Von moralischer Gewissheit zu historischer Blindheit
„Wir mussten nicht nur über die Befreiung der Gesellschaft sprechen, sondern ebenso über die Befreiung des Denkens.“ (Angela Davis)
Ein Beschluss im Fahrwasser israelhassenden Anti-Imperialismus
Am Wochenende fand der 18. Bundeskongress des linksparteinahen Jugendverbandes Linksjugend[`solid] statt. Diskutiert und abgestimmt wurde auch über einen Antrag unter dem Titel „Nie wieder zu einem Völkermord schweigen“. 127 von 182 der Delegierten votierten mit „Ja“.
„Wen kümmert’s…“ könnte man sich sagen. Doch erfahrungsgemäß wird dieser Beschluss eine Öffentlichkeit entfalten, in der wieder einmal pauschal alle Mitglieder und Sympathisant:innen der Partei Die Linke in Mithaftung genommen werden. Für eine Positionierung, die mit einer moralisch aufgeladenen, internationalistischen Rhetorik eine vulgär-antiimperialistische Haltung formuliert – also eine Perspektive, die antiimperialistische Kategorien schematisch auf „den Westen“ und „den globalen Süden“ überträgt. Und in der die historischen Irrtümer des Antiimperialismus, zu denen der Israelhass organisch gehört, ignoriert werden.
Wer nicht bereit ist, die terroristische Hamas und die vor ihr längst kapitulierten palästinensischen Kommunist:innen bzw. bewaffnete Organisationen wie DFLP und PFLP als „revolutionäre Bewegungen in der Region“ zu glorifizieren, muss dem Beschluss öffentlich widersprechen. Sowohl für die 45 Delegierten, die sich diesem Beschluss verweigert haben, als auch diejenigen, die mit einem solchen Beschluss nicht in eins gesetzt werden wollen. Zumal Die Linke vom Jugendverband aufgefordert wird, ihm in dem Beschluss und seiner Logik zu folgen.
In diesem Sinne ist festzuhalten – und es ist beschämend, dies in der Partei Die Linke immer und immer wiederholen zu müssen: Am 7. Oktober 2023 wurden beim Terrorangriff unter dem euphemistischen Titel der sogenannten Al-Aqsa-Flut, mehr als 1.200 Bürger:innen Israels, jüdische wie nichtjüdische, systematisch ermordet, vergewaltigt, verschleppt und gefoltert. Seither wurden Opfer des Terrorangriffs als Geiseln gehalten, missbraucht, erneut vergewaltigt und zu Tode gequält. Verantwortlich dafür sind die Hamas und ihre Bündnispartner. Jede linke Positionierung zum gegenwärtigen Konflikt verliert ohne diese klare Verortung moralischen und analytischen Boden.
Doch der Linksjugend-Beschluss arbeitet gerade nicht mit Analyse. Weil er im Text „Selbstkritik“ behauptet, fällt der Gestus moralischer Selbstvergewisserung auf. Analyse und Erkenntnis möchte er ersetzen durch eine Haltung nach dem Muster: Wer schärfer anklagt, liegt näher an der Wahrheit. Das führt zu einer identitären Logik: „Wir sind die, die endlich den Mut haben, die Wahrheit auszusprechen.“ In dieser Selbstinszenierung geht jede Offenheit für Komplexität verloren. Der Blick richtet sich nicht mehr auf konkrete politische Praxis in der Region, sondern auf das eigene Gewissen.
Deshalb:
1. „Nie wieder zu einem Völkermord schweigen“ ist für einen linken Jugendverband ein richtiger und notwendiger Anspruch. Entscheidend ist, dass dieser Satz universell gilt und nicht selektiv. Wer ihn formuliert, braucht klare Maßstäbe. Das bedeutet: transparent zu benennen, welche Kriterien für die Beurteilung eines Völkermords gelten; darzulegen, wie man sich zur Rechtsprechung internationaler Institutionen wie dem Internationalen Gerichtshof verhält; und zu zeigen, wie dieser Anspruch angesichts realer Konflikte weltweit angewendet wird, etwa im Sudan. Nur dann entsteht aus einer moralischen Selbstverpflichtung eine politische Haltung, die glaubwürdig für Menschenrechte einsteht und den eigenen Grundsatz ernst nimmt – in jedem Kontext, nicht nur in einem ausgewählten.
Eine solche politische Haltung fehlt in dem Beschluss völlig. Denn sein Ziel besteht ausschließlich in der Dämonisierung und Verurteilung Israels als „ein koloniales und rassistisches Staatsprojekt, [das] sich von seinen Anfängen bis heute in der Eroberung neuer Gebiete und in der Vertreibung ihrer Einwohner:innen ausdrückt“, der als Staat „Verbrechen, vom Apartheidsystem bis zum Genozid in Gaza“ verübe.
