»FairWandel« 1.0: Sozialer Fortschritt in der umkämpften Automatisierung
»FairWandel« hat eine Vorgeschichte: In der frühen Automatisierung der 1950er und 1960er Jahre entwickelte die IG Metall Werkzeuge zur Gestaltung technologischer Umbrüche. Ralf Roth rekonstruiert die Frühphase der Digitalisierung in Westdeutschland und die Strategien der IG Metall zwischen Automatisierung, Arbeitszeitverkürzung und Mitbestimmung. Die Studie legt vergessene Erfahrungsschichten frei, die für die heutige Industriepolitik und Gewerkschaftsstrategie Relevanz besitzen. Roth zeigt, wie aus technischer Innovation soziale Politik wurde – und warum die konflikthafte, widersprüchliche und mit Fort- und Rückschritten versehene Transformation sowohl mutige Visionen als auch strategische Geduld benötigt.
Wer heute über digitale Transformation spricht, richtet den Blick auf Künstliche Intelligenz, Plattformökonomie und Umbrüche der Arbeitswelt. Häufig entsteht der Eindruck, wir erlebten ein historisch beispielloses Zeitalter. Doch Digitalisierung ist kein neues Phänomen. Ihre Frühphase geriet lediglich weitgehend in Vergessenheit – und damit das Wissen über frühere Antworten auf technologische Umbrüche.
Ein jüngst im Campus Verlag publiziertes Buch erinnert daran, dass bereits in den 1950er und 1960er Jahren Fragen nach Regulierung, Nutzung und sozialer Einbettung neuer Technologien im Zentrum standen. Gewerkschaften, Unternehmen und Wissenschaft rangen darum, wie Automatisierung gestaltet und welche sozialen Sicherungen benötigt werden. »Im Morgengrauen der Digitalisierung« zeigt, wie früh Strategien für digitale Arbeitswelten entwickelt wurden. Die Botschaft ist klar: Fortschritt entsteht, wenn Technik politisch gerahmt und demokratisch gestaltet wird. Der Band bietet damit kein nostalgisches Panorama, sondern historisches Handwerkszeug für aktuelle Transformationsprozesse.
Nichts ist gänzlich neu – nur Wissen verschüttet
Dass ursprünglich vorhandenes Wissen verschüttet wurde, hat nach Auffassung des Autors und Historikers Ralf Roth zwei Ursachen: Erstens machte weder die gewerkschaftshistorische noch die allgemeine Geschichtsforschung die frühe Digitalisierung zum Thema. Zweitens verlor die IG Metall ihre über Jahre aufgebaute Fachabteilung für Automationspolitik, die auf Otto Brenner zurückging und technisches Wissen systematisch bündelte. Unter den Bedingungen der Wiedervereinigung wurden diese Strukturen aufgelöst, Prioritäten verschoben und Expertise zersplittert. Heute zeigt die Gründung eines eigenen KI-Instituts wiederum die Fähigkeit, auf neue Herausforderungen organisatorisch zu reagieren.
Wie Christiane Benner im Vorwort betont, zielte gewerkschaftliche Automationspolitik nicht allein auf Absicherung, sondern auf Humanisierung von Arbeit und Erweiterung der Freizeit. Der Weg von der 48- zur 40-Stunden-Woche – symbolisiert durch das Plakat „Samstags gehört Vati mir“ – markierte Umverteilung technologischer Produktivitätsgewinne. Das Rationalisierungsschutzabkommen von 1968 sollte sicherstellen, dass Wandel nicht zulasten der Beschäftigten geht. Technikskepsis stand dabei nie im Vordergrund; vielmehr nutzte die IG Metall Chancen neuer Technologien, flankiert durch Schutzrechte und Weiterbildung.
Roths Untersuchung, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, gilt drei zentralen Industriesektoren – Schwerindustrie, Automobilbau und Elektrotechnik – deren Produktionsketten die digitale Transformation besonders früh prägten. Stahlwerke automatisierten Hochöfen und Walzstraßen, Automobilhersteller führten rechnergestützte Fertigung ein, Siemens lieferte die Steuerungstechnik. Diese Verzahnung ermöglichte es, Digitalisierung als umfassenden industriellen Wandel zu analysieren. Roth, der als außerplanmäßiger Professor am Historischen Seminar der Frankfurter Goethe-Universität tätig ist, stellt folgende vier Fragestellungen heraus:
- Was waren die Inhalte des öffentlichen Diskurses über Digitalisierung in den frühen Jahrzehnten, und finden sich darin Parallelen zur heutigen Diskussion um Digitalisierung, Industrie 4.0 und Künstliche Intelligenz?
