In der Vielfalt liegt die Kraft.
Zum Charakter der Programmdebatte einer pluralen LINKEN
Parallele Programmdebatten von Die Linke und der SPD
Die Linke und die SPD, beide historisch in der Tradition der Arbeiter:innenbewegung verankert, beschlossen unabhängig voneinander eine Programmdebatte zu führen. Doch die Ausgangsbedingungen beider Parteien könnten unterschiedlicher nicht sein.
Anstoß für die beabsichtigte inhaltliche und strukturelle Erneuerung der Sozialdemokratie ist das erneut historisch schlechte Ergebnis bei der Bundestagswahl 2025. Die Linke regiert dagegen mit ihrer Programmdebatte sowohl auf ihr unerwartet phoenixhaftes Wiedererstarken als auch auf den historisch einmaligen Mitgliederzuwachs. Er bedeutet aus meiner Sicht nicht weniger als die Neugründung der Linkspartei von unten, da sich die Mitgliedschaft verdoppelte.
Der SPD-Bundesparteitag Ende Juni 2025 beschloss, bis Ende 2027 ein neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten und zu verabschieden. Damit soll das sozialdemokratische Profil mit den Werten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erneuert und an die gesellschaftlichen, ökonomischen und geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Diskutiert werden soll eine Neubewertung zentraler Begriffe wie „linke Volkspartei“ oder „demokratischer Sozialismus“ sowie eine Abkehr von überholten Positionen, etwa zur Russlandpolitik. Die SPD strebt laut Leitantrag eine offene Programmdebatte mit starker Mitgliederbeteiligung an. Der Prozess ist in drei Phasen vorgesehen:
- 2025/26: Aktivierung der Mitgliederbasis, Erarbeitung von Vorschlägen vor Ort sowie in digitalen Foren.
- 2026: Ausarbeitung programmatischer Vorschläge und öffentliche Diskussion in Mitgliederversammlungen und Bürger:innenforen.
- 2027: Konsolidierung der Vorschläge und Beschluss des neuen Grundsatzprogramms auf einem Bundesparteitag.
Der Linke-Parteivorstand beschloss am 15. Juli 2025 den Start eines umfassenden Programmprozesses. Ziel ist es, das Grundsatzprogramm zu aktualisieren und die Partei an den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auszurichten. Der Prozess knüpft an die Parteitagsbeschlüsse von Halle (Herbst 2024) und Chemnitz (Frühjahr 2025) an. Er soll bis Herbst 2027 zu einem neuen Programm führen, das durch einen Mitgliederentscheid bestätigt wird.
Zentral ist dabei der Anspruch, die Debatte breit, niedrigschwellig und beteiligungsorientiert zu gestalten. Möglichst viele Mitglieder sollen eingebunden werden, insbesondere neue Mitglieder. Auch externe Stimmen aus Wissenschaft, Gewerkschaften, Bewegungen und NGOs sollen beteiligt werden.
Der Prozess ist auf zwei Jahre angelegt und in fünf Phasen gegliedert:
1. 2025: Vorbereitungsphase.
2. Herbst 2025–Frühjahr 2026: Grundlagenphase.
3./4. Bis Frühjahr 2027: zwei Debattenphasen.
4. Herbst 2027: Entscheidungsphase.
Angesichts des Wachstums und der demographischen Veränderung der Mitgliedschaft soll in der Grundlagenphase eine breite politische Bildung über Geschichte und Traditionen der Linken erfolgen. Hinzu kommt eine Verständigung über gemeinsame Regeln der Debatte. Anschließend folgt die programmatische Auseinandersetzung entlang von vier Schienen:
- sozial-ökologische Transformation,
- Friedenssicherung, Blockkonfrontation und Europa,
- Oststrategie und Transformationsregionen,
- solidarische Migrationsgesellschaft.
Zwei weitere Themenfelder rahmen die Debatte: Rechtsruck und Faschisierung sowie die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus.
Zu den Zielen gehört es, Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu formulieren, statt alte Grabenkämpfe zu reproduzieren. Damit soll unsere Partei in der Gesellschaft verankert, intellektuelle und zivilgesellschaftliche Ressourcen eingebunden und die Partei als zentrale Kraft der gesellschaftlichen Linken profiliert werden.
