Zukunftsfragen gewerkschaftlicher Organisierung
Die Herausforderungen der IG Metall in der Polykrise skizzierten der Darmstädter Gewerkschaftssekretär Joshua Seger und Moritz Müller, Bildungsreferent im IG Metall-Bildungszentrum Sprockhövel jüngst ebenso prägnant wie unmissverständlich in einem Beitrag des Forum Gewerkschaften in der Monatszeitschrift Sozialismus 11/2025:
„In den Betrieben, der Tarifpolitik und der politischen Arena stehen die deutschen Gewerkschaften derzeit vor der größten Herausforderung seit ihrer Neugründung nach 1945. In der Industrie sind sie mit Massenentlassungen und Werksschließungen konfrontiert, während Mitgliederzahlen sinken, die Tarifbindung historisch niedrig ist, Tarifabschlüsse bestenfalls Reallohnverluste verhindern sowie demokratische Strukturen und Rechte ebenso wie der Sozialstaat von der Politik sowie der Kapitalseite angegriffen werden.“
Die Gewerkschaften stecken fest, so Seger/Müller, „in der Defensive“. Vor diesem Hintergrund formulieren beide Autoren fünf miteinander verschränkte Thesen. Darin beschreiben sie die IG Metall als zentrale Akteurin in der Polykrise und skizzieren zugleich ein erweitertes, politisiertes Verständnis gewerkschaftlichen Handelns:
Erstens erodieren in der Polykrise die Grundlagen des bisherigen Erfolgsmodells: Beschäftigte litten unter Massenentlassungen, Werksschließungen, Klimakrise, Aufrüstung und Sozialstaatsabbau, während Gewerkschaften trotz wachsender Problemlagen kaum wirksam gegensteuern konnten.
Zweitens soll gewerkschaftliche Demokratiepolitik nicht nur den Status quo verteidigen, sondern Unzufriedenheiten bündeln, Kritik an den herrschenden demokratischen Verhältnissen aufnehmen und eine kohärente demokratische Gegenmacht entwickeln.
Drittens benötigen Gewerkschaften eigene Polarisierungsfähigkeit, statt vor Spaltung zu warnen, weil Konflikte zwischen Kapital und Arbeit den Kern gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bildeten und nicht durch Harmonisierung überbrückt werden könnten.
Viertens verlangt die wachsende Passivierung der Beschäftigten nach einer Reform der Mitbestimmungs- und Gewerkschaftsstrukturen, damit möglichst viele Beschäftigte selbst für ihre Interessen aktiv werden wollen – und können.
Fünftens erfordert aus Sicht von Seger/Mülle eine Wiederbelebung und Erneuerung gewerkschaftlicher Kampfkraft, insbesondere den Aufbau starker Vertrauensleutestrukturen und politischer Bildungsprozesse, um wieder mehrheitsfähige Arbeitskämpfe organisieren zu können.
Gewerkschaften verstehen sie nicht allein als politische Organisationen der abhängig Beschäftigten, mit der Aufgabe des bloßen Schutzes vorhandener Rechte, sondern in der aktiven Auseinandersetzung mit kapitalistischen Machtverhältnissen. Konflikte sind darin keine zu überwindende Störung eines abstrakten Gleichgewichts, sondern zwangsläufiger Ausdruck gesellschaftlicher Interessengegensätze. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit, deren künftige Ausrichtung und Organisation in der IG Metall gegenwärtig intensiv debattiert wird, ist aus Sicht von Seger/Müller bedeutsamer Motor dieser Veränderung: Sie soll Kritikfähigkeit stärken, politische Deutungen vermitteln, Polarisierung begründet einsetzen und die Organisationsmacht der Beschäftigten erweitern. Das ist leichter gesagt an getan, wie Seger/Müller aus ihrer eigenen täglichen Praxis wissen.
Und wie sich anhand zweier Untersuchungen nachzeichnen lässt, die in jüngerer Zeit im Frankfurter Campus Verlag erschienen sind. Nachfolgend betrachtet werden die Promotion von Alexander Maschke »Aus der Krise zur Stärke? Zur Konstituierung industriegewerkschaftlicher Subjekte in Ostdeutschland« sowie die Studie »Gesellschaftsbilder. Die Zukunft gewerkschaftlichen Engagements« der Forscher:innen des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) in Göttingen, Martin Kuhlmann, Milena Prekodravac, Stefan Rüb und Berthold Vogel.