- Welche Visionen und Ängste bestanden damals in Bezug auf die Umstrukturierung der zunehmend von Computeranwendungen geprägten Arbeitsabläufe?
- Welche Rolle spielte in dem ganzen Prozess der frühen Digitalisierung die Expertise von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, Informatikern und Ingenieuren?
- Welche Forderungen haben IG Metall und der DGB in Bezug auf die Transformation der Arbeit erhoben, und warum waren sie damit so erfolgreich?
Roth beantwortet diese Fragen in fünf Kapiteln und einem Resümee und rekonstruiert eine Phase, in der technischer Fortschritt und soziale Gestaltung eng miteinander verknüpft waren.
Verschlungene Pfade des Wissens
Das erste Kapitel »Im Morgengrauen des digitalen Zeitalters« führt in die Frühphase der Digitalisierung in Westdeutschland ein. Roth zeichnet ein Panorama des technischen und organisatorischen Umbruchs, der mit elektronischer Datenverarbeitung, Kybernetik und Automatisierung einsetzte. Der Schwerpunkt liegt nicht auf einzelnen Maschinen, sondern auf der Herausbildung neuer Denk- und Steuerungsformen in Industrie und Verwaltung. Geschildert wird, wie Computer in den 1950ern aus militärischer Nutzung in die zivile Produktion übergingen. Unternehmen setzten zunächst lochkartenbasierte Anlagen ein, dann elektronische Rechenmaschinen. Rechenzentren entstanden als neue organisatorische Einheit. Entscheidend: Digitalisierung begann als Büro- und Verwaltungsinnovation, bevor sie die Werkhallen erreichte.
Diese Phase war geprägt von Experimenten, Investitionen und Unsicherheiten. Die Technik war teuer, Spezialwissen knapp, organisatorische Routinen mussten neu definiert werden.
Roth zeigt, dass der digitale Wandel nicht plötzlich, sondern in mehreren Wellen begann: erst in den Rechenzentren großer Unternehmen, später in automatisierten Produktionsbereichen. Durch den Import amerikanischer Technologie – insbesondere über IBM/DEHOMAG – entwickelte sich in der Schwer-, Auto- und Elektrotechnikindustrie ein neues Produktionsmodell, das Rechenzentren als Kontrolleinheiten über Maschinenketten etablierte. Datenverarbeitung wurde zu einem „Nervensystem“ industrieller Steuerung.
Zentral ist die parallele Entstehung eines sozialwissenschaftlichen Deutungsrahmens, getragen u. a. vom remigrierten Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Darin wurden betriebliche Arbeitsverhältnisse zum Untersuchungsfeld gemacht. Der Übergang von Theorie zu Datenanalyse war ein Meilenstein für die deutsche Industriesoziologie. Friedrich Pollocks Einfluss kann dafür nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie Roth – der über das Institut für Sozialforschung und dessen Umfeld und Förderer bereits viel publizierte – darlegt. Pollock lieferte mit seiner Habilitationsschrift: »Automation – Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen«, wie die in Band 4 der Schriftenreihe des Instituts, schlicht betitelt ist, einen frühen systematischen Versuch, die Folgen digitaler Steuerung zu analysieren. Er beschrieb Automatisierung als gesellschaftliche Zäsur, die neue Machtverhältnisse erzeugt, Qualifikationen neu verteilt und Mitbestimmung herausfordert.
Pollock war Bindeglied zwischen Wissenschaft und Gewerkschaften: Er suchte den Austausch mit der IG Metall und beeinflusste deren frühe Positionierungen zur Rationalisierung. Dies betont auch Christiane Benner in ihrem Vorwort. Seine Studie zur Automation bildete, wie Benner ausführt, bis in die 1980er Jahre einen bedeutsamen Bezugspunkt für den Vorstand der IG Metall, dessen Automationsausschuss aber auch der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit.
