„Land of Hope and Dreams“ – Kunst als Gegenfaktum in autoritären Zeiten
Am Vorabend des 4. Juli 2025, dem 249. Unabhängigkeitstag der USA, endete Bruce Springsteens »Land of Hope and Dreams«-Europatour. Während die Tour von Manchester bis Mailand lief, ließen in Washington die republikanischen Abgeordneten im Kongress und Repräsentantenhaus bis auf vereinzelte Ausnahmen das »One Big Beautiful Bill« passieren. Es untersetzt auf 900 Seiten die Trump-Agenda finanziell.
Im Juni war der demokratische Senator Alex Padilla, Sohn mexikanischer Einwanderer, bei einer Pressekonferenz der Heimatschutzministerin Kristi Noem rabiat abgeführt und medienwirksam am Boden liegend von Bundesbeamten mit Handschellen gefesselt worden. Nur wenige Tage später wurden die demokratische Abgeordnete Melissa Hortman, die dem Parlament von Minnesota angehörte, und ihr Ehemann Mark erschossen. Derselbe Täter hatte zuvor den demokratischen Senator aus dem Parlament des Bundesstaats, John Hoffman, und dessen Ehefrau Yvette niedergeschossen und schwer verletzt.
Die konservative Mehrheit im Supreme Court hebelte parallel zu diesen Vorgängen die juristische Blockade verfassungswidriger Gesetze durch Bundesrichter aus und untergrub damit ein weiteres Mal die Checks-and-Balances der US-Demokratie. „In gleich mehreren Entscheidungen übernahm der Supreme Court die Trump’sche Rhetorik, dass Bundesgerichte, die Bundesrecht gegenüber der Regierung durchsetzen, irgendwie illegitim seien. Nicht das rechtswidrige Verhalten der Exekutive bedrohe demnach die Verfassung, sondern die Entscheidungen der Gerichte, die die Exekutive dabei einschränken“, kommentierte Leah Litman, Professorin an der Michigan Law School auf dem Verfassungsblog. Sie fügte hinzu: die Entscheidungen des Supreme Court „ergehen in einem politischen Klima, in dem eine Regierung immer mehr Macht beansprucht und zugleich dagegen ankämpft, dass die Exekutive dem Recht unterworfen ist und Bundesgerichte dieses Recht auch gegenüber der Exekutive durchsetzen dürfen.“[1]
„The America that I've sung to you about for 50 years is real“
Angesichts dieser Entwicklungen war die »Land of Hope and Dreams«-Tour Springsteens persönlicher Beitrag zu den »No Kings«-Protesten, an denen laut den Veranstaltern mehr als fünf Millionen Menschen in rund 2100 Städten teilgenommen hatten: „The mighty E Street Band is here tonight to call upon the righteous power of art, of music, of rock and roll in dangerous times“.
Zwischen den Songs kritisierte der Künstler die Trump-Administration in scharfen Ton und ließ seine Kritik auf den großen Leinwänden neben der Bühne in die jeweiligen Landessprachen der Tournee-Auftritte übertragen. Auf seinem Netzwerk »Truth Social« verfasste Präsident Trump daraufhin mehrere zusammenhanglose Tiraden, auf denen er dem Musiker mehr oder weniger verhohlen drohte, für den Zeitraum, an dem dieser wieder in die USA zurückkehren sollte.
Springsteen sprach auf der Bühne in Manchester einen bemerkenswerten Satz: „The America that I've sung to you about for 50 years is real“. Dieses Amerika, das er besingt ist ein Land der Hoffnung, der Würde, der Solidarität. In der Aussage, dass dieses Amerika real sei, wird die Realität als Möglichkeit verhandelt, nicht als Status quo. Es ist die utopisch überschießende Vorstellung eines Amerika, das (noch) nicht vollständig eingelöst, aber dennoch real ist, weil es gelebt, verteidigt und imaginiert wird.
Im Status Quo entmachtet die Erosion der „checks and balances“ die demokratischen Institutionen – nicht nur durch juristische Entscheidungen, sondern durch Erzähldeutung. Wenn der republikanisch dominierte Kongress, das Weiße Haus, Justiz- und andere Ministerien nicht mehr auf Wahrheit, sondern auf Tribalisierung setzen, dann werden die Institutionen zu Hüllen, nicht zu Bollwerken der Demokratie.