Beide Untersuchungen, die räumlich und zeitlich unabhängig voneinander entstanden und sich auch nicht aufeinander beziehen, berühren gleichwohl zwei miteinander verknüpfte Fragen:
1) Wie verstehen gewerkschaftlich Aktive die Gesellschaft, in der sie handeln?
2) Und wie verändern sie die Organisation, die auf ihre Erfahrungen angewiesen ist?
Die SOFI-Studie über Gesellschaftsbilder des IG-Metall-Ehrenamts und Alexander Maschkes Untersuchung zur organisationalen Lernfähigkeit der IG Metall geben auf diese beiden Fragen unterschiedliche, aber komplementäre Antworten. Während das SOFI die subjektiven Orientierungen und politischen Selbstverständnisse der Ehrenamtlichen rekonstruiert, analysiert Maschke die strukturellen und kulturellen Bedingungen gewerkschaftlicher Erneuerung. Im Zusammenspiel beider Ansätze entsteht ein Bild davon, wie sich gewerkschaftliches Engagement heute formt – und wo seine Grenzen liegen – bzw. mit Seger/Müller: wohin das gewerkschaftliche Engagement entwickelt werden müsste.
Gewerkschaftliches Lernen im Spannungsfeld von Dienstleistung und Beteiligung
Vorauszuschicken ist, dass Maschkes Studie mit 520 Seiten exakt doppelt so umfangreich ist, wie der Göttinger Forschungsbericht. Und leider schlägt insbesondere in für ein akademisches Publikum verfassten Dissertationen die dafür erwartete Quantität nicht zwangsläufig in eine höhere Lesequalität um. Eine kurzenund wie auch seine Studie lesenswerten Bericht über seine Erkenntnisse publizierte Alexander Maschke in der gewerkschaftlichen Zeitschrift Express 4/2025 unter dem Titel »In ganz kleinen Schritten zur aktiven Basis. Die IG Metall versucht die Selbsttätigkeit der Ehrenamtlichen lokal zu stärken«.
»Aus der Krise zur Stärke?« entstand aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt und analysiert gewerkschaftliche Erneuerungsprozesse in der industriellen Peripherie. Ein Ziel der Arbeit besteht darin, zu verstehen, wie unter Bedingungen struktureller Schwäche kollektive Handlungsfähigkeit entstehen kann – und was Gewerkschaften aus diesen Prozessen lernen können.
Zugleich verbindet Maschke empirische Beobachtung mit theoretischer Reflexion sowie einem wissenschaftstheoretischen Anspruch: der Herausbildung einer öffentlichen Gewerkschaftssoziologie.
Maschke arbeitete qualitativ, praxisnah und partizipativ. Er untersuchte den sogenannten „Geschäftsstellenprozess“ der IG Metall Mecklenburg-Vorpommern – eine mehrjährige Organisationsentwicklung, mit der die Handlungsfähigkeit der Geschäftsstellen Schwerin, Rostock und Stralsund gestärkt werden sollte.
Die Erhebung beruhte auf Dokumentenanalysen (Protokolle, Projektberichte, interne Evaluationen), teilnehmender Beobachtung in Sitzungen, Seminaren und Beratungsprozessen sowie Gruppendiskussionen mit Hauptamtlichen, Betriebsräten und Aktiven.
Methodisch legte Maschke seine Forschung als „Lernpartnerschaft“ zwischen Wissenschaft und Praxis an: Forschung soll nicht über die Akteure hinweg, sondern mit ihnen betrieben werden. Er sah sich dabei ausdrücklich nicht als externer Beobachter, sondern als Teil des Prozesses – mit allen Spannungen, die das Verhältnis von Nähe und Distanz mit sich bringt.
Maschkes zentrale Frage lautet, wie unter Bedingungen struktureller Schwäche und geringer Tarifbindung gewerkschaftliches Lernen entstehen kann – also die Fähigkeit, Erfahrungen zu verarbeiten, Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und Erneuerung aus sich selbst heraus zu ermöglichen?
