Der vergessene jüdische Widerstand
In unserer Erinnerungskultur führt die jüdische Selbstbehauptung, Jüdinnen und Juden im Kampf gegen den Nationalsozialismus bis heute ein Schattendasein. Darin unterschieden sich auch die alte BRD und die frühere DDR wenig voneinander. Die obszöne Behauptung, die europäischen Juden hätten sich zwischen 1938 und 1945 widerstandslos wie das arglose Lamm aus Jeremia 11, 19 zur Schlachtbank führen lassen ist leider weiterhin präsenter als die Namen der vielen jüdischen Frauen und Männer, die Widerstand leisteten.
Umso wichtiger ist das 2024 erschienene Buch "Der vergessene Widerstand" (Verlag C.H.Beck) von Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt. Der Holocaust-Experte hat die vergessenen Geschichten der zehntausenden Jüdinnen und Juden zusammengetragen, die in Deutschland und den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten im Widerstand waren. In der Sendung vom 13. Juli 2025 meines Podcasts KUNST DER FREIHEIT erinnert er an einen beispiellosen Kampf gegen die Entmenschlichung - ein Ringen um Würde, Kultur und das Recht zu leben.
BIHoff: Ich sitze Ihnen, lieber Prof. Lehnstaedt am Berliner Standort der amerikanischen Turo University gegenüber, an dem er einen einzigartigen Lehrstuhl wahrnimmt. Bitte erzählen Sie uns mehr dazu.
Prof. Lehnstaedt: Wir haben hier den deutschlandweit einzigen Studiengang zum Holocaust, also einen Master in Holocaust Studies. Peter Klein und ich haben hier jeweils eine Professur für Holocaust Studies und unterrichten dieses Fach.
BIHoff: Sie haben ein Buch über jüdischen Widerstand geschrieben. Dieses Thema befasste mich auch, als ich noch in Thüringen Kulturminister war. Dort durfte ich eine Rede zum Gedenken an die November-Progrome 1938 halten und mir war es wichtig, gerade nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023, dass wir Jüdinnen und Juden nie wieder als passive Opfer sehen dürfen. Doch in unserer Erinnerungskultur führt die jüdische Selbstbehauptung, der jüdische Widerstand bis heute nur ein Schattendasein. Das ist einer der Ausgangspunkte ihres Buchs.
Warum hält sich, mit den Worten von Arno Lustiger, einem bedeutsamen Chronisten des jüdischen Widerstands und Heldentums, so hartnäckig die letzte historische Lüge der Nazis, dass die Jüdinnen und Juden sich widerstandslos zur Schlachtbank hätten treiben lassen?
Prof. Lehnstaedt: Das ist eine lange Geschichte und natürlich auch eine Gegenwart. Im Grunde fängt das schon direkt nach dem Krieg und nach der Befreiung an. Die Überlebenden versammeln sich, viele gehen nach Israel, viele gehen in die USA. Und diese Überlebenden haben natürlich zunächst mal etwas anderes zu tun, als über ihr Überleben zu sprechen. Ihr gerade nicht passives Überleben, denn um zu überleben, kann man nicht passiv sein.
Wir haben also einerseits diejenigen, die wirklich gekämpft haben, die Helden des Aufstands im Warschauer Ghetto, die sehr prominent sind, doch andererseits laufen die allermeisten Übrigen schon früh „unter dem Radar“.
In Israel beginnt zudem sehr früh eine politische Auseinandersetzung, die darin begründet liegt, dass die Kämpfer des Warschauer Ghetto einer anderen Partei angehören als der Ministerpräsident David Ben-Gurion. Der verfolgt eine Politik, weniger über den Kampf zu sprechen, sondern über die Opfer. Das ist sicher auch Teil eines ausgewogenen Bildes, aber es führt dazu, dass man auch aus politischen Gründen den aktiven Widerstandskampf herunterspielt.
Diese Ausgangslage setzt sich dann fort in Deutschland, insbesondere mit der Rezeption des Eichmann-Prozesses 1961 durch Hannah Arendt. In ihrem berühmten und brillanten Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, erstmals erschienen 1963, schreibt sie sehr prominent über die Passivität der Juden, über eine angebliche Kollaboration der Judenräte mit den Nazis. Sie beruft sich dabei auch auf Raul Hilberg. Der ist ein amerikanischer Historiker und Forscher mit einer großen Gesamtdarstellung des Holocaust. Diese Darstellung von Arendt ruft langanhaltende Kontroversen hervor, ist aber auch dadurch sehr stark und sehr wirkmächtig.
Und dazu kommt dann eine Wahrnehmung, gerade auch in Deutschland, wo man angesichts der sechs Millionen Toten von einer – gewissermaßen überwältigenden – Totalität der deutschen Verfolgung spricht. Das ist natürlich nicht ganz falsch, aber es führt eben dazu, dass man sich ganz stark auf diese Verfolgung und Vernichtung konzentriert und gar nicht schaut, was denn während dieser Vernichtung passiert ist, neben der Vernichtung parallel lief und was auch gegen diese Vernichtung unternommen wurde. Das wird im Wesentlichen ausgeblendet, weil es diesem Narrativ und übrigens auch unserer Form des Gedenkens zuwiderläuft. Wir haben im Wesentlichen ein Opfergedenken und vielleicht noch ein Tätergedenken, aber kein Gedenken an den jüdischen Widerstand.