Digitale Automation in der industriellen Praxis
Roth widmet sich in Kapitel 2 der Frage, wie die frühen digitalen Technologien in der Öffentlichkeit, Wissenschaft, Politik und Medien besprochen wurden. Roth zeigt, dass die deutsche Gesellschaft die Digitalisierung schon in den 1950er und frühen 1960er Jahren als eminent politisches Thema verhandelte. Elektronische Rechenmaschinen und automatisierte Produktionsanlagen lösten eine intensive Debatte aus, die zwischen Fortschrittseuphorie und tiefen Sorgen über Arbeitsplatzverluste schwankte.
Dieser Diskurs war breiter, als man rückblickend erwartet: Er fand nicht nur in Betriebsleitungen und Fachgremien statt, sondern in Tageszeitungen, politischen Publikationen, wissenschaftlichen Tagungen und Gewerkschaftsforen. Vom populären Bild des „Elektronenhirns“ bis zu ernsthaften wirtschafts- und sozialpolitischen Analysen entstanden Deutungsangebote, die in der Summe eine neue gesellschaftliche Problemzone markierten: Wie lässt sich technischer Fortschritt sozial einhegen und gestalten?
Roth betont dabei die Rolle der OECD, sozialwissenschaftlicher Institute und früher Technikfolgenforschung. Deutschland war in einen transatlantischen Wissensraum eingebunden. Aus den USA kamen Begriffe, Szenarien, Studien und nicht zuletzt die Erzählung, Digitalisierung sei unvermeidlich und könne Wohlstand erzeugen – wenn sie richtig gesteuert werde.
In dieser Phase positionierten sich die Gewerkschaften erstmals sichtbar. Die IG Metall verfolgte die Debatte aufmerksam, griff wissenschaftliche Analysen auf und versuchte, sich nicht in die Ecke technikskeptischer Bremser drängen zu lassen. Stattdessen artikulierte sie einen gestaltungsorientierten Ansatz: Akzeptanz für Technologie nur dort, wo Beschäftigte vor Entwertung ihrer Qualifikationen geschützt würden, tarifliche Sicherheiten vorhanden seien und Weiterbildung greife.
Kapitel 2 zeigt so ein zentrales Motiv der frühen Digitalisierungsdebatte: Öffentlichkeit war nicht nur Bühne, sondern Produktionsort politischer Erwartungen und Angstbewältigung. Medien spielten eine Schlüsselrolle dabei, Automation als politisches Zukunftsthema zu verankern.
Zugleich macht Roth klar, dass diese Debatte konfliktbehaftet war. Früh kam es zu ersten Warnungen vor Rationalisierungswellen, und einzelne Arbeitskämpfe nahmen die Frage auf, ob technischer Fortschritt auf Kosten der Beschäftigten erfolge. Roth unterstreicht hier einen Gedanken, der leitend durch das Buch zieht: soziale Konflikte begleiteten technologische Modernisierung von Beginn an, und sie waren eine produktive Kraft, um politische Lösungen zu erzwingen – nicht deren Hemmnis.
Kapitel 2 schließt mit dem Hinweis, dass diese frühen Auseinandersetzungen die Blaupause für spätere „Modernisierungskonflikte“ bildeten. Das Verhältnis zwischen Innovation, Produktivität, sozialen Rechten und Beschäftigungssicherheit wurde früh ausverhandelt – und es etablierte sich die Erwartung, dass der Staat und die Tarifparteien Technologie nicht nur beobachten, sondern steuern.
Vom Rechenzentrum in die Werkhalle
Die frühe Digitalisierung der westdeutschen Metallindustrie blieb nicht auf Technik beschränkt. Sie war ein organisatorischer, sozialer und politischer Prozess. Rechenzentren wurden zu Machtzentren, Wertschöpfungsketten verschoben sich, Qualifikationen veränderten sich tiefgreifend – und die Realität in den Betrieben war geprägt von Experimentieren, Konflikten und Aushandeln. Kapitel 3 wendet sich deshalb den Betrieben zu, in denen die Digitalisierung zuerst sichtbar wurde.
Roth zeigt in seinen Fallstudien aus Stahl-, Automobil- und Elektrotechnikindustrie, dass Digitalisierung als Umbruch in den Betrieben begann: zunächst im Rechenzentrum, dann an Hochöfen und Fertigungsstraßen. Entscheidungsprozesse wanderten in Daten- und Steuerungssysteme, alte Qualifikationen verloren Gewicht, neue Fachrollen entstanden.