Dieser Anspruch ist angesichts der Parallelität der Programmprozesse der SPD und unserer Linkspartei herausfordernd, aber angemessen. Aus meiner Sicht könnten beide programmatischen Verständigungsprozesse einen Teil dazu beitragen, die gegenwärtige Defensive der gesellschaftlichen Linken und Progressiven zu überwinden. Die aus den Programmdebatten entstehenden Ideen, Narrative und Zielbestimmungen würden darauf ausgerichtet sein, anders als die Neue Rechte, illiberale Demokraten und Trumpisten, Mehrheiten nicht regressiv auszurichten, sondern durch eine erneuerte Fortschrittsidee Mehrheiten für Solidarität, Gerechtigkeit, Radikaldemokratie und sozial-ökologische Zukunft zu gewinnen.
Plurale Linke – Widersprüche als Quelle der Inspiration
Mitte der 1980er Jahre veröffentlichte der marxistische Philosoph und Gründer des Argument-Verlags, Wolfgang Fritz Haug, eine zweibändige Aufsatzsammlung unter dem Titel »Pluraler Marxismus«. Im »Vorwort oder Wie der Titel zum Buche kam« erinnert Haug an die Brüche in der kommunistischen Bewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu gehörten der chinesisch-sowjetische Bruch und die Herausbildung einer reformkommunistischen Bewegung, die in westlichen Ländern als Eurokommunismus erhebliche Relevanz entfaltete. Der italienische Kommunist Palmiro Togliatti, Vorsitzender der damals mit mehr als 1,5 Millionen Mitgliedern größte KP, entwickelte das Postulat der »unità nella diversità«, also der Einheit in der Unterschiedlichkeit.
Haug plädierte daraus abgeleitet für eine ökumenische Haltung: einen marxistischen Zusammenhalt im Widerspruch. Sein Buch erschien, wie er formulierte, „zu einer Zeit, da Marxismus wahrlich keine Mode ist, obwohl die unterschiedlichen Krisenerscheinungen geradezu nach ihm schreien“ (Haug 1985: 13). Für die Programmdebatten der gesellschaftlichen Linken gilt dasselbe.
Umso bedeutsamer erscheint es mir, das Bewusstsein für eine ökumenische Haltung und einen Zusammenhalt im Widerspruch als unabdingbare politische Grammatik der linken Programmdebatte zu benennen. Ebenso wichtig ist es, ihren Wert als Quelle inspirierender Diskussionen hervorzuheben, mit deren Hilfe die LINKE zur zentralen Kraft der gesellschaftlichen Linken werden kann.
Pluralität galt innerhalb der sozialistischen und postsozialistischen Bewegungen lange als Gefahr. Spaltung, Fraktionskämpfe und Konkurrenz wurden als Schwächung verstanden, die Handlungsfähigkeit minderten. Erst in den letzten Jahrzehnten setzte sich die Erkenntnis durch, dass Differenzierung – etwa zwischen feministischen, ökologischen, migrantischen oder klassenpolitischen Perspektiven – nicht nur Hindernis, sondern auch strategische Ressource sein kann. Pluralität wird dann zur Stärke, wenn sie auf gemeinsame Orientierungen wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Demokratie bezogen bleibt.
Die programmatischen Auseinandersetzungen der sozialistischen Linken dienten historisch weniger der Selbstvergewisserung pluraler Traditionen, sondern der Festlegung politischer Linien und der Stabilisierung von Mehrheiten.
Bereits das Erfurter Programm der SPD von 1891 bündelte zwar divergierende Strömungen in einer „Erfurter Synthese“ aus Maximal- und Minimalteil. Dieser Kompromiss schuf jedoch keine dauerhafte Pluralitätsarchitektur, sondern bereitete den Boden für die Revisionismusdebatte: Eduard Bernstein stellte die Zusammenbruchsthese in Frage und forderte eine reformistische Ausrichtung. Orthodox-marxistische und linksrevolutionäre Kräfte reagierten darauf. Programm und Praxis wurden damit zum Prüfstein für Loyalitäten und zum Mechanismus der Lagerbildung.