BIHoff: Wir haben nun in unserem Gespräch wie selbstverständlich den Begriff des Widerstandes gebraucht. Der Aufstand im Warschauer Ghetto ist vielen Menschen präsent. Es erscheint mir an dieser Stelle gleichwohl wichtig, gemeinsam einen Schritt zurückzugehen und zu klären, worüber wir sprechen, wenn wir über Widerstand reden. Denn gerade in einer Filmkultur, in der Widerstand zumeist heroisch ist, gemeinhin mit einem Happy End endet, sollten wir die „Sehgewohnheiten“ konfrontieren mit einem Widerstand in einer Gesellschaft, die Jüdinnen und Juden vollkommen entrechtet. Vieles von dem, was wir als zivilen Ungehorsam kennen, beispielsweise Rosa Parks aus der Bürgerrechtsbewegung der USA in den 1960er Jahren, die im Bus nicht bereit war aufzustehen, ist uns ein Vorbild aber auch dieser Widerstand ist nicht vergleichbar mit der Situation der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Wo beginnt dort der Widerstand und wo endet er bei Ihnen?
Prof. Lehnstaedt: Ich habe in meinem Buch Widerstand erstens als eine Handlung definiert, die sich gegen die deutsche Vernichtungspolitik richtet. Eine Handlung, die zweitens gleichzeitig aus den Augen der Deutschen illegal sein muss. Und ich habe zum dritten gesagt, dass es eine Handlung sein muss, die mehr als nur mein eigenes individuelles Überleben betrifft.
Das kann man natürlich auch anders definieren. Worauf ich abgezielt habe, ist eine Abgrenzung zu der sehr weiten, in der israelischen Forschung verbreiteten Vorstellung oder Vorstellung von dem Konzept der sogenannten Amidah. Amidah lässt sich ungefähr übersetzen mit Beharren oder Durchhalten. Dieses Konzept ist sehr weit. Es ist sehr inklusiv, was einerseits schön ist, weil man damit verschiedenste Formen, auch des Verhaltens im Holocaust in den Blick nimmt. Andererseits führt es dazu, dass im Grunde fast alles zu einem Teil des Widerstandskampfes wird.
Also unter Amidah würde beispielsweise das Aufrechterhalten einer Suppenküche fallen, das Inszenieren von Theatern in den Ghettos. Und das sind unter den jeweiligen Bedingungen auch tatsächlich beeindruckende oft auch wichtige Handlungen. Aber sie sind nicht illegal. Die Deutschen haben nichts dagegen. Das darf man selbstverständlich, das dürfen die Juden in den Ghettos selbstverständlich tun.
In Abgrenzung dazu sage ich, das widerständiges Handeln muss auch illegal sein, weil Illegalität auch ein zusätzliches Risiko bedeutet. Und es muss abschließend mehr sein, als nur auf das Individuum gerichtet. Ich will nicht sagen, dass es ein höheres Ziel geben muss – das Überleben von anderen ist sicher auch ein höheres Ziel, ganz eindeutig ein höheres Ziel. Ich muss also etwas tun, was nicht nur darauf abzielt, dass ich selbst überlebe, sondern auch anderen helfen. Gemeinsam mit anderen fliehen, zum Beispiel, weil man auch damit eben über das Individuum und über die reine Selbstbezogenheit hinausgeht.
BIHoff: Wenn ich sie richtig verstehe, nehmen Sie zwischen Widerstand in Ihrer Definition und den anderen Formen von nicht zwangsläufig illegaler Widerständigkeit bzw. Selbstbehauptung keine Wertungsdifferenzierung vor, sondern es geht ihnen darum, eine Begrifflichkeit zu fassen, mit der Sie dann in Ihrem Buch arbeiten.
Prof. Lehnstaedt: Das ist absolut richtig. Damit verbindet sich keine Bewertung. Ich bin Historiker – moralische Urteile, die gibt es bei mir nicht. Da muss man zu den Theologen gehen. Das ist nicht meine Zuständigkeit.
Ich versuche Widerstand zu beschreiben und ich versuche deswegen eine Abgrenzung vorzunehmen, weil ich am Ende auch eine Geschichte oder Geschichten erzählen möchte und natürlich kann man auch ein Buch mit 1 000 oder 2 000 Seiten schreiben, doch ich hatte vor, ein Buch mit nicht mehr als 400 Seiten zu schreiben. Das entspringt einem gewissen Forschungspragmatismus, doch geht es mir auch darum, bestimmte Verhaltensweisen in den Blick zu nehmen, was auf der anderen Seite bedeutet, andere Verhaltensweisen nicht zu betrachten. Wenn ich also sage, dass die Organisation einer jüdischen Suppenküche kein Widerstand war, dann ist damit keine Wertung hinsichtlich der Bedeutung dieser Suppenküche und ihrer Organisation verbunden. Das war eine unglaublich aufopferungsvolle Tätigkeit. Sie war wichtig, anstrengend und auch emotional belastend, weil trotz dieser Tätigkeit in der Suppenküche, Leute verhungerten, weil die bestehenden Suppenküchen gar nicht so viel Essen bereitstellen konnten, wie es Bedarf und Hunger gab. Die Suppenküche würde für mich unter das Konzept der Amidah fallen, von der ich – wie bereits erwähnt – meinen Begriff des Widerstandes differenziere.