Dagegen stehen die die Kathedralen des Wissens mit dem Normativ der Wahrheit und die Kunst als Ort der Re-Realität: Theater, Literatur oder Musik können alternative Wirklichkeiten imaginieren – nicht im Sinne der Unwahrheit sogenannter alternativer Fakten, sondern des Gegenentwurfs zur systematisierten Lüge. Deshalb stehen sie unter Druck und sind im Visier sowohl der Trump-Administration als auch des MAGA-Netzwerks.
Kulturkampf der MAGA-Bewegung
Wie die rechte MAGA-Bewegung die autoritäre Transformation gesellschaftspolitisch flankiert, lässt sich an #bookban ablesen. Der Hashtag in den sozialen Netzwerken macht auf die grassierenden Buchverbote in den öffentlichen und schulischen Bibliotheken aufmerksam. PEN America dokumentierte nach eigenen Angaben[2] seit 2021 fast 16.000 Buchverbote an öffentlichen Schulen in den USA – eine Zahl, wie sie zuletzt während der antikommunistischen McCarthy-Ära der 1950er-Jahre erreicht wurde. Diese Zensur wird von konservativen Gruppen betrieben und hat sich auf nahezu alle Bundesstaaten ausgebreitet. Entgegen dem öffentlichen Eindruck, dass es sich bei den Bestrebungen, Bücher aus öffentlichen Bibliotheken und dem Lehrkanon zu selektieren, um Initiativen aufgebrachter Eltern oder Einzelpersonen handeln würde, kamen Recherchen zu dem Ergebnis, dass es sich um das organisierte Vorgehen rechtskonservativer und religiöser Organisationen handelt. Gerichtet ist es vor allem gegen Bücher über Rassismus, People of Color sowie LGBTQ+-Themen – aber auch gegen Werke für ältere Leser:innen, die sexuelle Inhalte oder sexualisierte Gewalt thematisieren. Allein im Schuljahr 2023/2024 stellte PEN America mehr als 10.000 Buchverbote fest, die über 4.000 unterschiedliche Titel betrafen.
Wie Johannes von Moltke und Susanne Komfort-Hein nachweisen, geht es der US-amerikanischen Neuen Rechten im umkämpften Feld der Kinder- und Jugendliteratur darum, „die oft prägenden Lektüreerfahrungen junger Leser:innen frühzeitig in die Bahnen zu lenken, die für eine spätere konservative, nationalpatriotische und oft christliche Ausrichtung sorgen und gegen die Auseinandersetzung mit Differenz, mit Multikulturalität, mit Empathie oder auch mit ›difficult histories‹ immunisieren“[3], während für Erwachsene diesseits und jenseits des Atlantiks, neurechte Verlage, Zeitschriften, Bücher, Blogs, Podcasts und Videos literarische Texte publizieren, Lektürehinweise geben und Literaturkritik betreiben.
„Literatur und Lektüre [gehören] auf beiden Seiten des Atlantiks wesentlich zum Instrumentarium neurechter ›Metapolitik‹“[4] bilanzieren von Moltke und Komfort-Hein in der Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, die sich in Heft 4/2024 dem Schwerpunkt »Neurechte Literatur und Literaturpolitik« widmete und damit den Scheinwerfer auf ein bislang vernachlässigtes Beobachtungsfeld neurechter Einflussnahme richtete.
Die Neue Rechte: Hegemonie statt Coup d‘État
Erneut deutlich wird, dass die globale Neue Rechte nicht vordergründig auf den Coup d‘État für die autoritäre Transformation fokussiert. Vielmehr folgt sie – im Sinne Alain de Benoist’s 1985 erstmals publizierter und seither immer wieder neu verlegter Schrift »Kulturrevolution von rechts. Gramsci und die Nouvelle Droite« - der Überzeugung, dass politische Mehrheiten nur auf dem Umweg über kulturelle Hegemonie stabil zu erreichen sind.
Gramsci formulierte seinerzeit in den »Gefängnisheften«: „Hegemonie ist Überzeugung gepanzert mit Zwang“ und betonte, dass moderne, westliche Gesellschaften nicht auf bloße Gewalt oder autoritären Zwang angewiesen sind, sondern Herrschaft insbesondere durch eine Kombination aus kultureller Zustimmung (Hegemonie) und latentem (oder offenem) staatlichem Zwang ausgeübt wird.