Dabei beschreibt er kein allgemeines Modell gewerkschaftlicher Erneuerung, sondern eine Fallstudie in einer besonderen Konstellation – die aber typische Probleme sichtbar macht, die in anderen Regionen in abgemilderter Form ebenfalls existieren dürften. Die besondere Konstellation besteht in:
- geringer gewerkschaftliche Dichte,
- hohem Anteil kleiner und mittelständischer Betriebe,
- begrenzter institutioneller Machtressourcen,
- großen Entfernungen zwischen den Standorten der Geschäftsstellen,
- starker Belastung der Hauptamtlichen und einem schwachen Netz von betrieblich verankerten Aktiven.
In der Untersuchung werden mehrere theoretische Traditionen, die in der deutschsprachigen Arbeits- und Gewerkschaftsforschung bislang selten miteinander verschränkt wurden, zusammengeführt. Sie bilden die Grundlage einer von Maschke als bedeutsam zu entwickeln, skizzierten öffentlichen Gewerkschaftssoziologie. In ihr sollen empirische Beobachtung, Organisationsanalyse und gesellschaftstheoretische Reflexion zusammengeführt werden.
Zu den theoretischen Traditionen, auf die Maschke sich bezieht, gehört der Machtressourcenansatz. Er wurde vor allem von Stefan Schmalz und Klaus Dörre (2014) entwickelt und baut auf Überlegungen des amerikanischen Soziologen Erik Olin Wright und des politischen Ökonomen Walter Korpi auf. Gefragt wird danach, auf welchen Ressourcen gewerkschaftliche Macht beruht und wie diese im Wandel kapitalistischer Produktionsweisen verändert werden.
Schmalz/Dörre identifizieren vier Typen von Machtressourcen: (1) strukturelle Macht – ergibt sich aus der Stellung der Beschäftigten im Produktionsprozess (z. B. Streikmacht), (2) Organisatorische Macht – basiert auf Mitgliedschaft, Mobilisierung und Solidarität, (3) Institutionelle Macht – entsteht durch Mitbestimmung, Tarifbindung oder Sozialpartnerschaft und (4) Gesellschaftliche Macht – beruht auf öffentlicher Legitimation, Bündnissen und kultureller Deutungshoheit, erweitert Maschke um eine fünfte Dimension: „Reflexivität ist selbst eine Machtressource: die Fähigkeit, über die eigenen Bedingungen der Handlungsfähigkeit zu reflektieren“. Er spricht von „reflexiven Machtressourcen“, also der Fähigkeit von Organisationen, aus Erfahrung zu lernen, ihre Routinen zu hinterfragen und aus Widersprüchen kollektive Lernprozesse zu machen. Damit verschiebt Maschke den Fokus des Ansatzes: Macht entsteht nicht nur durch Ressourcen, sondern auch durch das bewusste Lernen im Umgang mit ihnen.
Zum zweiten überträgt Maschke einen regulationstheoretischen Rahmen auf Mecklenburg-Vorpommer und bezeichnet die Region als „post-fordistische Peripherie“, in der die traditionellen Institutionen industrieller Beziehungen – Tarifbindung, Betriebsräte, Sozialpartnerschaft – zwar formal weiter bestehen, aber faktisch an Wirkung verlieren: „Die fordistische Regulationsweise zerfällt, bevor eine neue stabile Form gefunden ist“. Gewerkschaftliche Lern- und Erneuerungsprozesse finden demnach in einer nicht mehr regulierten, aber auch noch nicht neu regulierten postfordistischen Ordnung statt.
Die Schule der Kritischen Psychologie, auf die sich Maschke darüber hinaus bezieht, wurde in den 1970er-Jahren von Klaus Holzkamp und seinen Kolleg:innen an der Freien Universität Berlin erarbeitet und versteht sich als Gegenentwurf zur individualistischen Psychologie, indem sie untersucht, wie gesellschaftliche Verhältnisse individuelle Handlungsmöglichkeiten prägen. Zentral ist der Begriff der Subjektivierung: Menschen sind nicht passive Produkte sozialer Bedingungen, sondern handelnde Subjekte, die ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen aneignen, deuten und verändern können.