Die organisationssoziologische Perspektive stützte diese Sichtweise. Robert Michels beobachtete an Massenparteien – exemplarisch an der deutschen Sozialdemokratie –, dass Führungsschichten über Kongresse, Verfahrensregeln und Programmtexte ihre Entscheidungs- und Deutungshoheit festigten. Programme erschienen weniger als Spiegel innerer Vielfalt, sondern als Instrumente zur Disziplinierung und Stabilisierung von Mehrheiten.
Demgegenüber betonte Haug: „Ein grundwichtiges Lernziel der Marxisten, das uns die Geschichte aufgibt, ist das Erlernen des produktiven Umgangs mit Widersprüchen, ist die Kunst der Dialektik in der Praxis. […] Einheit muss so gedacht und praktiziert werden, dass in ihr vorgesehen sind: die tätigen Vielen und Vielfalt; die historische Veränderung, die unaufhörlich und unaufhaltsam vor sich geht, die ungleichzeitig, ungleichmäßig in vielen Linien, niemals in einer, verläuft; Widersprüche und das Widersprechen.“ (a.a.O.: 20)
Wirkungsgeschichte des Erfurter Programms von 2011
Das bis heute gültige »Erfurter Programm« markierte 2011 eine wichtige Zäsur in der Geschichte unserer Partei. Als die damaligen Vorsitzenden Lothar Bisky und Oskar Lafontaine am 20. März 2010 den ersten Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Linkspartei präsentierten, lag die Partei fast zwei Jahre hinter dem ursprünglichen Zeitplan. Dem ersten Entwurf folgte im Mai 2011 ein zweiter, der über 500 „Wortmeldungen“ aus der Partei, darunter einen Alternativen Entwurf, zum Teil einbezog und schließlich, abermals Veränderungen erfahrend, im Juli 2011 in einen Leitantrag des Parteivorstandes mündete. Dieser wurde schließlich, trotz 1.400 Änderungsanträgen nur leicht verändert, auf dem Erfurter Parteitag im Oktober 2011 mit 503 Stimmen bei 4 Gegenstimmen und 12 Enthaltungen – also einer 96,9-Prozent-Mehrheit beschlossen worden. Im anschließenden Mitgliederentscheid erhielt das Programm über 95 Prozent Zustimmung.
Allen handelnden Akteur:innen unserer Partei, sowohl den sonst notorisch zerstrittenen Flügeln als auch insbesondere den (ostdeutschen) Landesvorsitzenden, war damals klar, dass der Erfurter Parteitag zum Erfolg verdammt war. Das Superwahljahr 2011 war desaströs verlaufen, die Umfragewerte im Vergleich zur vorangegangenen Bundestagswahl halbiert und es schwelte eine Führungskrise – die bis zum Göttinger Parteitag 2012 anhalten sollte. Nachdem Gregor Gysi in Erfurt die Delegierten aufgefordert hatte, „am Montag nach dem Parteitag mit der Selbstbeschäftigung aufzuhören“, prangerte er auf dem folgenden Göttinger Parteitag eine innerparteiliche Streitkultur des Hasses an. Kurzum, statt aus der Programmdebatte Kraft und Ideen zu schöpfen, fiel die Beschlussfassung in eine Zeit innerparteilicher Konflikte.
In diesem Sinne war die Erfurt vorangehende programmatische Debatte auch davon geprägt, dass der Personalwechsel von Lafontaine/Bisky zum Duo aus Klaus Ernst und Gesine Lötzsch die Befürchtung auf Seiten der Kommunistischen Plattform, der Antikapitalistischen Linke (AKL), des Geraer Dialogs und der Sozialistischen Linken hervorrief, der Lafontainesche Programmentwurf aus 2010 würde von den überwiegend aus der vormaligen PDS stammenden Reformer:innen um das forum demokratischer sozialismus (fds), die mit dem Programmentwurf hart ins Gericht gegangen waren, „verwässert“ werden. Aus meiner Sicht war dieser Konflikt sowohl inhaltlich geprägt – im historisch linken Spannungsverhältnis Reform oder Revolution – als auch kulturell.