Auf deutsche Verhältnisse bzw. das deutsche Verständnis übertragen, unterscheide ich zwischen Resistenz und Widerstand. Widerstand, verstanden als dem klassischen Widerstandskampf, wohingegen Resistenz, wie man das in Deutschland in den 80er Jahren formuliert hat, zum Beispiel darin bestand, in ein Geschäft hineinzugehen und nicht mit „Heil Hitler“ zu grüßen, sondern einfach nur „Guten Tag“ zu sagen. Das erforderte auch einen gewissen Mut, aber vielleicht auch nicht. Es hängt letztlich davon ab, wer in dem Geschäft ist. Denn es ist ja nicht so, dass „Guten Tag“ unter Strafe verboten war. Man wurde vielleicht schief angeschaut, einige wunderten sich vielleicht. Man zeigte damit Zivilcourage, doch etwas Illegales oder Verbotenes tat man nicht.
BIHoff: Das ist eine spannende und nachvollziehbare Unterscheidung. In Ihrem Buch differenzieren sie sowohl unterschiedliche Zeiträume und zwar vor und nach dem Beginn des Massenmords an den Jüdinnen und Juden bzw. vor und nach dem Beginn des Krieges. Als auch unterschiedliche Orte des Widerstandes, nämlich in Ost- und Westeuropa. Letzteres fand ich besonders interessant, da sich bis zur Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten in Ost- und Westeuropa sehr unterschiedliche Formen des gelebten Judentums abbildeten. Wollen wir mit der regionalen Differenzierung beginnen und anschließend die Zeitläufte betrachten?
Prof. Lehnstaedt: Es war mir wichtig, die unterschiedlichen Regionen darzustellen und sie auch als eigenständige Objekte zu untersuchen. Denn in der Tat sind die Voraussetzungen für Widerstand in Ost und West – und übrigens muss man den Osten und den Westen zusätzlich untergliedern und ausdifferenzieren – die Bedingungen völlig unterschiedlich.
Dies liegt zum einen daran, dass die deutsche Verfolgungspolitik sich unterscheidet, ob ein Land direkt besetzt ist, oder ob ein Land wie Frankreich beispielsweise von einem autoritär-faschistischen Regime regiert wird, das mit den Deutschen kollaboriert. Da sieht die Besatzungspolitik völlig anders aus. Und damit auch die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.
Zum anderen unterscheidet sich die jüdische Bevölkerung, zum Beispiel in Osteuropa allein durch einen wesentlich höheren jüdischen Bevölkerungsanteil. In Polen beträgt er etwa 10 Prozent der Bevölkerung. In Westeuropa liegt er in allen Ländern unter einem Prozent der Einwohnerschaft. Aus diesen unterschiedlichen Bedingungen entsteht eine andere Vorgehensweise und ermöglicht gleichzeitig andere Verhaltensweisen – auch der Verfolgten.
Man stelle sich vor, das Warschauer Ghetto mit 450 000 Insassen möchte irgendwie fliehen oder sich verstecken. Das wird überhaupt nicht möglich sein. Diese 450 000 Menschen, die fast die über ein Drittel der Stadtbevölkerung Warschaus ausmachen, können nicht einfach versteckt werden.
Das funktioniert eher in Paris, einer Millionenstadt, in der 40 000 bis 60 000 jüdische Menschen leben. Die kann man zwar auch nicht so einfach verstecken, aber man kann ganz anders über Verstecke und über Flucht nachdenken.
Zu diesen zahlenmäßigen Unterschieden kommt auch noch die Frage der der Assimilation. Das heißt, wie sich diese jüdische Bevölkerung selbst sieht. In Frankreich verstehen sich viele jüdische Menschen einfach nur als Franzosen mit jüdischem Glauben oder vielleicht sogar nur als Franzosen und Französinnen, die zufällig jüdische Großeltern haben, weswegen sie für die deutschen Besatzer jetzt als jüdisch galten. In Osteuropa haben wir, und das gilt im Grunde für alle osteuropäischen Staaten, eine Vorstellung von Juden als Nation. Das heißt, das Judentum ist nicht bloß eine Religion, sondern daraus konstituiert sich die Vorstellung einer Zugehörigkeit zu einer jüdischen Nation. Sowohl in der Sowjetunion als auch in Polen gibt es einen Eintrag im Pass, da steht die Nationalität drin. Man ist zwar polnischer Staatsbürger oder sowjetischer Staatsbürger, aber zusätzlich gibt es die Angabe zur Nationalität und da steht halt „Jüdisch“ drin. Das ermöglicht den deutschen Besatzern eine viel leichtere Erfassung der Jüdinnen und Juden, weil ihre Erfassung via Pass gewissermaßen bereits vorgenommen wurde.
Im Ergebnis führen diese Unterschiede auch zu einem anderen Selbstverständnis, und zwar in Fragen der Zugehörigkeit zur besetzten Nation. In Frankreich ist es viel leichter, für jüdische Menschen zur Resistance zu gehen. Das sind halt die Franzosen. Und wenn man Franzose ist, dann geht man zur Resistance. Natürlich gibt es auch in der Resistance Antisemitismus, aber in einem anderen Maß als in Osteuropa, wo jüdische Menschen, die zum nationalen Widerstand gehen, zur polnischen Heimatarmee, der „Armia Krajowa“, gesagt wird: „Wir sind der polnische Widerstand und ihr seid Juden. Was habt ihr hier verloren?“ Dadurch sind die Möglichkeiten, wie man sich gegenüber dieser Verfolgung verhalten kann, einfach völlig unterschiedlich.
