03.11.2025
Benjamin-Immanuel Hoff

Thomas Piketty und der revolutionäre Elan der Sozialdemokratie

Der Verlag C.H.Beck publiziert Kolumnen und ein Essay von Thomas Piketty. Der Wirtschaftswissenschaftler skizziert darin einen langfristigen Weg zu demokratischer Wirtschaftssteuerung, ökologischer Transformation und globaler Gerechtigkeit. Der Band knüpft an die historischen Leistungen der revolutionären Sozialdemokratie an und will Mut machen zu einer erneuerten, konfliktbereiten Politik der Vergesellschaftung und Umverteilung. Sein Argument: Am Beginn des 20. Jahrhunderts war der heutige Sozialstaat undenkbar. Warum soll ein demokratischer und ökologischer Sozialismus im 21. Jahrhundert Utopie bleiben? Zugleich bleibt die Frage offen, wie diese Vision den autoritären und faschistischen Gegenbewegungen begegnet, die Thomas Piketty kaum thematisiert.

Zeitungskolumnen nach einiger Zeit in einem Band zu versammeln ist ein naheliegender Schritt. Beim S. Fischer-Verlag erschien dazu jüngst Carolin Emckes Band »Respekt ist zumutbar. Texte zu unserer Gegenwart«, der Kolumnen und Reden aus den Jahren 2014 bis 2024 bündelte.

Der Verlag C.H. Beck wiederum veröffentlichte eine Auswahl von 40 jeweils vierseitigen Kolumnen von Thomas Piketty unter dem Titel »Für einen ökologischen Sozialismus. Interventionen«. Den Kolumnen ist ein programmatischer Essay vorangestellt, dessen Titel zugleich als Leitbegriff des Bandes dient.

Piketty eröffnet diesen Essay mit einer normativen Behauptung, die bewusst gegen den gegenwärtigen Krisendiskurs gesetzt ist:

„Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Sozialdemokratie. Das 21. wird das Jahrhundert des ökologischen, demokratischen und partizipativen Sozialismus sein.“

Im Kontext medialer Schwarzmalerei fällt diese Zuversicht auf. Piketty verweist auf historische Erfahrung: Gleichheit entstehe durch politischen Kampf, und dieser Kampf habe bereits Erfolge erzielt.

„Dieser Kampf konnte schon in der Vergangenheit und er kann auch in Zukunft gewonnen werden“, solange die Debatte über alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle nicht anderen überlassen werde. Für ihn steht fest: „Der demokratische und ökologische Sozialismus wird sich am Ende durchsetzen, weil die anderen Denksysteme, allen voran Liberalismus und Nationalismus, es allein niemals schaffen werden, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.“

Auffällig ist, dass Piketty die Möglichkeit autoritärer Zukunftsszenarien nicht thematisiert. Im Unterschied zu Emcke, die sich intensiv mit dem Erstarken autoritärer Rechtspopulisten von Brexit und Pegida bis zu AfD und Trump befasst, blendet der Wirtschaftswissenschaftler, der 2014 mit dem Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« einen Weltbestseller landete, die faschistische Option weitgehend aus.

Zunächst blickt er historisch zurück. Der Sozialstaat, getragen von der sozialdemokratischen Vision, war am Vorabend des Ersten Weltkriegs unvorstellbar. Der Staat konzentrierte sich damals auf Ordnung und Sicherheit, doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts übernahm er zentrale Bereiche sozialer Sicherung und öffentlicher Daseinsvorsorge: Bildung, Gesundheit, Rente, Wohnen, Verkehr. Piketty bezeichnet diese Transformation als „sozialdemokratische Revolution“. Sie habe gezeigt, dass kapitalistische Profitlogiken in zentralen Bereichen zurückgedrängt werden können.

Seit den 1980er Jahren sei dieser Elan jedoch erlahmt. Sozialdemokratische Parteien stabilisierten die bestehende Ordnung, anstatt sie weiterzuentwickeln. Die Linke habe im ländlichen Raum an Boden verloren, auch weil sozial-ökologische Konflikte ohne soziale Abfederung geführt wurden. Der Prozess der Abkehr von Marktlogik – Piketty spricht von „Entmarktung“ – sei unvollendet geblieben:
„Gewiss wurde ungefähr ein Viertel der Wirtschaft vom Markt abgekoppelt, aber die drei anderen Viertel gehorchten weiterhin einer marktwirtschaftlichen, kapitalistischen und extraktivistischen Logik.“

Daraus leitet er die Forderung nach einer Rückbesinnung auf die transformative Sozialdemokratie ab: Entmachtung kapitalistischer Eigentumsstrukturen, Ausbau demokratischer Wirtschaftssteuerung, progressive Besteuerung großer Vermögen, Vergesellschaftung zentraler Sektoren. Sozial- und Klimapolitik müssten zusammengedacht werden. Klimapolitik ohne soziale Ausgleichsmechanismen werde scheitern, Sozialpolitik ohne ökologische Perspektive unzureichend bleiben. Der Weg „von der Sozialdemokratie zum demokratischen und ökologischen Sozialismus“ beruhe auf demokratisch gesteuerter Ausweitung nicht-marktlicher Sektoren, Vergesellschaftung von Reichtum und erneuerter Steuerprogression.