Ehemalige Sozialdemokrat:innen aus der überwiegend westdeutsch geprägten WASG glaubten in den Reformer:innen der ostdeutschen PDS quasi die Zwillinge des rechten Flügels ihrer ehemaligen Partei wiederzuerkennen, die sie doch gerade verlassen hatten. Mehr oder weniger unterschwellig sträubten sich PDS-Mitglieder aus dem Osten gegen die psychologische Wahrnehmung, einer zweiten Vereinigung, in der sie und ihre Lebensleistung – nun die nach 1989 – erneut unter die Räder zu geraten drohten. Motive der Erstformulierung eines vollständigen Programms der aus WASG und PDS entstandenen Linkspartei standen dem Wunsch gegenüber, Traditionen aus der früheren PDS-Programmatik fortzuschreiben. (Strohschneider 2011: 663)
Differenzen in grundsätzlich-strategischen Fragen – etwa zu Regierungsbeteiligungen, Auslandseinsätzen oder dem Verhältnis zur EU und der NATO – wurden durch sogenannte Formelkompromisse überdeckt. Dahinter liegende inhaltliche Widersprüche konnten nicht aufgelöst werden, weshalb die Formelkompromisse als einzig geeignete konstruktive Bearbeitungsform erschienen. Technisch hatten die Landesverbände vor dem Parteitag vereinbart, den Leitantrag trotz der vielen Änderungsanträge, die oftmals gebündelt wurden oder über die im Block abgestimmt wurde, nicht wieder aufzuschnüren.
Einen zentralen Moment des Erfurter Parteitages beschreibt Heinricht Bortfelt (2011): Die Entscheidung über die bis heute geltenden Formulierungen zur Außen- und Sicherheitspolitik.
„Die andere entscheidende Rede dauerte nur wenige Sekunden. Und sie wurde gehalten von Oskar Lafontaine. Der Parteitag steuerte am Samstag gegen 14:30 mit großer Verspätung auf einen der zentralen Knackpunkte zu, nämlich der Außen- und Sicherheitspolitik, dem Austritt aus der NATO und den Bundeswehreinsätzen im Ausland. Besonders Hamburger und Tübinger (linke) Genossen witterten ‚Schlupflöcher‘ in dem von der Antragskommission gebündeltem Vorschlag und wollten diesen nochmals aufschnüren und einzeln diskutieren. In diesem entscheidenden Moment trat Lafontaine ans Saalmikrofon mit den Worten: ‚Mein Name ist Oskar Lafontaine. Wir haben dieses Thema jetzt über viele Jahre beraten. Es geht darum, die Partei zu einen. Da hier befürchtet wurde, es könne Schlupflöcher geben, sage ich: Ihr könnt euch auf mich verlassen. Mit mir wird es keine Schlupflöcher geben.‘ Damit war ein Machtwort gesprochen und der entsprechende Antrag passierte den Parteitag.“
Diese Episode verdeutlicht zweierlei: Oskar Lafontaine, obwohl nicht mehr Parteivorsitzender, sondern „lediglich“ Fraktionsvorsitzender im Saarland, nahm eine weiterhin bestimmende Rolle in der Linkspartei ein. Sein Erfurter Machtwort bewirkte die Durchsetzung des Formelkompromisses, war also situativ integrierend. In der Aussage „Ihr könnt euch auf mich verlassen. Mit mir wird es keine Schlupflöcher geben“ äußerte sich wiederum eine gefestigte innerparteiliche Misstrauenskultur, die von der Annahme ausging, dass es Kräfte in der Partei gäbe, die „Schlupflöcher“ suchen oder schaffen würden, um die programmatischen Festlegungen zu unterminieren.
Die Wirkungsgeschichte des Erfurter Programms verlief ebenso ambivalent wie seine Entstehung. Die Bindungswirkung der gefundenen Formelkompromisse erwies sich als latent instabil. Anlass für weiteres Nachdenken und produktiven programmatisch-inhaltlichen Streit, aus dem alle Interessierten klüger hätten hervorgehen können, waren sie nicht. Vielmehr brachen stets dann Konflikte auf, wenn politische Entwicklungen die Partei vor Entscheidungen stellten, die mit den Formelkompromissen nicht oder nur unzureichend beantwortet werden konnten.