Holzkamp definierte Subjektivität als „Vermittlung zwischen individueller Erfahrung und gesellschaftlicher Praxis“. Maschke knüpft daran an, wenn er schreibt: „Subjektivierung ist kein pädagogisches Projekt, sondern das Resultat gemeinsamer Erfahrung, Konflikt und Anerkennung“. Für ihn ist gewerkschaftliches Lernen ein Prozess, in dem Menschen durch kollektive Praxis ihre eigene Wirksamkeit erfahren – oder verlieren, wenn Organisationen diese Erfahrung nicht zulassen. Die Kritische Psychologie liefert somit den subjekttheoretischen Kern seiner Untersuchung: Ohne subjektive Aneignung bleibt jede Organisationsreform leer.
Maschkes Untersuchung über die IG Metall in Mecklenburg-Vorpommern setzte an einer Grundfrage an: Wie können Gewerkschaften lernen – und warum fällt ihnen das so schwer? Seine Antwort entwickelte er entlang eines Spannungsverhältnisses, das tief in der gewerkschaftlichen Praxis verankert ist: dem verdeckten Konflikt zwischen einer Dienstleistungs- und einer Beteiligungsfraktion. Dieser Konflikt bleibt meist hinter Begriffen wie Verankerung, Erlebbarkeit oder gute Gewerkschaftsarbeit verborgen, doch beide Seiten verbinden mit diesen Begriffen unterschiedliche strategische Orientierungen. Für die Dienstleistungsfraktion bedeutet Verankerung professionelle Verlässlichkeit, Service und Problemlösung. Diese Logik reproduziert die lange Phase gewerkschaftlicher Professionalisierung und Stabilisierung: „Hauptamtliche sollen Probleme lösen, nicht Konflikte provozieren. Doch ohne Konflikt kein Lernen – und ohne Lernen keine Veränderung.“
Die beteiligungsorientierte Sichtweise versteht Verankerung dagegen als Öffnung von Räumen, in denen Mitglieder eigene Interessen artikulieren und verteidigen können. Maschke ordnet sich dieser Logik ausdrücklich zu, ohne sie zu idealisieren. Beteiligung steht für Selbstermächtigung und kollektive Handlungsfähigkeit – nicht als Gegenentwurf, sondern als notwendige Weiterentwicklung der Dienstleistungsorganisation: „Beteiligung ist kein Gegenentwurf zur Dienstleistung, sondern deren notwendige Demokratisierung.“
Damit verschiebt Maschke den Schwerpunkt: Gewerkschaften sind nicht primär Wissensvermittler oder Dienstleister, sondern Orte konfliktorientierter Lernprozesse. Lernen entsteht dort, wo Widersprüche sichtbar werden – nicht dort, wo sie durch Routinen abgefedert werden. Solange unklar bleibt, was „Verankerung“ heißt, bleibt unklar, wer handelt und wer verwaltet. Maschke beschreibt diesen Zustand als „Schwebezustand zwischen Betreuung und Beteiligung“, der Aktivität ermöglicht, aber Lernfähigkeit verhindert.
Lernen beginnt in diesem Verständnis dort, wo Routinen irritiert werden. Wenn Ehrenamtliche eigene Wege gehen, wenn Hauptamtliche Kontrolle verlieren, wenn Erwartungen nicht zusammenpassen. Dann entsteht reflexive Subjektivierung – der Moment, in dem Beschäftigte und Aktive beginnen, ihre Rolle neu zu begreifen und Verantwortung zu übernehmen: „Die Leute sollen selber machen.“ Dieser Satz zieht sich leitmotivisch durch Maschkes Untersuchung und markiert den Übergang vom delegierten Handeln zur Aneignung kollektiver Interessen.
Aus dieser konflikttheoretischen Perspektive folgert Maschke, dass Lernfähigkeit voraussetzt, innere Widersprüche offen anzusprechen – zwischen Kontrolle und Selbstorganisation, Effizienz und Partizipation, Dienstleistung und politischer Selbstermächtigung. Der Konflikt zwischen beiden Logiken ist daher nicht aufzulösen, sondern bewusst zu bearbeiten: „Veränderung beginnt nicht mit Konzepten, sondern mit Gesprächen, die ehrlich sind.“ Daraus ergibt sich ein Modell des organisationalen Lernens, das kein Harmoniepostulat kennt, sondern Konflikt als produktive Ressource begreift.
