafft.
Gerade durch diese unaufdringliche, genaue Nahaufnahme gewinnt das Kapitel seine Bedeutung. Hollstein zeigt, dass Engagement in der Suppenküche nicht als moralischer Zusatzakt verstanden werden muss, sondern als ein Ort, an dem Menschen ihre Handlungsfähigkeit und soziale Einbindung neu erfahren. Wer nachvollziehen möchte, wie Formen gesellschaftlicher Teilhabe unter belasteten Bedingungen entstehen – und welches demokratische Potenzial darin liegen kann –, findet in diesem Kapitel einen Zugang, der den Blick auf Engagement deutlich erweitert. Es wirkt wie das Herzstück des Buches, weil hier hörbar wird, wie die Engagierten selbst ihre Wirklichkeit beschreiben.
An diese Stimmen knüpft das vierte Kapitel an, indem es den Blick vom Erleben der Engagierten auf die Bedingungen richtet, unter denen ihre Arbeit stattfindet. Während Kapitel 3 zeigt, was die Suppenküche für die Engagierten bedeutet, rekonstruiert Kapitel 4, wie der organisatorische und räumliche Rahmen diese Erfahrungen ermöglicht oder begrenzt. Hollstein beschreibt hier die sozialen Routinen, die Verteilung von Verantwortung, die Rolle der Hauptamtlichen und die Wirkung des Raums selbst – als Ort des Essens, des Wartens, des Austauschs und gelegentlicher Konflikte. Damit wird sichtbar, dass Engagement nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern auf konkrete Arrangements angewiesen ist, die Partizipation fördern können, aber ebenso schnell verengen. Dieser Perspektivwechsel verbindet die individuellen Erzählungen des dritten Kapitels mit der institutionellen Analyse, die für das weitere Verständnis des Buches zentral ist.
Im fünften Kapitel wendet Hollstein den Blick von den konkreten Erzählungen und Beobachtungen zu den handlungstheoretischen Voraussetzungen von Engagement. Sie setzt bei der Beobachtung an, dass viele Engagierte nicht aus eigenem Antrieb zur Suppenküche kommen, sondern über Institutionen wie das Jobcenter oder Beratungsstellen vermittelt werden. Diese Institutionen schaffen Anlässe, eröffnen aber noch keinen stabilen Bezug zur Einrichtung. Entscheidend ist für Hollstein deshalb die Frage, unter welchen Bedingungen aus einem solchen Anlass ein längeres, verlässliches Engagement entsteht. Ihre Antwort verbindet empirische Einsichten aus den Interviews mit einem pragmatistischen Verständnis von Handlung.
Hollstein beschreibt drei Motivationslagen, die miteinander verschränkt sein müssen, damit Menschen unter prekären Bedingungen dauerhaft engagiert bleiben. Zum einen braucht es einen konkreten Nutzen: etwa Tagesstruktur, soziale Kontakte oder die Erfahrung, eine Aufgabe zu haben. Viele Engagierte haben in den Interviews hervorgehoben, dass die Suppenküche ihnen einen Rahmen gibt, der im restlichen Alltag oft nicht vorhanden ist. Zum zweiten betont Hollstein die normative Dimension. Manche Engagierte verweisen auf religiöse oder biografische Gründe, aus denen sie das Helfen als geboten ansehen. Diese normativen Bezüge sind dabei weniger moralische Selbstzuschreibungen als Ausdruck eines Verständnisses von Verantwortung, das sich aus der eigenen Lebensgeschichte ergibt. Drittens hebt Hollstein die Bedeutung der Erfahrungen hervor, die im Tun selbst liegen: die körperliche Arbeit, das gemeinsame Kochen, das Miteinander im Team. Diese Formen der leiblich-sinnlichen Erfahrung erzeugen ein Gefühl von Wirksamkeit, das weder instrumentell noch rein normativ erklärbar ist.
Diese Motivationslagen bilden miteinander verbundene Voraussetzungen einer Engagementpraxis in prekärer Lebenslage. Unter günstigen Bedingungen entsteht daraus eine Form sozialer Einbindung, die für viele Engagierte eine spürbare Erweiterung ihres Alltags bedeutet: Sie erleben sich als Teil eines Zusammenhangs, der sie braucht und den sie mitgestalten können. Gleichzeitig bleibt sichtbar, dass diese Prozesse auf die Unterstützung der Organisation angewiesen sind – auf Routinen, die Beteiligung ermöglichen, auf Anerkennung und auf einen Umgang, der die Engagierten nicht auf ihre Rolle als Leistungsbeziehende reduziert. Hollstein zeigt damit, wie eng individuelle Motivationen und organisatorische Rahmenbedingungen verknüpft sind und wie aus dieser Verbindung jene demokratierelevanten Erfahrungen hervorgehen, die sie im weiteren Verlauf des Buches ausarbeitet.