Hinzu kam, dass ein Teil der Partei das Programm zu einem quasi „heiligen Text“ entrückte. Eine Weiterentwicklung oder Neuakzentuierung konnte insoweit nur einen „Verstoß gegen das Erfurter Programm“ bedeuten. Diese Kanonisierung erstickte den Diskurs. Jan van Aken formulierte in meinem Podcast KUNST DER FREIHEIT:
„Außerdem gab es eine Haltung nach dem Motto: ‚Ich sage dir, was in unserem Grundsatzprogramm steht – und das ist unantastbar.‘ Diesen Bibelglauben habe ich nicht. Statt Konflikte produktiv auszutragen, wurden sie moralisch delegitimiert.“
Das Erfurter Programm stabilisierte die Partei kurzfristig, verhinderte aber bereits mittelfristig weder den Dauerstreit noch langfristig die spätere Abspaltung des Wagenknecht-Flügels. Das Parteiprogramm fungierte als eine Art Feuerdecke, die Debatten erstickte. Aus Furcht, Debatten würden Konflikte verschärfen und ein Flächenbrand die Partei zerstören.
Angesichts dessen gibt es mit Blick auf die vor uns liegende Programmdebatte eine berechtigte Skepsis gegenüber Formelkompromissen. Die Kunst der bevorstehenden Programmdebatte wird darin bestehen, plurale Positionen offen zu diskutieren und Unterschiede nicht vorschnell einzuebnen.
Gefordert sind Kompromisse, die auf gegenseitigen inhaltlichen Zugeständnissen beruhen und damit Streit produktiv aufnehmen. Solche Kompromisse unterscheiden sich von Formelkompromissen, die lediglich durch vage oder doppeldeutige Formulierungen scheinbare Einigkeit erzeugen, in Wahrheit aber ungelöste Konflikte überdecken. Kompromisse haben dagegen den Wert, dass sie handlungsfähig machen, Legitimität stiften und auf einem echten Ausgleich beruhen.
Von einem Konsens sollte man hingegen nicht ausgehen: Konsens bedeutet tatsächliche inhaltliche Einigkeit aller Beteiligten. Gerade bei Fragen, in denen sich die sozialistische Bewegung seit mehr als 120 Jahren uneinig ist – etwa dem Verhältnis von Reform und Revolution, Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik oder der Rolle des Staates –, ist eine solche Einmütigkeit unrealistisch.
Psychologisch-politische Dynamik von Parteien in der Defensive
Die Parteien- und Bewegungsforschung zeigt: Je stärker Organisationen in der Defensive stehen, desto größer wird das Bedürfnis nach Geschlossenheit und festen Wahrheiten. Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, riskanten Pluralismus zuzulassen oder neue Ideen auszuprobieren.
Fritz W. Scharpf und Herbert Kitschelt zeigten am Beispiel der europäischen Sozialdemokratie, dass linke Parteien in Phasen gesellschaftlicher Defensive – etwa infolge von Deindustrialisierung und dem Aufstieg rechter Kräfte – eher zu „Defensivprogrammen“ greifen und riskante Öffnungen vermeiden. Pippa Norris (2005) beschrieb im Kontext des Rechtsrucks, dass linke Parteien oft in reaktive Identitätsstrategien gedrängt wurden. Statt plurale Experimente zu wagen, verteidigten sie tradierte Kanons.
Sozialpsychologisch ist diese Dynamik gut erklärbar. Die Uncertainty-Identity-Theory (Michael Hogg, seit 2007) beschreibt, dass Menschen in unsicheren und bedrohlichen Situationen Sicherheit in starken Gruppenidentitäten suchen. Sie bevorzugen homogene Kollektive und reagieren skeptisch auf Vielfalt. Übertragen auf Parteien bedeutet das: In Krisenzeiten wächst die Tendenz, „klare Linien“ einzufordern und Dissens als Gefahr wahrzunehmen.
Ähnlich argumentiert die System-Justification-Theory (Jost/Banaji 1994; Jost 2017). Auch progressive Gruppen klammern sich in Krisen eher an bestehende Wahrheiten und Strukturen, um Sicherheit zu gewinnen. Zusätzlich steigt unter Druck das Bedürfnis nach schnellen und eindeutigen Antworten Ambiguität und komplexe Auseinandersetzungen werden als Belastung empfunden. Pluralismus erscheint in solchen Lagen nicht als Ressource, sondern als Zumutung.