Mit dieser Terminologie knüpft die Linksjugend an eine Traditionslinie an, in der Israel nicht als historisch kontingenter Nationalstaat mit spezifischer jüdischer Geschichte verstanden wird, sondern als „künstliches“, imperialistisch erzeugtes Siedlungsprojekt. Damit wird der jüdische Staat in eine Kategorie mit europäischen Kolonialgebilden gesetzt, die als transplantierte Herrschaftsstrukturen gelten. Moishe Postone analysierte diese Umdeutung als spezifische Form politischer Projektion: „Jews [were transformed] from the victims of oppression into its agents.“
Diese Abwertung jüdischer Staatlichkeit als „künstlich“ ignoriert historische Flucht-, Exil- und Selbstbestimmungserfahrungen im Ergebnis jahrhundertelanger antisemitischer Gewalterfahrungen und des Holocausts.
2. Linke Politik verliert ihren emanzipatorischen Kern, wenn sie Gewaltakteure moralisch idealisiert und historische wie ideologische Unterschiede verwischt. Der Beschluss, dem ich widerspreche, setzt genau an dieser falschen Stelle an. Er beschwört universelle Solidarität, aber definiert ihre Adressaten nicht entlang progressiver Kriterien, sondern entlang des Feindbilds „Israel“. Das hat innerhalb der linken Theoriegeschichte bekannte Folgen. Es erleichtert die rhetorische Entlastung autoritärer Akteure und verstellt den Blick auf palästinensische progressive, feministische, gewerkschaftliche und demokratische Initiativen, die ebenso Opfer islamistischer Herrschaft sind wie der israelischen Besatzung und der Eskalationslogik.
Wenn im Jahr 2025 Antragsteller:innen eines sich links nennenden Jugendverbandes davon schreiben, dass Israel ein Staatsprojekt sei, das sich von seinen Anfängen bis heute in der „Eroberung neuer Gebiete und der Vertreibung ihrer Einwohner:innen“ ausdrücke, hat offenbar niemand von ihnen auch nur einmal einen Blick in Moishe Postones Essay „Antisemitism and National Socialism“ (1979) geworfen, in dem er eindringlich davor warnt, historische Schuldabwehr und politische Projektion zu verwechseln. Postone zeigt, wie ein Teil der westdeutschen Linken nach dem Sechstagekrieg 1967 einen entscheidenden Perspektivwechsel vollzieht: Nicht das Leid der Palästinenser:innen löst diesen Bruch aus, sondern der überraschende israelische militärische Sieg. In dieser Situation, so Postone, drehen Teile der Linken die historische Schuldachse um. Israel erscheint plötzlich nicht mehr als Zufluchtsstaat von Überlebenden der Shoah, sondern als „starker“ Akteur, der mit militärischer Macht siegt – und damit zum Symbol eines neuen „Täterkollektivs“ stilisiert wird. Die Palästinenser:innen hingegen rücken in der damaligen Rhetorik nicht als konkrete historische Subjekte in den Blick, sondern als Projektionsfläche für jene „besseren Opfer“, mit denen man sich nun identifiziert.
Die Erzählung lautet: Wenn Juden nicht mehr Opfer sind, sondern militärisch erfolgreich, dann werden sie von dieser Logik zu „Tätern“ gemacht. Und wer gegen sie kämpft, wird imaginär zu den „neuen Juden“. Postone beschreibt diese Dynamik als psychologischen und politischen Mechanismus der Schuldumkehr: Nicht die deutsche Gesellschaft ringt mit der eigenen Geschichte, sondern Israel wird symbolisch an die Stelle der Täter gesetzt – und palästinensischer Widerstand wird als Wiederholung des „richtigen“ antifaschistischen Kampfes aufgeladen. Damit verschwindet historische Komplexität, und es entsteht ein moralisches Rollenspiel: Israel als Projektionsfläche für Macht und Unterdrückung, palästinensische Akteure als reine Opfer und damit Träger eines „gerechten Widerstands“, ungeachtet ihrer Ideologien und politischen Ziele.
3. Linke Politik ist dann emanzipatorisch, wenn sie Staaten und Bewegungen als historische und politische Akteure analysiert – nicht als Symbole im eigenen Schuld- und Entlastungsdrama. Wer Israel nicht als konkreten Staat in konkreten Sicherheitskonstellationen begreift, sondern als moralisches Sinnbild, wiederholt jene Projektion, die Moishe Postone beschreibt: Israel wird zur Chiffre für Macht und Unterdrückung, palästinensische Akteure werden automatisch zu „reinen Opfern“ stilisiert, zu den „besseren Juden“. Diese Logik ersetzt Analyse durch Identitätsentlastung und blendet autoritäre, antisemitische und antiemanzipatorische Ideologien aus, die in Teilen der palästinensischen Organisationen tatsächlich existieren.