Im abschließenden Kapitel bündelt Hollstein ihre empirischen und theoretischen Befunde zu einer Reihe von Empfehlungen, die sich auf drei Ebenen richten: auf das einzelne Engagement, auf Organisationen und auf staatliche Akteure. Für das individuelle Engagement betont sie, dass Menschen Gelegenheiten brauchen, Neues auszuprobieren und Resonanz zu erfahren. Dazu gehören niedrigschwellige Formen des Mitwirkens, die nicht auf politische Vorerfahrung oder stabile Ressourcen angewiesen sind. Auf organisationaler Ebene fordert sie eine Kultur der Anerkennung und der Beteiligung: Freiwillige sollen nicht als Hilfskräfte gesehen werden, sondern als Personen, die an Entscheidungen beteiligt werden und Gestaltungsmöglichkeiten erhalten. Dies gilt ebenso für die Gäste der Suppenküche, deren Einbindung in der Vergangenheit unterschiedlichen sozialarbeiterischen Konzepten folgte und deren Potenziale stärker aktiviert werden könnten. Gegenüber staatlichen Akteuren hebt Hollstein hervor, dass Engagementförderung nicht nur infrastrukturelle Unterstützung leisten sollte, sondern Räume schaffen muss, in denen auch sozial benachteiligte Gruppen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit machen können. Engagementpolitik dürfe keine Fortsetzung sozialer Ungleichheit sein, sondern müsse gezielt jene Gruppen erreichen, die von Ausschlüssen betroffen sind. Damit skizziert Hollstein keine umfassende Reformagenda, sondern einen Orientierungsrahmen, der Engagement als Teil einer demokratischen Infrastruktur begreift.
Vor diesem Hintergrund wird sichtbar, wie Hollstein die von Steffen Mau beschriebenen „Allmählichkeitsschäden“ der Demokratie aufnimmt: Demokratische Kultur erodiert nicht spontan, sondern über längere Phasen, in denen Unzufriedenheit wächst, repräsentative Bindungen schwächer werden und sich Teile der Gesellschaft sozial wie politisch zurückziehen. Hollstein deutet das Engagement benachteiligter Menschen als Möglichkeit, diesen schleichenden Prozessen etwas entgegenzusetzen. Dabei bleibt sie nicht bei der Vorstellung einer „Ertüchtigung“ der Demokratie stehen, sondern legt offen, dass Engagement eine Form der Selbstermächtigung ist. In der Suppenküche entsteht für die Engagierten ein Raum, in dem sie Handlungsfähigkeit, Resonanz und Anerkennung erfahren – und damit auch die Möglichkeit, jene Umstände zu verändern, die ihre Prekarisierung prägen. Engagement erscheint so als praktische Arbeit an der eigenen Lebenslage und zugleich als Beitrag zu einer demokratischen Kultur, die nicht durch institutionelle Beteiligungsangebote allein gesichert wird.
In dieser Perspektive wird Hollsteins Studie zu einer Intervention in eine doppelte Lücke. Zum einen nimmt sie die Befunde der Wahl- und Beteiligungsforschung zu sozialer Ungleichheit ernst: Menschen in prekären Lebenslagen beteiligen sich seltener und werden im politischen Prozess unterrepräsentiert. Zum anderen widerspricht sie der verbreiteten Annahme, Zivilgesellschaft bestehe im Wesentlichen aus gut situierten, bildungsnahen Milieus. Indem Hollstein das Engagement in einer ostdeutschen Suppenküche rekonstruiert, zeigt sie, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt dort entsteht, wo das „unsichtbare Drittel“ kaum vorkommt, und wie aus alltäglichen Praktiken „realistische Utopien“ einer demokratischen Infrastruktur hervorgehen können, bei denen nicht über Prekarisierte paternalistisch gesprochen, sondern mit ihnen und durch sie eine konkrete Praxis als realistische Utopie entwickelt wird. Das Buch wurde gefördert aus Open-Access-Mitteln der Universität Erfurt und ist deshalb ohne Unkosten als E-Book abrufbar.