Die „psychologische Komfortzone“ der Geschlossenheit wirkt kurzfristig stabilisierend, ist aber langfristig riskant, wie Politikwissenschaft, Organisationssoziologie und Sozialpsychologie zeigen. Die wesentlichen Langfrist-Risiken geschlossener, pluralismusfeindlicher Strategien lauten:
1. Verlust von Innovations- und Anpassungsfähigkeit, weil neue gesellschaftliche Konflikte die Partei überrollen.
2. Schrumpfung auf ein identitäres Kernmilieu, wodurch breitere Bündnisfähigkeit verloren geht.
3. Gefahr von Abspaltungen und innerer Erosion, da unterdrückte Konflikte später umso heftiger hervorbrechen.
Wie wir miteinander zu streiten lernen (müssen)
Die neue LINKE ist ein Start-up mit einer langen Traditionslinie. Angesichts der Dynamik dieser Entwicklung wissen wir bislang zu wenig darüber, wer wir als Partei überhaupt sind. Erste empirische Untersuchungen laufen. Neue Studien und Publikationen werden folgen und weitere Einsichten ermöglichen.
Der bis 2027 geplante Programmprozess ist deshalb sinnvoll. Er ist nicht nur eine inhaltliche Klärung, sondern auch ein Prozess politischer Bildung und Verständigung. Er ist ein Häutungsprozess für eine Partei, die gerade 18 Jahre alt wurde. Wer sich im innerparteilichen Diskurs darauf beruft, „die Mitglieder“ im Rücken zu haben, bewegt sich oft auf dünnem Eis.
Bedeutsamer als das Vermessen der politischen Eisfläche ist etwas anderes: Parallel zu dieser Entwicklung diskutiert das politische Start-up weiterhin kontrovers über Themen, die schon in der Tradition progressiver Bewegungen Widerspruch hervorriefen. Dazu gehören das Spannungsverhältnis von Reform und Revolution, die Friedens- und Abrüstungspolitik oder der Umgang mit Antisemitismus.
Die alte Linkspartei hatte spätestens seit dem Göttinger Parteitag 2012 ihre Fähigkeit verloren, kontroverse Positionen konstruktiv zu diskutieren. Sie verlernte, Spannungsverhältnisse als Lernprozesse zu begreifen, die die Partei und ihre Mitglieder klüger machen konnten. Dies setzt eine Kultur des Streits und des Argumentierens voraus.
Der zermürbende Dauerkonflikt mit Sahra Wagenknecht und anderen Akteur:innen führte dazu, dass offene Debatten kaum mehr möglich waren. Dies geschah in einem gesellschaftlichen Klima, das ohnehin von abnehmender Konfliktfähigkeit geprägt war – verstärkt durch die polarisierende Kommunikationskultur sozialer Netzwerke, in der eher zugeschlagen als argumentiert wird.
Die neue LINKE muss deshalb in ihrer politischen DNA die Überzeugung verankern, dass Widersprüche möglichst dialektisch aufzulösen sind. Diese DNA gründet auf der Einsicht, dass die Diversität, für die sie gesellschaftspolitisch eintritt, auch in den eigenen Reihen ausgehalten werden muss. Am Ende profitieren alle davon.
Stabile Oberfläche, tiefgreifender Wandel, Neugründung von unten
Zwischen 2011 und 2021 verlor DIE LINKE auf den ersten Blick nur rund 9.000 Mitglieder – von 69.458 auf 60.670. Dieser Rückgang wirkte moderat. Doch die innere Dynamik war weit tiefgreifender: 26.231 Austritte und rund 14.500 Sterbefälle führten zu mehr als 40.000 Abgängen. Gleichzeitig traten 31.541 neue Mitglieder ein, also mehr als die Hälfte der damaligen Mitgliedschaft. Innerhalb einer Dekade erneuerte sich die Partei damit zu über 50 Prozent.