Im Lichte von Fred Hallidays Analyse in Islam and the Myth of Confrontation (1996) wird zusätzlich sichtbar, wohin diese Verwechslung führt. Halliday zeigt, dass Teile der Linken seit dem Kalten Krieg dazu neigen, islamistische Bewegungen vorschnell als antiimperialistische Verbündete zu interpretieren, sobald sie sich gegen westliche Staaten positionieren. Diese Zuschreibung entsteht nicht aus einer Prüfung ihres politischen Programms, sondern aus einem reflexhaften Freund-Feind-Schema. Islamistische Akteure sind jedoch weder automatisch antikolonial noch emanzipatorisch; häufig operieren sie autoritär, patriarchal und repressiv. Ihre Gegnerschaft zum Westen macht sie nicht progressiv.
Wenn ein Beschluss islamistische Organisationen pauschal als „revolutionäre Kräfte“ behandelt und behauptet, es sei Aufgabe, als „Sozialist:innen in Deutschland, die revolutionären Bewegungen in der Region zu unterstützen und den deutschen Staat daran zu hindern, die Revolution mithilfe seiner Verbündeten in der Region niederzuwerfen und demokratische und sozialistische Ansätze zu unterdrücken“, verzichtet er auf eine Analyse ihrer realen Ziele, sozialen Strukturen und Machtpraktiken.
Die Linksjugend [`solid] reproduziert damit genau jene Fehllektüre, die Halliday kritisiert: antiimperialistische Kategorien werden mechanisch angewendet, reale Herrschaftsverhältnisse werden ignoriert. Eine Linke, die Emanzipation ernst nimmt, darf nicht nur die Gewalt westlicher Staaten benennen, sondern muss ebenso die Unterdrückung durch fundamentalistische und autoritäre Kräfte im globalen Süden adressieren. Solidarität entsteht nicht durch automatische Parteinahme, sondern durch die konsequente Unterstützung jener, die für Freiheit, Rechte und Gleichheit kämpfen – unabhängig davon, wer ihr Gegner ist.
Halten wir deshalb noch einmal sehr deutlich fest: Die bewaffneten Organisationen PFLP und DFLP beteiligten sich an der Seite der Hamas an der „al-Aqsa-Flut“ vom 7. Oktober 2023. Auch Kommunist:innen und andere Organisationen bejubelten den Angriff. Eigenständige Stimmen einer palästinensischen Linken sind kaum mehr zu vernehmen, auch nicht vom palästinensischen Gewerkschaftsverband o.a.. Wer die tatsächlichen – nicht nur die von der Linksjugend [`solid] halluzinierten – Träger:innen von demokratischen und sozialistischen Ansätzen in der palästinensischen Gesellschaft seien, die vermeintlich vom deutschen und israelischen Staat zielstrebig niedergeworfen werden sollen, darauf bleibt die Linksjugend [`solid] eine Antwort schuldig. Doch ohne das ist der Beschluss kein Ausdruck internationalistischer Solidarität, sondern linkes Wunschdenken in Beschlussform gegossen. Das hat in linken Sekten eine lange Tradition.
4. Festzustellen ist ebenso deutlich: Die Kriegsführung Israels in Reaktion auf den Terroranschlag von Hamas und Partnern hat mehrere zehntausend Palästinenser:innen, darunter Frauen und Kindern, das Leben gekostet und die Infrastruktur im Gaza-Streifen weitgehend zerstört. Unabhängig davon, dass die Hamas die palästinensische Bevölkerung und deren Infrastruktur als Geiseln und Schutzschilde nutzte, ermittelt der Internationale Strafgerichtshof wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen Israels. Der Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung und der Zugang zu humanitärer Hilfe wurde in zentralen Fällen nicht gewährleistet. Die israelische Regierung weist diese Vorwürfe zwar zurück, doch ist es dieselbe Regierung, in der zunehmend die Rechtsextremisten den Ton angeben und Entscheidungen trafen, die zu einer Hungersnot in Gaza beitrugen.
Internationale Prüfinstanzen behandeln den Verdacht auf systematische Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht nicht als politische Behauptung, sondern als rechtsstaatlich zu klärende Frage. Eine Linke, die universelle Menschenrechte ernst nimmt, erkennt an, dass diese Verfahren notwendig sind und dass die Einhaltung internationalen Rechts auch gegenüber demokratisch legitimierten Regierungen eingefordert wird.