In diesem Sinne untergraben gegenwärtige autoritäre Regime staatliche Institutionen, Medien und Wissenschaft gezielt von innen – begleitet von einer kulturkämpferischen Erzählung, die den »Volkswillen« gegen »Eliten«, »Woke Culture« und »Deep State« stellt. Die Überzeugung wird über digitale Narrative, christlich-nationalistische Symbolik und eine fiktionale Umdeutung der Geschichte verbreitet. Der Zwang äußert sich in der systematischen Erosion von Checks and Balances und der Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten der tatsächlichen oder einer potenziellen Opposition.
Erfolgt die autoritäre Wende nicht durch den Coup d’État, sondern gleiten Demokratien schleichend in den Autoritarismus, sind die Warnsignale möglicherweise leise, werden übersehen und unterschätzt, argumentieren Steven Levitsky, Lucan A. Way und Daniel Ziblatt in einem Aufsatz, der zuerst in der New York Times erschien und nunmehr in den »Blätter für deutsche und internationale Politik« nachgelesen werden kann. Um zu erkennen, wann die Grenze zum Autoritarismus überschritten ist, schlagen die Autoren „einen einfachen Maßstab vor: die Kosten für den Widerstand gegen die Regierung.“ [5]
Denn „in Demokratien werden die Staatsbürger nicht dafür bestraft, dass sie sich friedlich gegen die Machthaber stellen. Sie müssen sich nicht davor fürchten, kritische Meinungen zu veröffentlichen, Kandidaten der Opposition zu unterstützen oder friedlich zu protestieren, weil sie wissen, dass sie keine Repressalien von der Regierung zu erwarten haben“[6], kennzeichnen Levitsky, Way und Ziblatt die Grundprinzipien der Demokratie. „Im autoritären System hat Opposition hingegen ihren Preis“, fahren sie und skizzieren Strafmaßnahmen, mit denen die Trump-Regierung gegen Anwaltskanzleien, Unternehmen, Universitäten, Medien und Journalist:innen vorgeht. Sie konstatieren: „Es ist bemerkenswert, dass diese Angriffe auf Gegner und die Medien mit noch größerer Geschwindigkeit und Wucht erfolgten als vergleichbare Maßnahmen, die gewählte Autokraten in Ungarn, Indien, der Türkei oder Venezuela in ihren ersten Amtsjahren ergriffen.“[7]
Diese Perspektive ist von hoher Relevanz auf mehreren Ebenen. Auch wenn dem Gedanken einer »Rechten Internationale« ein performativer Widerspruch zugrunde liegt, haben zuletzt Marcel Lewandowsky in »Die globale Rechte« und Volker Weiß in »Das Deutsche Demokratische Reich« überzeugend die Netzwerke und geschichtspolitischen Verflechtungen der Neuen Rechten nachgezeichnet.
Das autoritäte Drehbuch der Rechten weltweit
Erfahrungsgemäß wirken kulturelle und politische Entwicklungen in den USA mittelfristig auch auf hiesige Diskurse und Praxen. Im Hinblick auf die autoritäre US-Transformation folgen Trump und MAGA wiederum einem Drehbuch, das zuerst in Ungarn entwickelt und von der PiS-Partei in Polen fortgeschrieben wurde. Offenbar scheint es jedoch erst über die Vereinigten Staaten den Weg nach Westeuropa zu finden, was wiederum einiges über das Verhältnis Westeuropas gegenüber den zentral- und osteuropäischen Nachbarländern aussagt.
Ein maßgebliches Vorbild für das, der Regierungspraxis von Trump II zugrunde liegende, »Project 2025«, erarbeitet von rechten Think Tanks unter Federführung der »Heritage Foundation«, war das Orbán-Regime in Ungarn. Seit Viktor Orbán im Jahr 2010 zum zweiten Mal an die Macht kam, baute er den Staat Schritt für Schritt zur »illiberalen Demokratie« um. Der affirmativ verwendete Ausdruck stammt von Orbán selbst und beschreibt eine Staatsform, in der eine von einem Führer geleitete Partei durch Mehrheit der Wahlstimmen an die Macht gelangt, die Verfassungsinstitutionen formal bestehen lässt, sie aber so umwandelt, dass die einmal errungene Macht mit zumeist undemokratischen antiliberalen Positionen auf Dauer gestellt wird.