Zur Illustration verweist Piketty auf die historischen Lohnfonds der schwedischen Arbeiterbewegung. Unternehmen sollten jährlich einen Teil ihrer Gewinne in Fonds einzahlen, die schrittweise Mehrheitsbeteiligungen der Beschäftigten ermöglichen. Ergänzend sei eine Obergrenze für Stimmrechte einzelner Aktionäre nötig. In Schweden scheiterte dies am Widerstand der Kapitalseite; in den USA griffen Sanders und Ocasio-Cortez diese Idee wieder auf.

Piketty betont, dieser Prozess werde Jahrzehnte dauern, mit Phasen des Fortschritts und des Rückschlags. Der „ökologische Sozialismus“ stelle eine Jahrhundertaufgabe dar. Sein Ursprung könne ebenso im globalen Süden wie im Norden liegen. Indien und Brasilien nennt er als Beispiele, die sowohl demokratische Legitimation als auch geopolitisches Interesse an einer Neuordnung des globalen Wirtschafts- und Finanzsystems mitbrächten.

Trotz aller Transformationserwartung betont Piketty die Bedeutung pluraler Demokratie: „Ich glaube vor allem an die Tugend der Meinungsverschiedenheit und des öffentlichen Disputs, an pluralistische Wahlen und den demokratischen Wandel.“

Gerade deshalb fällt ins Gewicht, dass er Faschismus als eigenständige politische Formation kaum berücksichtigt. Stattdessen erscheint Faschismus bei ihm als radikale Variante des Nationalismus. Damit gerät aus dem Blick, dass faschistische Bewegungen historisch ein eigenes Projekt darstellten, das Klassenkonflikte, Kapitalinteressen, Massenmobilisierung, Gewalt, Rassismus und Staatsumbau verband. Vor dem Hintergrund heutiger autoritärer Dynamiken wirkt diese Reduktion analytisch problematisch. Die Erwartung, dass sozialstaatliche Fortschritte autoritäre Tendenzen neutralisieren könnten, übersieht, dass faschistische Bewegungen auch in wohlhabenden Wohlfahrtsstaaten erstarkten, wenn Krisen, Deutungsangebote und autoritäre Organisationsformen zusammenfanden. Die optimistische Eröffnung verliert dadurch nicht ihre normative Stärke, erhält jedoch eine blinde Stelle.

Die Kolumnen im Anschluss erschienen von September 2020 bis April 2025 in Le Monde. Die chronologische Anordnung führt zu thematischen Wiederholungen. Zehn Texte behandeln Europa, neun Steuer- und Verteilungsfragen, sechs Globalisierung und internationale Gerechtigkeit usw.. Eine thematische Bündelung hätte Redundanzen abgemildert. Inhaltlich lohnte die Lektüre dennoch für alle, die an strategischen Vorschlägen für eine progressive Politik interessiert sind.

Piketty plädiert in den Kolumnen u.a. für eine Parlamentarische Versammlung Europas, proportional zur Bevölkerung der Mitgliedstaaten besetzt, für ein Mindest­erbe von etwa 120.000 Euro (60 Prozent des durchschnittlichen Erbes) und für eine internationale Mindestbesteuerung, die deutlich über 15 Prozent liegen und den globalen Süden stärker beteiligen soll.

Gegen paternalistische Entwicklungspolitik argumentiert er, dass arme Länder ein Recht auf Entwicklung bräuchten, unterlegt durch Mechanismen, die ihre historische Ausplünderung beenden. Der globale Norden sei reich, mache sich aber durch falsche Steuerpolitik künstlich arm. Entwicklung verlange Umverteilung konzentrierter Vermögen.

Für eine wirksamere Sanktionierung oligarchischer Vermögen schlagen Piketty, Zucman und Saez ein globales Register zur Erfassung von Finanzvermögen vor. Zentralverwahrer wie Clearstream, Euroclear oder DTC sollen unter öffentliche Kontrolle gestellt und mit nationalen Registern verknüpft werden. Der erwartbare Einwand der Undurchführbarkeit wird mit dem Hinweis beantwortet, dass freier Kapitalverkehr ohne öffentliche Gegenmacht ein unhaltbares System darstelle.

Die geopolitische Gegenwart wird von den Vereinigten Staaten und China geprägt, die jeweils ihre eigenen politischen und ökonomischen Entwicklungsmodelle durchsetzen. Piketty legte in seinen Texten aus ökonomischer Perspektive Vorschläge für ein europäisches Projekt sozialer und internationaler Gerechtigkeit vor. Es wäre einen Versuch wert, die genannten und weitere progressive Ideen aus dem Buch mit derselben Hartnäckigkeit und Konsequenz zu verfolgen, mit der autoritäre Führungspersonen wie Trump oder Xi ihre politischen Projekte durchzusetzen versuchen.

Thomas Piketty, Für einen ökologischen Sozialismus. Interventionen, Verlag C.H.Beck, München 2025 – übersetzt aus dem Französischen von Stefan Lorenzer (ISBN: 978-3-406-83712-8)