Diese Perspektive strukturiert auch die Auswertung des Geschäftsstellenprozesses. Trotz neuer Projekte und abgestimmter Strukturen blieben die Herausforderungen des Alltags bestehen: Überlastung („Krisenbewältigung wurde zum Normalzustand, Reflexion zur Ausnahme“), persistente Hierarchien („Das Fußvolk wird dann praktisch liegen gelassen“), punktuelle Lernanlässe und das Fehlen dauerhafter Reflexionsräume. Maschke zeigt aber, dass Beteiligung dann wirksam wird, wenn subjektive Erfahrungen gemeinsam verarbeitet werden – in Konflikten, Projekten und Bildungsräumen: „Gewerkschaftliches Lernen ist dann wirksam, wenn es als gemeinsame Erfahrung verankert wird.“ Daraus entstehen instrumentelle, reflexive oder emanzipatorische Subjektivierungsprozesse. Ohne Anerkennung bleibe Aktivierung ein Appell.
Die Identifikation von Lernblockaden – Routinisierung, hierarchische Kommunikation, individuelle Überforderung, fehlende Reflexionsräume – verdeutlicht, dass Lernfähigkeit weniger ein technisches als ein kulturelles Problem ist. Maschke zeigt, dass die Fähigkeit einer Organisation, über sich selbst zu reflektieren, zur zentralen Machtressource wird.
Im Ergebnis verdeutlicht die Untersuchung, dass gewerkschaftliches Lernen in der industriellen Peripherie Mecklenburg-Vorpommerns durch strukturelle Schwäche, geringe Tarifbindung, große Entfernungen und starke Abhängigkeit von Einzelnen geprägt ist. Gleichwohl sind viele Befunde übertragbar: Reflexivität als Machtressource, Anerkennung als Motivationskern, Konflikte als Lernanlässe und die Notwendigkeit, Beteiligung strukturell zu ermöglichen. Maschke identifiziert zwei Handlungsebenen: eine Bildungsarbeit, die kollektive Erfahrungsbildung stärkt, und Geschäftsstellen, die alltägliche Lerngelegenheiten ermöglichen.
Gesellschaftsbilder und gewerkschaftliches Engagement
Die Untersuchung von Alexander Maschke richtete den Blick nach innen: auf Geschäftsstellen, Routinen, Spannungsfelder, Machtressourcen und Subjektivierungsprozesse.
Die Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) nimmt die andere Seite derselben Frage in den Blick: Nicht wie Organisationen lernen, sondern wie die Ehrenamtlichen, die diese Organisation tragen sollen, Gesellschaft verstehen – und wie diese subjektiven Vorstellungen ihre Form des Engagements prägen.
Der bei Campus erschienene Band basiert auf einer 2019 vom damaligen Ersten Vorsitzenden der IG Metall, Jörg Hofmann, initiierten Studie. Ausgangspunkt war eine strategische Weichenstellung der Metallgewerkschaft: die Transformation der von ihr vertretenen Branchen vom Betrieb aus zu denken. Dieser Ansatz entsprach der Einsicht, dass sich die großen Fragen der Gegenwart – digitaler Umbau, sozial-ökologische Transformation, geopolitische Verwerfungen, neue Formen betrieblicher Unsicherheit – nur dann gewerkschaftlich bearbeiten lassen, wenn die betrieblich Aktiven in ihrer Handlungskraft gestärkt werden.
Das Projekt „IG Metall vom Betrieb aus denken“ bildete den Rahmen, in dem die Frage ins Zentrum rückte, wie Betriebsrät:innen und Vertrauensleute Gesellschaft wahrnehmen, wie sie ihre Rolle deuten und welche Zukunftsbilder sie in Zeiten beschleunigter Umbrüche entwickeln. Diese Perspektive ist angesichts der kommenden Betriebsratswahlen ebenso unverzichtbar wie im Vorfeld der nächsten Tarifrunde: Die IG Metall ist darauf angewiesen, die gesellschaftlichen Deutungen, Sorgen und politischen Orientierungen ihrer betrieblichen Basis präzise zu kennen und daraus strategische Konsequenzen zu ziehen.