»Illiberale Demokratien« ähneln einander, sind aber nicht identisch: „Ihr Charakter hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Größe der Bevölkerung wie der des Staates, von seinen Traditionen, seinen Grenzen und seiner Umgebung“[8], wie Ágnes Heller betont: „Orbáns politische Möglichkeiten [sind], eben weil Ungarn Mitglied der EU ist, stärker begrenzt als die der Türkei. Im Gegensatz zur Türkei und auch zu Russland sind politische Massenverhaftungen hier bis zum heutigen Tag ausgeschlossen.“[9]
Was in den USA seit Trumps Amtseinführung im Januar 2025 begann, ist in Ungarn seit 2010 Regierungspraxis und in der Slowakei auf dem Vormarsch. In Polen bemüht sich die aus einer breiten Koalition von Liberalkonservativen bis zur Linken gebildeten Regierung unter Donald Tusk, die autoritäre Transformation der Justiz, der Medien und der Kultur durch die PiS-Partei rückgängig zu machen – und erlitt bei der Präsidentschaftswahl einen herben Rückschlag. Ob die Erfolge der Tusk-Koalition, die polnische Demokratie vom illiberalen Erbe zu befreien, die optimistische Einschätzung von Levitzky/Way/Ziblatt: „Die prodemokratischen Kräfte haben sich in den vergangenen Jahren in Brasilien, Polen, der Slowakei, Südkorea und anderswo erfolgreich gegen den Rückfall gewehrt oder ihn rückgängig gemacht“ tatsächlich rechtfertigen, ist deshalb noch nicht entschieden.
Festzuhalten bleibt, dass der schleichenden Erosion der Demokratie eine Verschiebung der kulturellen Koordinaten vorausgeht, die vielfach als »Kulturkampf« umschrieben wird. Im Magazin »Der Spiegel« argumentierte Leonie Schöler jüngst, den inflationären Gebrauch dieses Buzzwords einzuschränken. Denn die Clickbait-Aufmerksamkeit heischende Verwendung verwässert „die ursprüngliche Bedeutung der Begriffe immer weiter; genauso wie der Umstand, dass sie erst durch die politische Rechte so richtig salonfähig wurden. […] Heute dient er [der Kulturkampf] als universeller Kampfbegriff, mit dem die politische Rechte jeden gesellschaftlichen Wandel als existenzielle Bedrohung »traditioneller Werte« inszeniert – von Gender bis Klimaschutz.“[10]
Den demokratischen Akteur:innen – insbesondere den öffentlichen Intellektuellen – kommt vor diesem Hintergrund die verantwortungsethische Aufgabe zu, sich am aufklärerischen Imperativ »Sapere aude!« zu orientieren. Keine Selbstverständlichkeit in einem weltweit, politisch und kulturell erodierenden Umfeld.
Erinnern wir beispielsweise daran, dass die israelische Regierung, in Gestalt des Ministers Yoav Kisch, der Soziologin und Publizistin Eva Illouz jüngst den renommiertesten Kulturpreis Israels verweigerte. Keineswegs ein Einzelfall. Immerhin hatte Kisch 2023 versucht, Dany Dayan, den Direktor von Yad Vashem durch eine politisch nahestehende Person zu ersetzen. Dies misslang zwar, doch konnte er nach demselben Muster den Rektor der israelischen Nationalbibliothek entlassen. Der Ausschluss Eva Illouz, die u.a. eine exzellente Studie zu den spaltenden Wirkungen von Angst und Ressentiments vorlegte[11], vom Israel-Preis ist insoweit kein Einzelfall. Im vergangenen Jahr annullierte Kisch die Auszeichnung mit dem Israel-Preis für Eyal Waldman, dessen Tochter dem Hamas-Terror am 7.10.2023 zum Opfer gefallen war, da Waldman prominent an Protesten gegen Netanjahu teilgenommen hatte.
Dass Geschichte keine Einbahnstraße ist, macht wiederum Hoffnung, denn Hanna Wróblewska, die von 2010 bis 2021 die Nationale Zachęta Kunstgalerie in Warschau leitete, bevor sie aus politischen Gründen von der PiS-Regierung ihres Amtes enthoben wurde, ist seit Herbst 2024 als Kulturministerin Polens.
Gleichwohl lassen diese Beispiele erkennen, unter welchem Druck nicht nur die einzige Demokratie im Nahen Osten steht, sondern dass es mitunter erheblichen Mut erfordert, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen und Geduld, andere dafür zu gewinnen.