Noch deutlicher zeigte sich der Wandel im Generationsprofil. Von den Neueintritten seit 2011 waren knapp 21.000 zwischen 14 und 40 Jahre alt. Ende 2021 bestand damit etwa ein Drittel der Mitgliedschaft aus einer jungen Generation. Im Vergleich zu SPD, CDU oder FDP war dies ein hoher Wert. DIE LINKE verlor zwar überdurchschnittlich viele ältere Mitglieder durch Sterbefälle, gewann aber überdurchschnittlich viele jüngere hinzu. Sie entwickelte sich zu einer Partei mit jungem Rekrutierungsprofil bei gleichzeitig starkem demographischem Aderlass.
Diese Entwicklung mündete in der sprunghaften Verdopplung der Mitgliedszahl auf rund 120.000.
Für die strategische Ausrichtung hat dies weitreichende Folgen. Forschungen zur Sozialdemokratie (Scarrow 2019; Poguntke/Scarrow 2021) zeigen, dass jüngere Mitglieder stärker bewegungs- und themenorientiert sind, etwa in den Bereichen Klima, Feminismus oder Diversität. Ältere Mitglieder betonen dagegen eher Programmtreue und Kanonisierung.
Studien zu „Parteien im Umbruch“ (Kölln 2015) belegen, dass ein rascher Generationswechsel ohne programmatische Öffnung Spannungen erzeugt. Junge Mitglieder suchen Diskurs und Innovation, ältere Stabilität und Orientierung. Diese Kluft zwischen einer experimentierfreudigen Basis und einer auf Geschlossenheit setzenden Programmkultur (vgl. Norris 2005) zu überwinden, soll Gegenstand einer attraktiven Programmdebatte sein.
Was wir aus der fehlende Verbindungsmasse in der Mosaik-Linken lernen
Die IG Metall betonte auf ihrem Gewerkschaftstag 2023 zur Einleitung in den Leitantrag ein Spannungsverhältnis, das die sozialistische Linke seit jeher prägte – Pluralität der Positionen einerseits und Einheit im Konflikt Kapital/Arbeit andererseits:
„Gewerkschaftliche Haltungen und Positionen mögen vielfältig sein. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit führt bei abhängig Beschäftigten aber zu grundlegend gleichen Interessen. Wir sind eine Organisation mit klarem, unverhandelbarem Wertekompass: Solidarität, Respekt, Gerechtigkeit. FairWandel – das ist unser Leitbild.“
Viele Theoretiker:innen machten deutlich, dass linke Politik in modernen Gesellschaften nicht monolithisch auftreten kann, sondern nur als Koalition unterschiedlicher Bewegungen. Entscheidend ist, Differenzen nicht zu unterdrücken, sondern produktiv zu halten – ohne dass sie in Fragmentierung münden, die die Handlungsfähigkeit blockiert.
Marxistische Theoretiker wie Ernest Mandel betonten die Notwendigkeit einer „Einheitsfront“, in der verschiedene Strömungen unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit zusammenarbeiten. In der politischen Theorie des 20. Jahrhunderts griffen pluralistische Demokratietheorien – etwa bei Robert Dahl oder Arend Lijphart – die Idee auf, dass Demokratie Vielfalt organisiert, ohne sie aufzulösen.
Die heterogenen Interessen innerhalb des eigenen Lagers nicht nur zu tolerieren, sondern als konstitutiv zu begreifen, bedeutet jedoch, auch Verbindungsmasse herzustellen. Nur so kann Konvergenz in der Divergenz entstehen. Hans-Jürgen Urban (IG Metall) prägte dafür den Begriff der „Mosaik-Linken“ als Reaktion auf Fragmentierung und Heterogenität. Gemeint war die Zusammenarbeit unterschiedlicher Kräfte, die ihre Identitäten bewahren und in Projekten agieren, ohne in einer einheitlichen Organisation aufzugehen.
Die Kritik daran lautet: Das Mosaik lässt zwar Vielfalt zu, bietet aber kaum Strategie für kollektives Handeln. Das Bild suggeriert einen Planer, der die Teile zu einem Ganzen fügt. In der Realität fehlt jedoch oft politische Steuerung und eine klare Richtung. So fördert die Strategie zwar Toleranz und Offenheit, verliert aber an Durchschlagskraft, wenn keine verbindende Vision existiert.