In Israels Regierung und Parlament sitzen Kräfte, die offen für eine großisraelische Agenda eintreten und die dauerhafte Kontrolle über die Westbank verteidigen. Diese Siedlungs- und Besatzungspolitik steht im Widerspruch zum Anspruch Israels, die einzige Demokratie der Region zu sein, denn demokratische Teilhabe und Gleichheit vor dem Gesetz gelten unter militärischer Kontrolle nicht.
5. Zugleich existiert innerhalb Israels Demokratie ein breites progressives und linkes Spektrum, das gegen diese Entwicklungen arbeitet und offen seine Positionen äußern darf. Das unterscheidet – auch und gerade aufgrund der Neigung von Netanjahu und seinen Bündnispartnern für eine autoritäre Umgestaltung der israelischen Demokratie in Richtung der illiberalen Gesellschaften – die gegenwärtigen Arbeitsmöglichkeiten der israelischen linken und emanzipatorischen Opposition von denjenigen in den palästinensischen Gebieten. Dort lässt die Hamas entweder ihre Gegner:innen – wie jüngst – als öffentliche Machtdemonstration hinrichten oder die Fatah verhindert die Durchführung demokratischer Wahlen. Die letzten Parlamentswahlen der Palästinenser:innen fanden im Januar 2006 statt, ein Jahr zuvor wurde Mahmud Abbas als Präsident gewählt. Seitdem wurden keine nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen mehr durchgeführt.
Selbst Frantz Fanon, auf den sich Antiimperialist:innen oft beziehen, kritisierte Bewegungen, die zwar im Namen des Antiimperialismus kämpften, aber autoritäre Herrschaftsformen reproduzierten oder ethnisch-exklusive Projekte verfolgten. Eine Gewaltpraxis, die nicht zu demokratischer und sozialer Transformation führe, sondern in neue Machtkonzentration, Korruption oder autoritäre Kontrolle umschlage, stellte aus seiner Sicht keine revolutionäre Perspektive dar, sondern eine Fortsetzung der Gewaltlogik des Kolonialismus in anderer Form.
Fanon unterschied daher zwischen Befreiungskampf, der auf kollektive Emanzipation und politische Gleichheit zielt, und Gewalt, die lediglich Machtverhältnisse austauscht, ohne Unterdrückung zu überwinden.
6. Eine linke Position, die ernst genommen werden will, benennt konkrete demokratische, feministische, gewerkschaftliche und sozialistische Akteur:innen vor Ort, die tatsächlich für Freiheit, soziale Rechte und politische Partizipation eintreten. Organisationen wie „Standing Together“, „Breaking the silence“ und „Peace Now“ können wiederum konkret benannt werden als Partner:innen in einem Prozess, der auf Versöhnung, Frieden und eine gemeinsame israelisch-arabische Entwicklung orientieren.
Bewegungen wie Standing Together organisieren jüdisch-arabische Bündnisse, protestieren gegen Kriegspolitik und Besatzung und wenden sich gegen die Normalisierung rechtsextremer Positionen. Forschungseinrichtungen wie Zulat dokumentieren systematisch demokratische Erosion und ungleiche Rechtsverhältnisse und bringen diese in die politische Debatte ein. Zivilgesellschaftliche Netzwerke entwickeln Alternativen zur Eskalationslogik und arbeiten an Perspektiven, die Sicherheit, Gleichberechtigung und politische Rechte für Israelis und Palästinenser:innen verbinden.
Eine linke Kritik am israelischen Rechtsextremismus, die glaubwürdig sein will, muss deshalb zwei Dinge gleichzeitig tun: die reale Gewaltpolitik, Siedlerextremismus und Einschränkung demokratischer Rechte klar benennen und zugleich jene Kräfte stärken, die innerhalb Israels für Frieden, Gleichheit und ein Ende der Besatzung kämpfen. Doch wer über diese Organisationen nicht sprechen will, weil sie vermeintlich den israelischen Kolonialismus decken würden, sollte von internationaler Solidarität schweigen.
Linker Internationalismus ist glaubwürdig, wenn er Empathie mit Analyse verbindet, moralische Prinzipien mit historischen und politischen Maßstäben. Ein Anspruch wie „Nie wieder zu einem Völkermord schweigen“ verlangt deshalb universelle Kriterien, historische Urteilsfähigkeit und die Bereitschaft, solidarisch und konkret an der Seite derer zu stehen, die für Freiheit, Gleichheit und demokratische Rechte kämpfen – in Israel, in Palästina und überall sonst.