Im bereits zitierten Aufsatz von Levitsky/Way und Ziblatt verweisen die Drei darauf, dass „die autoritäre Offensive der [US-]Regierung eine deutliche Wirkung gezeigt [hat]. Sie hat das Verhalten der Amerikaner verändert und sie dazu gezwungen, zweimal darüber nachzudenken, ob sie sich in der Opposition engagieren, die verfassungsmäßig geschützt sein sollte.“[12]
Kulturstaatsminister Weimer spielt auf der Klaviatur des rechten Kulturkampfs
Im Lichte dessen hat Wolfram Weimer, seit Mai dieses Jahres Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien im Range eines Staatsministers im Kanzleramt, in seinem viel beachteten Essay »Verteidigt die Freiheit« in der Süddeutschen Zeitung[13], der Freiheit, die er zu verteidigen sich anschickt, einen Bärendienst erwiesen.
Sabine Rennefanz schrieb zu Weimers Ernennung ebenfalls im Spiegel: „In jeder Regierung muss es ein ideelles Kraftzentrum geben, eine Verankerung im Zeitgeist, oft liefert das der Kanzler selbst, aber nicht immer.“[14] Und fügte hinzu, dass Weimers Aufgabe darin bestehen würde, konservative und nationalliberale Wähler:innen zu binden. Gleichzeitig wirkt er in Rennefanz‘ Augen „mehr wie ein Denker-to-go – der vieles im Stegreif zusammensetzt“, was in ihren Augen nicht zwingend ein Makel sein muss, wenn sie die rhetorische Frage stellt: „Ist er damit nicht der perfekte Ausdruck der Gegenwart, links wie rechts?“[15]
Mit den Extrempunkten links wie rechts verweist die Autorin bereits auf den Standort, an dem sich Weimer selbst positioniert – in der Mitte des Verfassungsbogens und in selben Abstand entfernt von den Rändern, die ihm im bekannten Muster des Hufeisentheorems im Zweifel zusammenwachsen.
Im SZ-Essay beklagt Weimer eine doppelte Bedrohung der Kunstfreiheit: von links wie von rechts. Seine Argumentation folgt einem Muster, das in der Politikwissenschaft als „extremistische Äquidistanz“ oder „falsche Symmetrie“ bezeichnet wird – einer Gleichsetzung von Phänomenen, die in Herkunft, Wirkung und demokratischer Gefährlichkeit nicht vergleichbar sind. Während autoritäre Regime systematisch Kunst zensieren, lässt sich für pluralistische Demokratien keine strukturell vergleichbare linke Bedrohung identifizieren.
Mit der normativen Aussage „Die Korridore des Sagbaren, Erkundbaren und Darstellbaren gilt es zu weiten, anstatt sie zu verengen“[16], behauptet der Kulturstaatsminister eine reale Bedrohung des öffentlich Sagbaren. Die Evidenz für diese Behauptung ist nachweislich schwach. Erkennbar ist vielmehr eine Pluralisierung und Fragmentierung der Öffentlichkeit auf der einen Seite und neue Normierungen durch soziale Aushandlungsprozesse auf der anderen Seite, z.B. in Fragen der Diskriminierung oder des Minderheitenschutzes, die von konservativer Seite als Einschränkung und von rechtspopulistischer Seite als Bedrohung empfunden wird. Die Korridore verändern sich also – sie werden in manchen Bereichen tatsächlich enger (etwa durch ökonomischen Druck oder Shitstorms), in anderen weiten sie sich (z. B. für marginalisierte Gruppen).
Die Vorstellung, Kunst sei „an sich“ unpolitisch und werde erst durch äußere Einflüsse politisiert, verkennt die kulturgeschichtliche Realität. Von der antiken Tragödie über das politische Theater Brechts bis zur Gegenwartskunst: Kunst reflektierte stets Machtverhältnisse, stellte Fragen von Gerechtigkeit, Identität und Gesellschaft. Politische Deutungen und Kontexte gehören zur Kunstfreiheit – ebenso wie die Freiheit, sie abzulehnen. Weimers Vorstellung einer vom übergriffigen Zeitgeist bedrohten Kultur – wahlweise von links oder rechts klingt wie der Duktus liberal-konservativer Kulturkritik, der vorgibt, neutral zu sein, aber im Effekt eine bestimmte Perspektive schützt: die der bürgerlichen Selbstverständlichkeit.