BIHoff: Lassen Sie uns auf die von Ihnen differenzierten zwei zeitgeschichtlichen Ereignisse schauen: die Zeit vor und nach dem Beginn des Massenmords.
Prof. Lehnstaedt: Wenn wir die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden anschauen, dann muss man natürlich zum einen differenzieren in die Phase vor Kriegsbeginn, also vor 1939 und nach 1939. Nis 1939 ist eine Auswanderung, wenn auch mit Schwierigkeiten und mit dem Einsatz von Geld möglich. Wie gesagt, nicht für alle, aber für viele ist das möglich. Das ist auch der Grund, warum die Hälfte der deutschen Jüdinnen und Juden tatsächlich die Verfolgung überlebt.
Nach 1939 sind die Möglichkeiten zur Auswanderung viel, viel begrenzter, weil Deutschland mit den Nachbarstaaten und mit England im Krieg ist und eine Auswanderung dorthin, eine Flucht über Fronten hinweg kaum noch möglich. Das heißt, man ist hier deutlich eingeschränkter.
Die zweite wichtige Zäsur ist der Beginn des Massenmordes im Sommer 1941, mit dem Überfall auf die Sowjetunion. Dort beginnen die Erschießungen, gezielte Massenmorde, die dann ab Dezember 1941 und ab Frühjahr 1942 in die Ermordung durch Vergasung der Jüdinnen und Juden im besetzten Polen münden. Bevor dieser Massenmord tatsächlich einsetzt, werden die Juden verfolgt, aber ihnen droht noch nicht die Vernichtung.
Tatsächlich muss man im Grunde sagen, dass die Deutschen bis Ende 1940 selbst noch keine Festlegungen getroffen haben, wie sie mit den Jüdinnen und Juden umgehen wollen. Es gibt noch keinen Plan, noch keinen Entschluss, noch keinen Willen, all diese Juden tatsächlich zu ermorden. Man denkt noch, dass man die vielleicht nach Madagaskar schicken kann – diese Pläne gab es ja tatsächlich. Oder dass Stalin diese Juden vielleicht übernimmt.
Daraus folgt, dass wer sich den Deutschen bis zu diesem Zeitpunkt widersetzt, tut das, weil er oder sie sich gegen die Verfolgung richtet. Doch die Betreffenden tun das nicht vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass sie als Jüdinnen und Juden sonst sowieso ermordet werden. Das ändert sich mit den deutschen Festlegungen hinsichtlich des Massenmordes.
Doch auch dies erfordert bei den Verfolgten einen Prozess, erstens des Wissens darum und zweitens auch des Realisierens der damit verbundenen Konsequenzen. Also man muss davon hören, dass anderswo Juden ermordet werden, weil sie Juden sind und man muss dann auch noch verstehen, dass einem selbst unausweichlich das gleiche Schicksal droht. Dieses Realisieren ist tatsächlich schwierig, denn es ist brutal und es gibt ja auch immer, die Hoffnung, dass es einen nicht betreffen könnte. Zum Beispiel die Vorstellung davon, dass die arbeitenden Juden bislang nicht ermordet wurden. Wenn ich also selbst Arbeit habe, dann kann mich die Ermordung nicht betreffen. Diese Vorstellung muss ich dann wiederum in Bezug setzen zu der Frage, ob ich Widerstand leiste oder ob ich versuche zu flüchten.
BIHoff: Wie sah Widerstand in Ihrer Definition vor dem Beginn des Massenmordes und dem Kriegsbeginn aus?
Prof. Lehnstaedt: Im Grunde geht es darum, dass diese Gruppen oder das jüdische Menschen darüber diskutieren, was sie gegen die Nationalsozialisten, gegen die Besatzung und gegen die Verfolgung, die es ja gibt, tun können. Da gibt es verschiedenste Varianten.
Es gibt solche, die dokumentieren die Verbrechen. Die Verbrechen beim Einmarsch in Polen, in der Konzentrationslagerhaft etc. Sie dokumentieren und versuchen dafür eine Öffentlichkeit zu gewinnen. Außerhalb des deutsch besetzten Europa. Das ist natürlich etwas, was die Deutschen nicht wollen. Das ist unerwünscht und teilweise verboten. Es ist deshalb eine gefährliche Tätigkeit.
Dann haben wir diejenigen, die sich gegen deutsche Besatzungspolitik richten. Das sind Protestformen in den verschiedensten Varianten, die es in Deutschland auch gibt und die da wie dort nicht erlaubt sind. Also ich kann nicht einfach streiken, ich kann nicht sagen „Hitler verfolgt die Juden und er ist ein Massenmörder“. Das geht nicht.
Und ganz wichtig für den Widerstand ist natürlich, dass man sich überhaupt erst einmal zusammenschließt und vielleicht auch in die Illegalität geht. Denn selbstverständlich gibt es in den besetzten Gebieten alle möglichen Organisationen, Parteien, Vereine, die vielfach auch verboten werden. Und wo sich die Mitglieder weiterhin treffen und weiterhin versuchen zu organisieren.