Ein wiederkehrendes Motiv in diesem Kontext sind Rechenzentren als „Gehirne über den Fabriken“. Die zentrale Erfassung und Auswertung von Produktionsdaten verschob Entscheidungsmacht. Planungs- und Steuerungsfunktionen wanderten in technische Systeme und zu spezialisierten Fachkräften, oft fern vom Shopfloor. Damit veränderten sich betriebliche Hierarchien sichtbar: Datenwissen wurde zu Autorität.
Roth beschreibt darüber hinaus, wie sich Berufsbilder wandelten. Traditionelle handwerklich-technische Routinen verloren an Stellenwert; dafür entstanden neue Tätigkeitsprofile. Qualifikation wurde neu definiert als Verständnis komplexer Zusammenhänge und Fähigkeit zur Systemsteuerung, nicht mehr als Beherrschung einzelner Maschinen. Dieser Wandel erzeugte seinerzeit genauso Sorgen und Widerstände die heutige Transformation: Beschäftigte fürchteten Status- und Arbeitsplatzverlust, während sich neue technische Fachrollen formierten.
Der Wandel verlief nicht glatt, sondern über Versuch und Irrtum, Konflikte und Umorganisierung. Die digitale Fabrik war damit kein fertiges Konzept, sondern ein Aushandlungsraum zwischen Technik, Arbeit und Macht.
„Samstags gehört Vati mir“: Gewerkschaftliche Lernprozesse
Die IG Metall reagierte – wie bereits dargelegt – auf die Digitalisierung nicht defensiv, sondern mit dem Aufbau institutioneller Stärke. Zugleich orientierte sie sich an internationalen Gewerkschaftserfahrungen, vornehmlich aus den USA. Internationale Fallbeobachtungen dienten als Frühwarnsystem und Ideenpool für Gestaltungsmöglichkeiten. Kapitel 4 und 5 legen dar, wie die IG Metall auf die frühe Phase digitaler Automation reagierte und welche institutionellen Strukturen sie aufbaute, um den Wandel politisch, tariflich und organisatorisch zu gestalten.
Roth beschreibt eine Phase intensiver inhaltlicher Orientierung. Die IG Metall diskutierte die neue Technik zunächst in Kommissionen und Ausschüssen, wertete internationale Erfahrungen aus und führte interne Schulungen durch. Dabei verknüpfte sie ihre Rationalisierungspolitik der Nachkriegszeit mit neuen Fragestellungen der Automatisierung: Qualifikationsentwicklung, Beschäftigungssicherung, Mitbestimmungsrechte bei technischen Innovationen. Gewerkschaftliche Führungskräfte erkannten, dass digitale Steuerungssysteme nicht nur Produktionsprozesse verändern, sondern auch Entscheidungswege und betriebliche Herrschaftsstrukturen verschieben.
Durch neue Abteilungen, Forschungskooperationen, Qualifizierungsprogramme und tarifpolitische Strategien entstand ein eigenständiger gewerkschaftlicher Ansatz zur Gestaltung technologischen Wandels. Digitalisierung war ein Konfliktfeld, aber auch eine Chance zur organisatorischen Weiterentwicklung.
Roth hebt hervor, dass diese institutionelle Formierung nur möglich war, weil die Gewerkschaft Ressourcen bündelte und Expertise langfristig band. Die Arbeit in der Automationsabteilung floss später in breit angelegte Weiterbildungsprogramme ein, die sowohl Betriebsräte als auch Gewerkschaftssekretäre erreichten.
Tarifpolitik und berufliche Bildung wurden eng zusammengedacht. Die Gewerkschaft wollte verhindern, dass die Digitalisierung zu einer Entwertung von Facharbeit führt. Sie setzte auf die Weiterentwicklung von Berufsbildern, auf Mitbestimmung in Qualifizierungsfragen und auf Absicherungsmechanismen bei Rationalisierungsmaßnahmen. Damit entstand ein umfassender Ansatz, der technische Innovation und soziale Regulierung miteinander verband.
Im Ergebnis veränderte die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung nicht nur Betriebe, sondern auch die Gewerkschaft selbst. Wissen wurde professionalisiert, interne Strukturen modernisiert, und die IG Metall entwickelte sich zu einem politischen Akteur, der Technikfragen als Bestandteil gesellschaftlicher Gestaltung begriff.