Weimers »Mitte« ist ein ideologisch stark aufgeladener, aber analytisch unbestimmter Begriff. Der Kulturstaatsminister verwendet ihn nicht als deskriptive Kategorie im Sinne politikwissenschaftlicher Achsenmodelle oder soziologischer Milieuanalyse, sondern als moralischen Referenzpunkt: Die Mitte steht für Aufklärung, geistige Integrität, Offenheit, Vernunft und Toleranz. Sie ist Projektionsfläche eines imaginierten kulturellen Idealzustands – eine Art »republikanisches Arkadien«, das von linken wie rechten Rändern bedroht sei.
Indem Weimer nicht beantwortet, wer die Mitte tatsächlich ist, immunisiert er seine Argumentation gegen Kritik. Jede Gegenposition kann als ideologisch abgetan werden – während die eigene Position als Ausdruck reiner Vernunft erscheinen soll. Doch wer behauptet, nur die Bedingungen des Diskurses verteidigen zu wollen, greift tatsächlich aktiv in ihn ein – mit normativem Bias.
Am deutlichsten wird diese Haltung im von Wolfram Weimer gewählten Beispiel der „Venus Medici“. Einer nackten Bronzestatue, die nach dem Hinweis einer Gleichstellungsbeauftragten aus dem Foyer eines Bundesamts entfernt und ans Grassi-Museum Leipzig überstellt wurde. Weimer sieht darin einen „jakobinischen Bildersturm“ – ein Akt gegen die Kunstfreiheit. Auch hier ist der Furor der Kritik von der Empirie nicht gestützt.
De facto handelt es sich um einen Verwaltungsakt ohne Verbannung. Die Skulptur wurde nicht versteckt, sondern musealisiert. Sie ist nun öffentlich im Museum zugänglich, statt weitgehend versteckt vor der Öffentlichkeit im Eingangsbereich einer Behörde. Wenn Cancel Culture zur Folge hat, dass die vermeintlich gecancelte Kunst aus dem behördlichen Kontext befreit in einer Kunsteinrichtung, deren Aufgabe in der Sammlung, Bewahrung, Forschung und Vermittlung von Kunst – öffentlich finanziert – besteht, sollte niemandem vor Cancel Culture Bange sein.
Schutzschirm für Kulturinstitutionen statt Dauerprovokationen aus dem Kanzleramt
Die öffentliche Kunstfinanzierung verweist freilich darauf, worin tatsächliche Beschränkungen der Freiheit von Kunst und Kultur bestehen: in den Haushalten, in den Gremien, in den Strukturen. Massiven Kürzungen der öffentlichen Kulturförderung, gestrichenen Programme, verunsicherten Institutionen wohnt das Potenzial einer realen „Cancel Culture“ inne. Theaterhäuser, Literaturhäuser, Musikschulen, freie Szenen – sie alle kämpfen mit existenziellen Einschnitten.
Kürzungen bei den Kulturinstitutionen, wie sie gegenwärtig besonders exemplarisch in Berlin zu beobachten sind, machen sie in der Fläche und gerade in den Hochburgen der AfD vulnerabel für den von autoritären Populisten ausgeübten Druck. Angedrohte oder vollzogene Kürzungen reduzieren die Resilienz, sich gegen übergriffige Einflussnahme zu wehren. Kulturkämpferische Infragestellungen der Freiheit der Kunst, wie exemplarisch in Sachsen-Anhalt auf die dortige Bauhaus-Stiftung oder das Theater Stendal, werden wirkungsmächtiger und zugleich unsichtbarer, wenn sie unter dem Deckmantel einer vermeintlich pekuniären Sachzwangslogik vorgenommen werden.
Vom Kulturstaatsminister wäre insoweit zu erwarten, zwischen Symbolpolitik und Strukturpolitik zu unterscheiden. Wolfram Weimer missversteht die Kulturförderung jedoch als staatliches »Mäzenatentum«. Und verkennt den verfassungsrechtlichen Auftrag öffentlicher Kulturpolitik. Diese ist kein Akt von Philantrophie, ihr liegt keine Freiwilligkeit zugrunde, sondern sie beruht auf verfassungsrechtlich geschützten Ansprüchen: Sie dient der Kunstfreiheit (Artikel 5 GG) ebenso wie der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse (Artikel 72 GG). Deshalb wird seit langer Zeit die Forderung erhoben, Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen.
Weimers Ruf nach Zurückhaltung des Staates inhaltlicher Art läuft ins Leere – denn niemand fordert staatliche Lenkung von Inhalten. Öffentliche Förderpolitik darf Kriterien setzen – etwa im Sinne von Inklusion, historischer Reflexion oder Barrierefreiheit. Dies ist keine Bevormundung, sondern Ausdruck einer lernfähigen Demokratie, die beispielsweise auch aus ihrer kolonialen oder antisemitischen Geschichte lernt.