Also sie tun schon etwas in der Illegalität und sie versuchen sich auch darauf vorzubereiten oder sie diskutieren, wie sie sich jetzt angesichts dieser deutschen Verfolgung verhalten. Denn sie realisieren, dass das Verhalten der Besatzer gegenüber den Juden sich mit dem Beginn des Massenmordes verändert.
BIHoff: Jüdinnen und Juden schlugen sich auf die Seite von Partisanenverbänden in die Wälder oder kämpften oder als Soldat:innen in den alliierten Armeen an vielen Fronten gegen Hitler-Deutschland. Die sich als antifaschistisch verstehende DDR war ihrerseits nicht bereit, jüdische Widerstandskämpfer:innen als Kämpfer:innen gegen den Nationalsozialismus zu sehen, sondern sah gab Ihnen ausschließlich den Status als „Opfer des Faschismus“. Warum war das so?
Prof. Lehnstaedt: Es ist nicht völlig absurd zu sagen, dass jeder Jude, der überlebt hat, tatsächlich Widerstand geleistet hat, weil er sich dem Staatsziel des Judenmord erfolgreich widersetzt hat. Dann kriegt man in der Tat sehr viele Widerstandskämpfer.
Ich habe das in meinem Buch nicht getan, aber der Grund ist nicht, weil ich irgendwie diesen kommunistischen Definitionen folgen möchte, sondern weil ich eben gesagt habe, das eigene Überleben alleine reicht nicht, sondern Widerstand muss versuchen, anderen auch das Überleben zu ermöglichen, damit ich von Widerstand spreche.
Wenn wir aber auf die Frage zurückkommen, warum sich die DDR und auch übrigens andere kommunistische Staaten damit so schwergetan haben, den jüdischen Widerstand und militärische Widerstandskämpfer anzuerkennen, liegt das natürlich daran, dass man dort Widerstand als im Grunde nur kommunistischen Widerstand sehen wollte. Und natürlich gibt es jede Menge anderen Widerstand. Es gibt kirchlichen Widerstand, es gibt gewerkschaftlichen Widerstand, es gibt jüdischen Widerstand, es gibt in geringerem Maße Widerstand von Verfolgten, Romnjah und Tsintitze und so weiter. Also Widerstand ist ein breites gesellschaftliches Phänomen, aber in dem Moment, wo man seinen geschichtlichen Machtanspruch mit Widerstand begründet, ist es natürlich schwierig, anderen so etwas auch zuzubilligen.
In Deutschland kommt verschärfend hinzu, dass kommunistischer Widerstand nur ein Randaspekt ist. Also mindestens in Westdeutschland wird er tabuisiert. Da ist er so unerwünscht wie der militärisch konservative Widerstand in Ostdeutschland. Aber wenn sich eine Bewegung, die einen neuen Staat gründen will, den eigenen Widerstand überhöhen will, muss sie dafür sorgen, dass der Widerstand der anderen marginalisiert wird.
Im jüdischen Fall kommt noch etwas hinzu: wir sind hier oft mit so etwas wie einer Art intersektionaler Widerstandstätigkeit und auch intersektionaler Verfolgung konfrontiert. Und was meine ich damit? Ich meine damit jüdische Kommunisten, jüdische Sozialdemokraten, was auch immer, die sich im Widerstand organisieren. Wenn jetzt ein jüdischer Deutscher in den kommunistischen Widerstand geht, dann ist er natürlich ein jüdisch-kommunistischer Widerstandskämpfer. Man kann individuell vielleicht herausfinden, was ihn stärker motiviert hat, doch er wird höchstwahrscheinlich immer beides sein. Und weder der Betreffende noch wir können heute sagen, dieser Teil des Widerstands war kommunistisch und jener jüdisch. Nein, es ist beides und das ist ja auch okay.
Doch nicht akzeptabel ist es, wenn man daraus einen Machtanspruch herleitet, indem man sagt, das war kommunistischer Widerstand und du hast als Kommunist gekämpft, aber nicht als Jude.
BIHoff: In Ihrem ausgesprochen lesenswerten Buch, das ich allen Hörer:innen ans Herz legen möchte, nehmen Sie eine weitere Dimension in den Blick, die ich unglaublich wichtig finde. Sie betonen nämlich in Ihrer Forschung und in dem Buch die Rolle von jüdischen Frauen im Widerstand. In der Einleitung Ihres Buches formulieren Sie folgende Passage: „über das Verschwinden vieler Frauen aus den Erzählungen, was ironischerweise im Diskurs dahingehend gedeutet wurde, dass Männer als aktive Verteidiger und Beschützer formierten, während Frauen eine metaphorische, symbolische Rolle spielten. Die Rückkehr zur überkommenden binären Geschlechterordnung war nur möglich in der Umdeutung beziehungsweise der Negierung der historischen Tatsachen.“ Warum wurde der weibliche jüdische Widerstand zusätzlich historisch oft übersehen, und wie können wir dieses Bild korrigieren?