Eingebettet darin war die Überzeugung, dass sich die soziale Steuerung des technischen Fortschritts in konkreten Tarifauseinandersetzungen entscheidet. Automatisierung wurde verknüpft mit Verteilungskonflikten, Arbeitszeitpolitik, Qualifikationsrechten und betrieblichen Machtfragen.
Die Gewerkschaft verstand Automation als Rationalisierungsschub mit potenziellen Beschäftigungsrisiken und suchte verbindliche Regelungen, um Entlassungen zu verhindern und Qualifikation zu sichern. Daraus entwickelte sich ein normativer Rahmen, der später im Rationalisierungsschutzabkommen von 1967 mündete.
Roth arbeitet heraus, dass diese Entwicklung nicht von Beginn an planvoll war, sondern schrittweise erfolgte. Digitalisierung war ein Kampffeld, auf dem Arbeitgeber Rationalisierungsspielräume erweitern wollten, während die Gewerkschaft Schutz- und Gestaltungsrechte durchsetzte.
Die Gewerkschaft setzte Arbeitszeitpolitik sowohl als Instrument zur Verteilung technologischer Produktivitätsgewinne ein wie auch als Mittel zur Abfederung von Beschäftigungsrisiken. Automation wurde somit politisch „übersetzt“: weniger Arbeitszeit statt weniger Arbeitsplätze. Diese Perspektive stellt Roth als strategische Weichenstellung dar, die bis heute im Digitalisierungsdiskurs nachwirkt.
Ein wichtiges Motiv ist die Verzahnung von betrieblicher Mitbestimmung und Flächentarifpolitik. Betriebsräte nutzten Mitbestimmungsrechte bei technischen Veränderungen, während Tarifverträge übergeordnete Schutzmechanismen definierten. Roth benennt diesen Doppelansatz als Erfolgsrezept gegen Entwertung von Facharbeit und Arbeitsplatzunsicherheit.
Im Kapitel 5 schließlich rekonstruiert Roth, wie die IG Metall ihr Wissen zur Automation in den 1960er-Jahren systematisch vertiefte und öffentlich wirksam machte. Im Zentrum standen drei Elemente: erstens die großen internationalen Arbeitstagungen (1963, 1965, 1968), zweitens die intellektuelle Auseinandersetzung mit US-Ökonomen wie Seligman, und drittens die tarifpolitische Verdichtung in Richtung Rationalisierungsschutz, der 1967 abgeschlossen wurde. Roth zeigte, dass die Gewerkschaft nicht nur administrativ Strukturen schuf, sondern ein epistemisches Projekt verfolgte: Sie produzierte Wissen, übersetzte internationale Erkenntnisse in deutsche Bedingungen und verband diese mit konkreten Schutzansprüchen von Beschäftigten. Die 1968er-Tagung lenkte den Blick schließlich auf die Angestellten und damit auf eine neue betriebliche Konfliktzone der Digitalisierung: Büro- und Rechenzentrumsarbeit.
FairWandel 1.0
Roths Studie erinnert daran, dass große Transformationen nicht aus einem Guss entstehen, sondern Schritt für Schritt, tastend, mit Rückschlägen und Korrekturen. Die IG Metall entwickelte ihre Digitalpolitik der frühen Jahrzehnte nicht als Blaupause, sondern im permanenten Abgleich von Technikdynamik, betrieblicher Realität und sozialer Zielsetzung. Wer das Buch heute liest, erkennt darin eine Art FairWandel 1.0: den Versuch, technologischen Wandel in sozialen Fortschritt zu überführen.
Unter der Losung „FairWandel“ strebte die Gewerkschaft in jüngerer Zeit an, ein politisches Set von Rahmenbedingungen zur Gestaltung der digitalen und ökologischen Transformation zu etablieren.
Anders als in den 1950/60er Jahren fehlt dabei gegenwärtig ein klar definiertes Ziel, ähnlich wie damals etwa die Durchsetzung der 40-Stunden-Woche oder der Kampf um 35 Stunden. Doch Roth dokumentiert nicht nur, wie Arbeitszeitverkürzung in den 1960er Jahren zum strategischen Kernbestandteil der gewerkschaftlichen Modernisierungspolitik wurde, sondern dass dies nicht von Beginn an intendiert war. Der dialektische Umschlag von technischem Fortschritt zu sozialem Fortschritt, den Christiane Benner im Vorwort benennt, war Teil eines andauernden Erkenntnisprozesses.