Wenn Merz‘ Kulturstaatsminister in der Süddeutschen formuliert: „Wer die Kultur als eine Art NGO für politische Belehrung oder als Agent politischer Botschaften nutzen will, wandelt nahe am Missbräuchlichen entlang. Es war Susan Sontag, die mit ihrem Essay „Against interpretation“ ein flammendes Plädoyer für die Bedeutungsoffenheit von Kunst verfasste“[17], liegt dieser Auffassung eine Missinterpretation von Susan Sontag zugrunde.
Sontags Kritik richtete sich in den 1960er Jahren gegen den reduktiven Gestus bürgerlicher Hermeneutik, der Kunst immer auf moralische oder didaktische Botschaften festzulegen versuchte – insbesondere gegen die kulturindustrielle Funktionalisierung von Kunst.
Sie wandte sich nicht gegen politische Kunst an sich, sondern gegen die Verarmung von Kunst durch einengende Deutungsraster. Ihr Plädoyer für sinnliche Erfahrung und Mehrdeutigkeit lässt sich daher gerade nicht gegen engagierte Kunst wenden – sondern gegen jede Form ästhetischer Dogmatik, auch jene, die behauptet, die imaginierte Mitte wisse schon, was gute Kunst sei. Erneut nimmt Weimer in seinem Essay ein Argument auf, um das Gegenteil der ursprünglichen Intention zu verteidigen. In diesem Falle die Ausgrenzung explizit politischer oder konfrontativer Kunstformen.
Die Vorstellung, Kunst müsse frei von „politischer Belehrung sein“, wirkt paradox: Sie zielt darauf, bestimmte politische Inhalte auszuschließen – und betreibt damit selbst eine Form von politischer Steuerung. Demokratie braucht nicht weniger kritische Kunst, sondern mehr – auch dann, wenn sie weh tut.
Kulturelle Institutionen – Theater, Literaturhäuser, freie Szenen – waren und sind nicht allein Orte des ästhetischen Erlebens. Sie sind Infrastrukturen der Demokratie. Theater sind, wie Dirk Baecker schreibt, „Orte der Beobachtung zweiter Ordnung“ – Räume, in denen Gesellschaft sich selbst reflektiert. Literaturhäuser ermöglichen Debatten jenseits medialer Schnellschüsse, schaffen Aufmerksamkeit für Minderheitenperspektiven und historische Tiefenschärfe. Wer diese Institutionen schwächt, schwächt das kulturelle Gedächtnis – und damit die Fähigkeit zur Selbstkritik.
Weimers „NGO-Missbrauchs“-Befürchtung unterstellt, dass politisch motivierte Kunst per se verdächtig sei – als wäre Kunst nur dann frei, wenn sie unpolitisch bleibt. Es gilt für Kunst jedoch genauso, wie für das Private: sie sind politisch. Denn sie sind eingebettet in gesellschaftliche Kontexte. Auch das Museum, das Opernhaus, das Ballett sind politische Institutionen: Sie treffen kuratorische Entscheidungen, sie inszenieren Weltbilder, sie schaffen Zugänge oder schließen aus.
Die neue Präsidentin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Marion Ackermann, sprach in der Abschlussveranstaltung zur Ringvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität über den Wandel der Museen von ihrer Zeit in Wien. Enormen Einfluss hatte seinerzeit Peymann als Intendant am Burgtheater nicht nur auf die Kunsthistorikerin, sondern den gesellschaftlichen Diskurs, wie sich Ackermann erinnerte. Und sinngemäß ausführte: Die wesentlichen Diskussionen über die Verstrickungen Österreichs in den Nationalsozialismus fanden in der Kultur statt.
Welche Politik wird der Kunst zugestanden – und welche nicht?
Eine herausfordernde Frage, über die zu streiten lohnen würde, könnte deshalb lauten: Welche Politik wird der Kunst zugestanden – und welche nicht? Die Debatte darüber könnte wiederum auf zwei Wegen geführt werden: im Sinne Habermas‘ rationaler Verständigung und Diskurs oder Mouffes affektiver Mobilisierung und legitimen Dissens. Der eine wie die andere wollen in diskursiver Methodik die Demokratie stärken – auf sehr unterschiedliche Weise.