Prof. Lehnstaedt: Wenn wir uns dieses Phänomen jüdischen Widerstand anschauen, dann können wir feststellen, dass im Grunde auf allen Ebenen, in allen Funktionen, bei allen Tätigkeiten Frauen dabei sind. Und zwar sowohl gleichberechtigt dabei sind als auch rein zahlenmäßig kaum hinter den Männern zurückstehen. Ob wir jetzt über Zivia Lubetkin reden, die eine der Anführerinnen des Aufstands im Warschauer Ghetto war, ob wir über Gisie Fleischmann sprechen, die Anführerin des jüdischen Widerstands in der Slowakei. Oder ob wir über jemanden reden wie Marianne Kohn, die als deutsche Jüdin, die nach Frankreich geflüchtet ist, dabei hilft, jüdische Kinder über die Grenze in die Schweiz zu verbringen. Es gibt unglaublich viele spannende Geschichten über Frauen, die nicht weniger heldenhaft sind, als die Männer.
Die Gründe dafür, dass die Wahrnehmung ihres Widerstands randständig bleibt hat verschiedene Ursachen. Zum einen ist es ironischerweise ein Resultat der in sozialistischen und linken Widerstandsgruppen verbreiteten Überzeugung, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Das heißt es gibt eine Selbstverständlichkeit, dass die Frauen da mitmachen.
In vielen anderen Fällen ist es so, dass Frauen Tätigkeiten übernehmen, die ihnen leichter fallen als Männer. Kurierfahrten zum Beispiel. Frauen werden viel weniger von den Deutschen entdeckt als Männer. Schon allein deswegen, weil sie nicht beschnitten sind. Und gerade in Osteuropa, weil die Frauen oft familiär bedingt, wie soll ich sagen, weltlicher aufwachsen, vielleicht in eine polnische Schule gegangen sind, und nicht in eine jüdische Schule. Und dort auch die polnische Sprache besser gelernt haben als die Männer. Und auch deswegen fallen sie weniger auf. Deswegen nehmen sie teil am Widerstand. Und sie nehmen eine aktivere Rolle ein, als Frauen in den Gesellschaften vor Kriegsausbruch.
Das ist übrigens nicht nur bei jüdischem Widerstand so, sondern das sehen wir natürlich in allen anderen Gesellschaften auch, wo die Frauen in dem Moment, wo die Männer zum Wehrdienst gehen oder als Soldaten dienen, die Frauen auf einmal in die Fabriken gehen und die Frauen die ganzen Tätigkeiten der Männer einnehmen. Die müssen ja schließlich gemacht werden.
Nach dem Krieg, nach 1945, versucht man aber diese Emanzipation wieder zurückzudrehen und man sagt den Frauen „so jetzt, aber bitte wieder zurück an den Herd“. Und das passiert in den jüdischen Gemeinschaften tatsächlich ganz genau so. Man versucht diese aufgebrochenen Rollenvorstellungen wieder zurückzudrehen. Das ist tatsächlich ein Rollback.
BIHoff: Lassen Sie uns nochmal beim Beispiel der geteilten Erinnerung bleiben, und zwar am Beispiel, den Sie auch in Ihrem Buch kurz anreißen, der 17-jährigen in Minsk erhängten jüdischen Partisanin Mascha Bruskina…
Prof. Lehnstaedt: Mascha Bruskina ist eine jüdische Bürgerin, eine Jugendliche, 17 Jahre, aus Minsk, also heute in Belarus. Sie ist 1941 tätig im Widerstand. Sie ist im Übrigen im kommunistischen Widerstand, das heißt, wir haben wieder die Frage, ist sie jüdisch oder ist sie kommunistisch in ihrem Selbstverständnis? Ich würde sagen, sie ist natürlich beides.
Mascha wird von den Deutschen erwischt, und sie wird in Minsk aufgehängt, gemeinsam mit zwei männlichen Partisanen, die beide nicht-jüdisch sind. Das Ganze passiert am Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, und es ist ein sehr prominentes Beispiel, dass auch nach dem Krieg, es gibt auch ein Foto von dieser Erhängung, entsprechend gedacht wird. Das Problem des Gedenkens besteht darin, dass immer nur die zwei Männer, zwischen denen Mascha in der Mitte gehängt wird, namentlich benannt werden und Mascha eben nicht. Nun wird sie aber sehr früh erkannt von Freundinnen, von Bekannten, die den Krieg überlebt haben, und die darauf hinweisen, dass sie wissen, dass es sich bei der jungen Frau in der Mitte um Mascha handelt. Doch es passiert nichts, eben weil Mascha jüdisch war und weil das auch in der Sowjetunion nicht in das vorherrschende Opfer-Narrativ passte. Danach wurden Jüdinnen besonders verfolgt wurden. Doch es gibt eben eine zweite Realität und ein weiteres Narrativ, dass Jüdinnen auch Widerstand geleistet haben. Und es deshalb eine doppelte Verfolgung gab und für die Deutschen einen besonderen Grund, sie aufzuhängen.
Doch dieses sich nicht erinnern zu wollen, dauert im Grunde an bis vor ca. 20 Jahren. Noch in den 1990er Jahren gibt es Konferenzen, wo man sich darüber unterhält. Tatsächlich in Minsk, wo nun jede Menge Evidenz vorhanden ist und total offensichtlich, dass es sich bei der jungen Frau um Mascha Bruskina handelt. Und nach wie vor wurde die Gedenktafel, die man dort seit 50 Jahren ca. errichtet hat, nicht geändert. Erst im Jahre 2009 kommt ein entsprechender Zusatz hinzu, mit dem gesondert an Mascha erinnert wird als eine jüdische, kommunistische Widerstandskämpferin.