Wenn heute Transformationsprozesse in Teilen stocken – etwa weil Beschäftigte Erwartungen nicht erfüllt sehen oder Qualifizierungsmodelle nicht tragen –, dann lässt sich aus Roths Analyse ableiten, dass solche Friktionen typisch für tiefgreifende Strukturwandelphasen sind, nicht Ausdruck eines Scheiterns. Entscheidend ist nicht, dass der Weg bereits bekannt ist, sondern dass Organisationen Lern- und Anpassungsfähigkeit entwickeln und soziale Leitplanken definieren.
Das bedeutet jedoch zugleich auch, die Vision von FairWandel – der gerechten und an den Interessen der Lohnabhängigen ausgerichteten Transformation – nicht vorschnell aufzugeben. Das kurzfristige, in Legislaturperioden Denken von Parlamenten und Regierungen, die Kurzatmigkeit von Medienberichterstattung und sozialen Netzwerken muss sich eine Gewerkschaft, deren Mitgliederzahl höher liegt als die jeweilige Zahl der Einwohnerinnen von 19 Europäischen Staaten bzw. fünf der sechzehn deutschen Bundesländer, nicht zu eigen machen.
Maßgeblichen Anteil am Erfolg gewerkschaftlicher Begleitung der frühen Digitalisierung hatte aus Roths Sicht, die Benners Darstellung stützt, dass die IG Metall in den ersten rund zwanzig Jahren der Digitalisierung sowohl die Interessen der Lohnabhängigen wirkungsvoll vertrat, als auch sich selbst in diesem Prozess bewusst weiterentwickelte: „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“ formuliert der Historiker lateinisch geschult – mit Blick auf die Zielgruppe des Buches ist die Übersetzung angemessener: Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Der zentrale Impuls lautet nicht nur gestalten statt geschehen lassen, sondern auch geduldig bleiben, Ziele klar benennen und institutionelle Fähigkeiten aufbauen. Fortschritt entsteht dort, wo technischer Wandel mit einer Vision für die soziale Gestaltung der Gesellschaft verbunden wird. Dies bleibt der Maßstab, an dem sich Transformationspolitik für einen FairWandel auch heute messen lassen muss.
Die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erschienene Studie ist ein Beitrag, verschüttetes Wissen hervorzuholen und anwendbar zu machen. Ralf Roth zeigt, wie die IG Metall vor 70 Jahren lernte, technologischen Wandel in sozialen Fortschritt zu übersetzen – und warum diese Erfahrung heute wieder Bedeutung hat. Ob der Umfang der Studie von rund 450 Seiten dazu beiträgt, die Erkenntnisse über einen engen Kreis tatsächlich historisch Interessierter hinaus publik zu machen, darf freilich bezweifelt werden.
Roth rekonstruiert die frühe Digitalisierungsphase mit übergroßem historischem Detailreichtum. Das schärfte zwar das Bild der wissenschaftlichen und organisatorischen Umgebung und zeigte, wie eng Technik-, Modernisierungs- und Sozialstaatsdebatten verknüpft waren. Zugleich erzeugen etwa die ausführlichen Passagen zur Entwicklung des Instituts für Sozialforschung oder zu einzelnen Konferenzen nur selten einen direkten Erkenntnisfortschritt für die Leitfrage des Buches. Manche Abschnitte wirken eher atmosphärisch und kontextualisierend als analytisch notwendig. Sie tragen weniger zur Klärung gewerkschaftlicher Lern- und Handlungsprozesse in der frühen Digitalisierung bei.
Der Hans-Böckler-Stiftung wäre deshalb empfohlen, aufbauend auf den zentralen Erkenntnissen der Studie eine erweiterte Fassung des Resümees zu publizieren, in der Schlussfolgerungen nicht nur für die Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 gezogen werden, sondern auch für eine Gewerkschaftsstrategie der Gestaltung der nächsten Phase der Transformation. Denn die Erkenntnisse von Roth sind für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit ein großer Gewinn.