Dem von Habermas befürworteten Weg des zwangslosen Zwangs des besseren Arguments setzt Chantale Mouffe bekanntlich die Überzeugung entgegen, dass eine gute Debatte kein Weg zum Konsens ist, sondern ein agonistischer Streit zwischen legitimen Gegner:innen, die wissen, dass sie grundlegend unterschiedliche Weltanschauungen vertreten. Statt Einigung geht es um die Austragung von Konflikten unter demokratischen Bedingungen – mit klaren Positionen, leidenschaftlicher Sprache und mobilisierenden Forderungen. Die Kontrahent:innen respektieren sich als Gegner:innen, nicht als Feinde, und anerkennen die politische Differenz als konstitutiv für Demokratie.
Diese radikaldemokratische Perspektive erscheint zeitgemäß und verknüpft sich mit dem von Bruce Springsteen eingangs zitierten antagonistischen Widerspruch zu den von Präsident Trump geschaffenen Fakten: „The America that I've sung to you about for 50 years is real“. Das ist weniger eine poetische Reminiszenz als eine erinnerte, gelebte, erhoffte Wirklichkeit. Springsteen nutzt seine Bühne als Arena der Demokratie. Die »Land of Hope and Dreams«-Tour ist exakt das, was Wolfram Weimer als missbräuchlich kritisiert: eine Art NGO für politische Botschaften.
Der Sänger erinnert – auch den Kulturstaatsminister – daran, dass Geschichte nicht nur in Parlamenten geschrieben wird, sondern auch in Songs, auf Theaterbühnen, in Romanen, in Bildern. Wer die Kunstfreiheit verteidigen will, muss das Imaginäre ernst nehmen – als Teil des Realen. Denn die Wirklichkeit, auf die es ankommt, ist die, die durch kollektive Erinnerung, durch künstlerische Behauptung und durch politische Arbeit erst geschaffen wird. In ihr liegt die Hoffnung, dass die politische Dystopie nicht das letzte Wort hat, wenn sich im kommenden Jahr in den Vereinigten Staaten die Erklärung der Unabhängigkeit zum 250. Mal jährt.
[1] Leah Litman, Das Gesetz der Gesetzlosigkeit. Zur letzten Sitzungsperiode des US Supreme Courts, Verfassungsblog am 4. Juli 2025, https://verfassungsblog.de/das-gesetz-der-gesetzlosigkeit.
[2] Vgl. https://pen.org/banned-books-list-2025/
[3] Johannes von Moltke/Susanne Komfort-Hein, »Where Woke Goes To Die«: Transnationale
Literaturpolitiken der Neuen Rechten, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Vol. 98, 4/2024, S. 619–638 (625)
[4] Von Moltke/Komfort-Hein, a.a.O, S. 624.
[5] Steven Levitsky/Lucan A. Way/Daniel Ziblatt, Der Preis des Widerstands. Wie Trump die Opposition zum Schweigen bringt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2025, S. 47-53 (48).
[6] Ebd.
[7] Levitsky/Way/Ziblatt, a.a.O. S. 49.
[8] Ágnes Heller, Von Mussolini bis Orbán: Der illiberale Geist, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8/2017, S. 73-79, online abgerufen: https://www.blaetter.de/ausgabe/2017/august/von-mussolini-bis-orban-der-illiberale-geist.
[9] Ebd.
[10] Leonie Schöler, Stay woke und cancel den Kulturkampf, in: Der Spiegel am 18.06.2025, online abrufbar: https://www.spiegel.de/geschichte/hidden-history-von-leonie-schoeler-stay-woke-und-cancelt-den-kulturkampf-a-8bed5c92-b068-42c1-a72c-068ea5aa0d89.
[11] Eva Illouz, Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel, Berlin 2023.
[12] Levitsky/Way/Ziblatt, a.a.O. S. 50.
[13] Wolfram Weimer, Verteidigt die Freiheit, in: Süddeutsche Zeitung vom 05.06.2025, online abrufbar: https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunstfreiheit-wolfram-weimer-kulturstaatsminister-lux.LiwiHQvhf2SvU8h4waXNth.
[14] Sabine Rennefanz, Der Mann für die Mehrheit, in: Der Spiegel am 01.05.2025, online abrufbar: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kulturkampf-wolfram-weimer-und-der-wandel-im-kanzleramt-a-c8104b5a-5ad0-448c-8ecc-f8bf763f2f7c.
[15] Ebd.
[16] Weimer, a.a.O.
[17] Weimer, a.a.O.