BIHoff: Wenn man das Haus der Ghettokämpfer im Norden Israels, im Kibbuz Lochamej haGeṭaʾot az, besucht, oder sich in Krakau, Warschau und anderen Orten aufhält, dann spielen die Ghettoaufstände, die ja nicht nur im Warschauer Ghetto stattgefunden haben, eine große Rolle. Und mir scheint, dass die historische Erinnerung an diese Aufstände weiterhin Fehlschlüssen unterliegen. Zum einen gibt es so eine militärische Rezeption, die schaut vor allem auf die Zahl der vorhandenen Waffen und versucht daraus Ableitungen über Erfolg oder Misserfolg vorzunehmen. Die gegenteilige Sicht meint aus dem Umstand, dass vielfach gar nicht ausreichend Waffen zur Verfügung standen und zum Teil nur Messer oder Knüppel als Waffen genutzt werden konnten, die Aufstände als eine Art Verzweiflungstaten, als letztes Aufbäumen zu rezipieren. Das eine wie das andere erscheint mir nicht richtig zu sein. Sie gehen in Ihrem Buch einen anderen und aus meiner Sicht einen angemessenen Weg.
Prof. Lehnstaedt: Der jüdische Widerstand an den verschiedensten Orten im besetzten Europa und insbesondere in Osteuropa, wo es dann auch zum Kampf kommt, reflektiert sehr scharfsinnig die jeweils vorhandene Situation. Diese Reflexion bringt zweierlei Erkenntnisse. Die erste Erkenntnis ist, dass man sowieso gegen die Deutschen nicht gewinnen wird, weil der jüdische Widerstad es mit der deutschen Wehrmacht als Gegner zu tun hat. Die verfügt über Panzer, Artillerie und
Flugzeuge. Das heißt, selbst wenn man sich irgendwie gut ausstatten könnte, wird man nie auf Augenhöhe ausgestattet sein können. An einen Sieg ist also nicht zu denken. Das zweite Dilemma wiederum besteht darin, dass Flucht auch keine Option ist.
Kurzum: dort wo es möglich ist, werden in aller Regel die Aufstände so geführt, und das sind dann die, über die wir nicht so reden, die nicht so bekannt sind, wie in Novo Prudeck oder die Kämpfe im Ghetto von Vilna, wo man versucht, den Deutschen, einen Kampf auf die Weise zu liefern, dass sich dadurch die Möglichkeit der Flucht von möglichst vielen Jüdinnen und Juden ergibt. Das wiederum hängt auch von den geografischen Gegebenheiten ab. Also bin ich in einer Kleinstadt, wo es nebenan viel Wald gibt, dann kann man das probieren. Bin ich in Warschau mit 450 000 Insassen im Ghetto, von denen es nach den ersten Deportationen immer noch 60 000 Jüdinnen und Juden sind, und befindet sich in einer bebauten Großstadt, ohne dass es in erreichbarer Nähe größere zusammenhängende Wälder zum verstecken gibt, dann ist das halt schwierig. Also man kann sich vielleicht gerade noch selbst retten, aber man wird nicht dafür sorgen können, dass alle Insassinnen und Insassen des Ghettos fliehen können. Vor diesem Hintergrund gibt es dann die Überlegung, wir müssen aber trotzdem kämpfen. Wir müssen kämpfen, auch, um ein Zeichen zu setzen, aber nicht um einen kollektiven Selbstmord zu inszenieren, sondern um damit zum Beispiel Zeit zu kaufen. Konkret im Warschauer Ghetto, damit sich die Menschen, wenn auch nicht alle 60 000 flüchten können, dann wenigstens ein Teil von ihnen. Damit sich ein Teil von ihnen verstecken kann und auch dem Zugriff der Deutschen entziehen kann. Es geht am Ende also auch darum, zu zeigen, dass man nicht wehrlos ist.
Insoweit ist es ein symbolischer Kampf, der insoweit ausweglos ist, als es keinen Sieg geben kann. Aber er ist immer mit einem ganz praktischen Ziel verbunden: wir tun das, was wir überhaupt tun können, um vielleicht länger zu leben, um vielleicht ein paar Menschen ein Überleben zu ermöglichen.
BIHoff: Die Tora enthält bekanntlich 613 Gebote, die sich zusammensetzen aus 248 Geboten (z.B. Ehre deinen Vater und deine Mutter) und 365 Verboten, die dir sagen, war zu unterlassen ist (Z.B. Du sollst nicht stehlen). Der deutsche Philosoph und liberale Rabbiner Emil Fackenheim brachte in diese Diskussion ein 614. Gebot, das den 613 traditionellen Geboten der Tora hinzugefügt werden müsse. Dieses Gebot lautet: „Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht.“ Er zog aus den Berichten Überlebender aus der Zeit der Shoa die Schlussfolgerung, dass jüdisches Leben in den Todeslagern sich letztlich nur noch als Widerstand gegen den Mord äußern konnte. Können Sie diesen Gedanken nachvollziehen?