Methodisch setzt die Studie auf ein breit angelegtes qualitatives Forschungsdesign. Die SOFI-Forscher:innen rekonstruierten die Gesellschaftsbilder der Aktiven nicht nur anhand ihrer betrieblichen Erfahrungen, sondern suchten sie an ihren Arbeitsplätzen auf, begleiteten sie in ihrem familiären und lokalen Umfeld und führten biografisch-narrative sowie problemzentrierte Interviews. Ergänzt wurde dies durch Gruppendiskussionen und eine repräsentative Telefonbefragung, sodass sowohl die subjektive Tiefenstruktur der Deutungen als auch ihre quantitative Verbreitung sichtbar wurden. Theoretisch knüpft die Studie an die klassische Gesellschaftsbilderforschung von Popitz, Bahrdt, Jüres und Kesting aus dem Jahr 1957 an deutlicher Abweichung zur frühen Arbeiterbewusstseinsforschung beschränkt sich der Blick jedoch nicht auf Arbeitswelt und betriebliche Konflikte, sondern integriert die gesamte Lebensführung: Sozialisation, Familie, Nachbarschaft, politische Öffentlichkeit, regionale Kontexte. Gesellschaftsbilder sind in dieser Perspektive nicht bloße Meinungen, sondern Orientierungsmarken, die Erfahrung, Wertbindung und Selbstverortung verbinden.
Die Forscher:innen gingen zweistufig vor. In einem ersten Schritt identifizierten sie vier idealtypische Gesellschaftsbilder, die in den Interviews immer wieder aufschienen. Diese Typen wurden nicht als starre Kategorien verstanden, sondern als „Fluchtpunkte“ im Denken der Ehrenamtlichen, zwischen denen sich die individuellen Deutungen bewegten. In einem zweiten Schritt wurden anhand einer Intensiverhebung – vertiefte Interviews mit 15 Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten – die Übergänge, Spannungen und Widersprüche zwischen diesen Bildern rekonstruiert. Die Interviews zeigten, dass Aktive selten nur einem Typus folgen; vielmehr bewegen sie sich in einem „spannungsreichen Dazwischen“ verschiedener Deutungen.
Zentral war das Gesellschaftsbild, das die Forscher:innen als „equilibrisch“ bezeichneten – ein Begriff, der analytische Präzision beansprucht, in seiner technischen Künstlichkeit jedoch den Abstand zwischen Forschungssprache und gewerkschaftlicher Praxis sichtbar macht. Gemeint ist ein Bild der Gesellschaft als eines ständig auszuhandelnden Miteinanders, in dem Ausgleich, Vermittlung und demokratische Verfahren einen hohen Stellenwert haben. Dass ein solch technokratischer Begriff die Deutungsmuster betrieblich Aktiver kaum abbildet, zeigt gerade das Risiko der Distanz: Die Forscher:innen beschreiben Alltagserfahrungen mit theoretischen Begriffen, die sich in der Praxis kaum als strategische Ressourcen nutzen lassen. „Equilibrisch“ benennt zwar den Kern – den Vermittlungshabitus, den viele Betriebsrät:innen im Alltag einnehmen müssen –, aber es verschleiert die lebensweltliche Unmittelbarkeit dieser Haltung, die aus Konfliktvermeidung, Verantwortungsgefühl und Pragmatismus besteht. Hier zeigt sich, was die Forscher:innen selbst später einräumen: Wissenschaftliche Begriffe müssen anschlussfähig sein, um in der gewerkschaftlichen Praxis handhabbar zu werden.
Weitere Gesellschaftsbilder, die in unterschiedlicher Stärke eine Rolle spielen, sind:
- ein subsidiär-solidarisches Bild der Gesellschaft als Verantwortungsgemeinschaft,
- ein dichotomes Bild, das stärker mit Kampf und klarer Gegnerschaft operiert, und
- ein fragmentales Bild, das gesellschaftliche Entwicklungen als unübersichtlich, beschleunigt oder bedrohlich beschreibt.
Diese Typen erscheinen nicht isoliert, sondern bilden Achsen, entlang derer sich Ehrenamtliche verorten – zwischen (1) Kooperation und Konflikt, (2) Stabilität und Umbruch sowie (3) Gestaltbarkeit und Kontrollverlust.