Durch den Eintritt von mehr als 60.000 Neumitgliedern in die LINKE kamen unterschiedlichste Kräfte in die Partei. Ihre Heterogenität ist Fakt, doch sie entschieden sich für eine gemeinsame Organisation. Gegenwärtig wissen wir allerdings wenig über die Identitäten dieser neuen Mitglieder. Damit ist die LINKE die derzeit spannendste politische Organisation. Sie kann eine politische Kultur des produktiven Streits entwickeln – wie oben beschrieben.
Besonders deutlich formulierte Chantal Mouffe diesen Gedanken. Sie entwickelte in The Democratic Paradox (2000) und On the Political (2005) das Konzept des agonistischen Pluralismus. Pluralität ist danach irreduzibel, Konflikte verschwinden nicht. Linke Politik muss Räume schaffen, in denen Konflikte als agonistische Auseinandersetzungen ausgetragen werden – zwischen legitimen Gegner:innen, nicht zwischen Feinden.
Eine plurale Linke braucht daher keine homogene Einheit, sondern eine gemeinsame Hegemonie, die Vielfalt zusammenhält und in politische Handlungsfähigkeit übersetzt.
Wir wir diskutieren
Soziale Netzwerke haben eine Kommunikationskultur etabliert, die Ambivalenz und Differenzierung kaum belohnt. Stattdessen fördern sie Zuspitzung, Polarisierung und emotionale Reizsetzungen. Solche Inhalte erzeugen Reichweite, Interaktionen und Werbeeinnahmen. Einfache Feindbilder, moralische Empörung und klare Lager performen besser als differenzierte Argumente. Wer abwägt oder Grautöne zulässt, wird kaum wahrgenommen.
Diese Dynamik verstärkt gesellschaftliche Spaltung und schwächt die Fähigkeit politischer Organisationen, innere Widersprüche produktiv zu bearbeiten. Wir müssen in unserer Programmdebatte reflektieren, dass diese Mechanismen auch in der LINKEN und der gesellschaftlichen Linken wirken.
Es kommt daher darauf an, zu entscheiden, wie wir gut miteinander diskutieren, streiten und klären – Widersprüche und Komplexität eingeschlossen. Die Debatte darüber kann auf zwei Wegen geführt werden: im Sinne von Habermas’ rationaler Verständigung oder Mouffes Idee von affektiver Mobilisierung und legitimen Dissens. Beide Ansätze wollen Demokratie stärken, aber auf unterschiedliche Weise.
Habermas setzt auf den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“. Mouffe sieht gute Debatten nicht als Weg zum Konsens, sondern als agonistischen Streit zwischen legitimen Gegner:innen, die wissen, dass sie unterschiedliche Weltanschauungen vertreten. Statt Einigung geht es um die Austragung von Konflikten unter demokratischen Bedingungen – mit klaren Positionen, leidenschaftlicher Sprache und mobilisierenden Forderungen. Die Kontrahent:innen respektieren sich als Gegner:innen, nicht als Feinde. Politische Differenz ist für Demokratie konstitutiv.
Ein Programm sollte in diesem Sinne weniger eine Sammlung von Positionen sein, sondern ein Hegemonie-Projekt. Es verknüpft unterschiedliche Kämpfe und bindet sie in eine gemeinsame Erzählung ein. Gerade in einer vielfältigen Partei wie der LINKEN geht es darum, eine verbindende Geschichte zu erzählen, die feministische, ökologische, migrantische und klassenpolitische Impulse zusammenführt.
Ein Programm braucht dafür einen unverhandelbaren Kern. Verbindende Klassenpolitik ist ein solches Fundament. Auf dieser Grundlage kann sich ein agonistisches Feld öffnen, in dem Konflikte legitim und notwendig sind. Sie sind Ausdruck lebendiger Demokratie, nicht von Schwäche. So entstünde nicht nur ein Text für die Einheit der Partei, sondern ein Programm, das die Vielheit der Gesellschaft widerspiegelt und ihre Widersprüche bearbeitet.
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Hinweise und Kritik zu diesem Text sind gern gesehen. Einladungen zur Diskussion folge ich – zeitliche Verfügbarkeit vorausgesetzt – gern.
- In der Vielfalt liegt die Kraft. Zum Charakter der Programmdebatte einer pluralen LINKEN Benjamin-Immanuel Hoff