Prof. Lehnstaedt: Das ist in der Tat eine wichtige Frage und eine wichtige Überlegung, die übrigens in den orthodoxen Gemeinschaften Osteuropas lange und ausführlich diskutiert wurde: was kann man tun, um zu überleben? Muss man als Märtyrer sterben? Wann stirbt man als Märtyrer? Und darf man auch Kompromisse machen? Darf man als orthodoxer Jude nur koscher leben? Darf man sich taufen lassen, um vielleicht doch zu überleben, um sich irgendwo verstecken zu können? Das ist nicht allein eine theologische Frage auf der individuellen Ebene, sondern kann ein großes Opfer sei, weil man damit einen Teil seiner Identität aufgibt, um überleben zu können.
BIHoff: Wir müssen uns, um diese Dimension nachzuvollziehen, aus unserer heute überwiegend säkularen Perspektive in eine orthodox-religiöse Lebenswelt hineinversetzen.
Prof. Lehnstaedt: Exakt. Wenn Religion und ein religiöses Leben selbstverständlich sind, dann sind die von mir beschriebenen Entscheidungsfragen nicht einfach zu beantworten und etwas, das man leichtfertig tut, wie das vielleicht agnostischen Menschen leichtfallen könnte.
Inwieweit man in einem Vernichtungslager überhaupt sein Überleben steuern kann, ist, glaube ich, eine schwierige Frage. Am Ende werden wir wahrscheinlich sagen müssen, dass es in einem Vernichtungslager wie Auschwitz ganz viel Glück braucht, aber dass man in einem Vernichtungslager wie in Belgrad chancenlos ist, zu überleben. Dort werden 500 000 Menschen ermordet und wir haben nach 1945 ganze drei Überlebende. Was man dort tun kann, liegt im Grunde außerhalb des eigenen Handlungsvermögens.
BIHoff: Mit der Gedenkstätte „Stille Helden“, die eine Abteilung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ist, gibt es in Berlin inzwischen einen Ort, der zahlreiche Beispiele für jüdische Selbstrettung im Holocaust präsentiert. Was musste und was muss geschehen, um jüdischen Widerstand in seinen unterschiedlichen Formen präsenter werden zu lassen?
Prof. Lehnstaedt: Ich glaube, das ist tatsächlich eine ganz schwierige Aufgabe. Denn aus meiner Sicht ist es in Deutschland sehr wichtig, dass wir der Opfer gedenken. Dennoch ist es von immenser Bedeutung, dass wir hier in zunehmendem Maße auch an die Täter, an unsere eigenen Vorfahren erinnern und uns mit Täterschaft auseinanderzusetzen. Dass wir uns als Deutsche der Täterschaft stellen, statt vordergründig mit den Opfern zu identifizieren.
Was wir aber auch tun müssen bei der Opfererinnerung ist, diese Opfer eben nicht nur als arme, hingemordete Menschen zu begreifen, was sie zweifellos sind, sondern sie zu begreifen als Menschen, die bis zu ihrem Mord unter extremen Bedingungen menschlich handeln, aktiv agieren.
Wir müssen Sie also als Individuen wahrnehmen, die nicht nur ein Leben bis 1939 hatten, dann kamen die Deutschen und sie werden ermordet, sondern sich genauer anzuschauen, was es heißt, zwischen 1939 und der Ermordung zu überleben, oder was es bedeutete, bis 1945 zu überleben.
BIH: Am Ende ihres Buches schreiben Sie: „Das eigentlich Erstaunliche ist dennoch, dass es ansonsten nicht zu [jüdischer] Rache kam, obwohl so viele Überlebende die Täter hassten, die ihre Familien und Freunde ermordet hatten.“ Ich muss gestehen, dass dies ein Gedanke ist, dem ich bislang wenig Raum gegeben hatte. Sie beschreiben das an einem Beispiel, eines, glaube ich, polnischen Kämpfers, der diese Rache-Fantasien hatte, und sagen aber, dass das Einzelfälle gewesen sind. Was waren aus Ihrer Sicht die dafür ausschlaggebenden Gründe?
Prof. Lehnstaedt: Diese Rache-Gefühle bei den Überlebenden, die gibt es natürlich. Sie haben Kovner angesprochen, als einen der wichtigsten Vordenker, auch jüdischen Widerstandsanführer und Helfer aus dem Ghetto in Vilna, der eine „Aktion Nakam“ ins Leben ruft, mit der er die Idee verfolgt, aus Rache für den Holocaust sechs Millionen Deutsche umzubringen. Also Auge für Auge, Zahn um Zahn.
Diese Idee scheitert letztlich. Es gibt einen Anschlag auf ein deutsches Kriegsgefangenenlager, doch es landen einige Leute mit Magenbeschwerden im Krankenhaus. Andernorts werden vereinzelt SS-Männer umgebracht. Aber im Wesentlichen ist dieser Rachegedanke etwas, der sich für viele Menschen, die dann in Israel oder in den USA leben und ausgewandert sind, schon allein deswegen erledigt, weil sie mit den Tätern keinen Kontakt mehr haben und auch keinen Kontakt mehr haben wollen. Denen ist so etwas wie justizielle Aufarbeitung wichtig. Anderen sind die Entschädigungszahlungen wichtig, aber im Wesentlichen muss man doch sagen, dass sie dann schon andere und vielleicht zivilere Gedanken haben.
BIHoff: Herr Professor Lehnstaedt, ich danke Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch.
Die Sendung "Der vergessene jüdische Widerstand" mit dem Holocaustforscher Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt erschien am 13. Juli 2025 im Podcast KUNST DER FREIHEIT und kann hier abgerufen werden.