Die Fallgeschichten sind der stärkste Teil der Studie. Sie machen sichtbar, wie Biografie, betriebliche Konflikte, Anerkennungserfahrungen und gesellschaftliche Krisen ineinandergreifen. Die zwölf porträtierten Ehrenamtlichen zeigen sehr unterschiedliche Wege ins Engagement: Erfahrungen mit Ungerechtigkeit, die Hoffnung auf stabile Solidarität, das Bedürfnis nach Anerkennung, enttäuschte Loyalität gegenüber Betrieben, die eigenen Abstiegsängste oder der Wunsch, Ordnung in eine unübersichtliche Welt zu bringen. Die Fallgeschichte von Bettina – einer Betriebsratsvorsitzenden, deren Erfahrung mit der Treuhandzeit, mit Entwertung und später mit gewerkschaftlicher Unterstützung zu einer nachhaltigen Bindung führte – zeigt exemplarisch, wie biografische Brüche und gewerkschaftliche Handlungsräume ineinandergreifen und Engagement ermöglichen.
Deutlich wird dabei: Ehrenamtliche bringen subjektive Weltbilder mit, die nicht durch abstrakte politische Theorie geprägt sind, sondern durch Alltag, Arbeit, Familie und bewältigte oder nicht bewältigte Krisen. Gesellschaft erscheint ihnen selten als Klassenstruktur, sondern eher als moralischer und demokratietheoretischer Bezugspunkt: Gerechtigkeit, Verantwortung, Anerkennung, Stabilität, Mitsprache. Konflikte werden gesehen, aber nicht primär als Klassenkonflikte erlebt; sie sind situativ, moderierend, vermittelnd. Dies erklärt, warum der gewerkschaftliche Appell an „Konfliktfähigkeit“ oder „Interessenmacht“ oft nicht unmittelbar auf Resonanz stößt: Nicht weil er falsch wäre, sondern weil er nicht an die habitualisierten Deutungsmuster der Ehrenamtlichen anschließt.
Die Studie leistet damit zweierlei: Sie zeigt, wie komplex die gesellschaftlichen Orientierungen der Aktiven sind – und sie legt offen, wie groß die Distanz zwischen wissenschaftlicher Begriffsbildung und alltäglicher Erfahrung sein kann. Begriffe wie „equilibrisch“ sind analytisch brauchbar, aber praktisch entkoppelt. Eine Gewerkschaft, die ihre Basis ernst nimmt, muss beides zusammenführen: die theoretische Klarheit über gesellschaftliche Machtverhältnisse und die subjektive Erfahrungswelt derjenigen, die im Betrieb Konflikte austragen sollen.
Wieder in die Offensive kommen
Die drei hier besprochenen Zugänge – die konflikttheoretischen Thesen von Seger/Müller, die organisationsanalytische Untersuchung Maschkes und die subjektsoziologische Gesellschaftsbilder-Studie des SOFI – eröffnen gemeinsam ein erweitertes Verständnis gewerkschaftlicher Erneuerungsprozesse. Sie sprechen aus unterschiedlichen theoretischen Sprachen und untersuchen verschiedene Ebenen – Bildungsarbeit, Organisationsentwicklung, Subjektivität –, doch in ihrer Zusammenschau wird eine zentrale Spannung sichtbar, die nicht nur analytisch, sondern strategisch bedeutsam ist: Gewerkschaften müssen zugleich konfliktfähig und anschlussfähig sein.
Seger/Müller argumentieren normativ und programmatisch aus einer konflikttheoretischen Perspektive. Sie erinnern daran, dass Solidarität nicht aus Harmonie entsteht, sondern aus der gemeinsamen Bearbeitung realer gesellschaftlicher Widersprüche. Politische Subjektivierung besteht darin, Konflikte nicht als Störung, sondern als Ort demokratischer Selbstermächtigung wahrzunehmen. Diese Einsicht richtet sich primär an die Bildungsarbeit: Sie muss Räume schaffen, in denen Beschäftigte Konflikte verstehen, deuten und handlungsfähig bearbeiten können.
Maschke zeigt, was es heißt, diese konflikttheoretische Perspektive in der Organisation selbst wirksam zu machen. Seine Analyse des Geschäftsstellenprozesses in Mecklenburg-Vorpommern macht greifbar, wie Lernprozesse dort entstehen, wo Widersprüche sichtbar werden – zwischen Dienstleistungslogik und Beteiligungsanspruch, zwischen institutioneller Stabilität und prekärer Peripherie, zwischen professionellen Routinen und kollektiver Selbstermächtigung. Wenn Seger/Müller den Konflikt als notwendige Bedingung solidarischer Praxis beschreiben, zeigt Maschke, wo dieser Konflikt in der gewerkschaftlichen Realität auftaucht und wie er produktiv organisiert werden kann. Seine Erweiterung des Machtressourcenansatzes um „reflexive Macht“ macht deutlich: Die Fähigkeit einer Organisation, ihre eigenen Widersprüche zu verstehen, ist selbst eine Machtquelle.
Die SOFI-Studie wiederum zeigt, warum die konflikttheoretische Perspektive in der betrieblichen Praxis keineswegs selbstverständlich ist. Ehrenamtliche denken Gesellschaft überwiegend in Kategorien der Vermittlung, der Verantwortungsübernahme und der alltäglichen Bewältigung. Konflikte erscheinen moralisch oder situativ – nicht als Ausdruck struktureller Ungleichheit. Die subjektiven Orientierungsmuster, die das SOFI rekonstruiert, sind weder „falsch“ noch „unzureichend“; sie spiegeln die Lebenslagen und alltäglichen Belastungen vieler Aktiver. Sie machen aber sichtbar, dass Konfliktfähigkeit und machttheoretische Deutungen nicht einfach vorausgesetzt werden können. Die kulturelle Logik des Ehrenamts unterscheidet sich damit deutlich von der konflikttheoretischen Programmatik der Bildungsarbeit (Seger/Müller) und ebenso von der konfliktorientierten Organisationserneuerung (Maschke).
Aus dieser Dreifachperspektive ergibt sich kein zwangsläufiger Widerspruch, auch wenn es zunächst so scheinen mag. Vielmehr ergibt sich eine produktive Spannung. Die SOFI-Studie legt dar, wo die Ehrenamtlichen subjektiv stehen; Maschke schildert die Widersprüche zwischen Beteiligungsansprüchen und gewerkschaftlichem Dienstleistungsverständnis und Seger/Müller wollen durch gewerkschaftliche Bildungsarbeit einerseits und die kollektiven Lern- und Erfahrungsprozesse einer konfliktorientierten Gewerkschaft andererseits dazu beitragen, subjektives Bewusstsein zu erweitern und kollektive, organisationale Entwicklungsprozesse zu verändern.
Die IG Metall steht vor der Aufgabe, unter Bedingungen der Transformation handlungsfähig zu bleiben, den an sie herangetragenen konfliktorientierten Strategien von Kapital und Regierung durch entsprechende eigene Konfliktstrategien zu begegnen – ohne den Anschluss an die Erfahrungen sowie das Selbstverständnis ihrer betrieblich Aktiven zu verlieren. Der Anspruch „IG Metall vom Betrieb aus denken“ ist deshalb weiterhin richtig. Denn Bildungsarbeit, Organisationsentwicklung und Subjektforschung ergänzen sich, wenn sie Konfliktfähigkeit nicht als Gegensatz zu Vermittlung verstehen, sondern als deren immanenten Teil. Es gilt deshalb nicht, zwischen Konfliktlogik und Subjektlogik zu wählen, sondern sie strategisch miteinander zu verschränken.
Joshua Seger, Moritz Müller, Gegenmacht im Klassenstaat. Über die Herausforderungen für die IG Metall in der Polykrise und für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, in: Sozialismus Heft 11/2025 S. 38-42.
Alexander Maschke, Aus der Krise zur Stärke? Zur Konstituierung industriegewerkschaftlicher Subjekte in Ostdeutschland, Campus Verlag, Frankfurt / New York 2024 (ISBN: 978-3-593-51980-7)
Martin Kuhlmann, Milena Prekodravac, Stefan Rüb, Berthold Vogel, Gesellschaftsbilder. Die Zukunft gewerkschaftlichen Engagements, Campus Verlag, Frankfurt / New York 2024 (ISBN: 978-3-593-51863-3)