Trügerischer Kurzschluss
Eine Staatsreform allein vertreibt den autoritären Populismus nicht
Einige Jahre unterrichtete meine Mutter „Deutsch als Fremdsprache“ an einer Volkshochschule. Sie fragte Ihre Kursteilnehmenden regelmäßig, was sie an Deutschland besonders überrascht hätte – positiv wie negativ. In Erinnerung blieb ihr der südkoreanische Teilnehmer, der vom Ordnung-, Pünktlichkeits- und Zuverlässigkeitsideal deutscher Infrastruktur sowie Verwaltung sprach, wie frappierend die Realität hiesiger öffentlicher Dienstleistungen sei und wie überraschend die Selbstverständlichkeit, mit der die Deutschen auf diesen Zustand regierten.
Tatsächlich wird, wie das tiefenpsychologisch arbeitende rheingold institut in seiner Wahlstudie 2025 darlegt, „das einst so erfolgreiche Vorzeigeland Deutschland als marode erlebt. […] Viele Bürger quer durch alle Parteien fragen sich enttäuscht und traurig: ‚Was ist mit unserem schönen Land passiert?‘ Während viele Befragte betonen, dass sie sich abrackern und versuchen alles hinzubekommen, wird den Regierenden (‚die da oben‘) angelastet, dass sie nur reden, sich im Streit verhaken und die Probleme nicht konsequent angehen. Als Leidtragende gestauter Probleme werden jedoch nicht die politischen Eliten angesehen, sondern die Bürger und Bürgerinnen.“ (Grünewald 2025)
Handlungsbedarf ist erkannt
Die unterschiedlichen Initiativen zur Staatsreform, deren Vorarbeiten u.a. Eingang in den Koalitionsvertrag der schwarz-roten Koalition gefunden haben und zur Schaffung des ersten eigenständigem Ministeriums für Digitalisierung und Staatsmodernisierung, zeugen vom erkannten Handlungsbedarf bei der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und Infrastrukturen erkannt.
„Von der zukünftigen Politik wird erwartet“, so noch einmal das rheingold institut in seiner Wahlstudie 2025: „dass sie eine richtungsgebende Geschlossenheit trotz der zu erwartenden inhaltlichen Differenzen an den Tag legt. Müde von parteigetriebener Taktik und Machtspielen, fordern die Menschen pragmatische Lösungen.“ (Grünewald 2025)
Ausweg aus der neoliberalen Sparpolitik
Im Hauruck-Verfahren änderten Union und SPD gemeinsam mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach der Bundestagswahl das Grundgesetz: Der Bund darf künftig zusätzliche Kredite aufnehmen, wenn sicherheitsrelevante Ausgaben 1 % des BIP überschreiten. Die Schuldenregel wird entsprechend angepasst. Zudem erlaubt Artikel 143h GG ein von der Schuldenbremse ausgenommenes Sondervermögen von bis zu 500 Mrd. EUR für Infrastruktur und Klimaneutralität; je 100 Mrd. EUR sind für Länderinvestitionen und den Klima- und Transformationsfonds vorgesehen.
Bei Einführung der Schuldenbremse legten sich die Länder – im Zeichen neoliberaler Sparlogik und überschätzter fiskalischer Selbstdisziplin – selbst ein vollständiges Schuldenverbot auf (vgl. kritisch: Kirchgässner 2014; affirmativ: Karl-Bräuer-Institut 2010). Sie erhalten nun einen konjunkturunabhängigen strukturellen Verschuldungsspielraum von 0,35 % des BIP. Die Selbstbindung im Zeichen neoliberaler Sparlogik wird nur minimal gelockert und bleibt stark begrenzt.
Diese Anpassungen wurden sowohl als ein Schritt vorwärts begrüßt (vgl. Fratscher 2025) als auch kritisiert als Militär- bzw. Rüstungs-Keynesianismus (Weber/Krebs 2025). Keine einfache Ausgangslage für die noch einzurichtende Kommission, die weitere Reformen der Schuldenbremse erarbeiten soll. Vorschläge dafür liegen immerhin seit Jahren vor (vgl. Benoska et al. 2024; Bardt et al. 2019).
»Kein Weg führt an der Abschaffung der Schuldenbremse vorbei.«
Ohne dem bekannten Muster: „Kennst du das Ergebnis schon, gründe eine Kommission“ das Wort zu reden, besteht auf progressiver Seite ein Konsens, dass Sondervermögen ein pragmatischer Schritt sind, um akute Investitionslücken zu schließen. Doch führt kein Weg an der Abschaffung der Schuldenbremse vorbei. Auf dem Weg dorthin sind durch eine „Goldene Regel Plus“, die öffentlichen Nettoinvestitionen von der Schuldenbremse auszunehmen – und der Charakter nachhaltiger Zukunftsinvestitionen zu klären.
Übereinstimmung besteht sicherlich darin, dass noch so hohe Investitionssummen wirkungslos bleiben, wenn die Umsetzung durch dysfunktionale Verwaltungsprozesse, überlange Planungs- und Genehmigungsphasen, siloartig gewachsene Behördenstrukturen und -kommunikation sowie eine zersplitterte föderale Zuständigkeit ausgebremst wird. Verbesserte Handlungsfähigkeit im Sinne effizienterer Abläufe, digitaler Prozesse und einer modernen Führungs- und Verwaltungskultur sind sinnvoll und wichtig. Modernisierte Infrastrukturen und verbesserte Kommunalfinanzen tragen dazu bei, die öffentliche Daseinsvorsorge in Stadt und Land wirksamer werden zu lassen. Ein im engeren Sinne progressives Projekt entsteht daraus nicht. Vielmehr sind Fehlannahmen hinsichtlich der Wirkung „guten Regierens“ und eines neuen Staatsinterventionismus kritisch zu diskutieren.
Nicht nur aber auch in der „funktionalen Regierungspartei“ SPD (Mielke/Ruhose 2025) ist die Annahme verbreitet, dass durch eine gelingende Staatsreform in Verbindung mit einer wirksamen Infrastrukturmodernisierung die Krise der Repräsentation zu überwinden und dem Angriff des autoritären Populismus auf die liberale Demokratie begegnet werden könne. Die übersteigerte Hoffnung in die Wirkung „guten Regierens“ ist ein trügerischer Kurzschluss und verstellt möglicherweise den Blick auf ein größeres Bild und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen.
Es gibt kein »Gutes Regieren« im »Weiter so«.
Argumentiert wird die Repräsentationskrise, im Sinne Gramscis, als eine Hegemoniekrise der von Nancy Fraser (2017) euphemistisch als „progressiven Neoliberalismus“ bezeichneten Formation zu verstehen. Unzufriedene Teile des Bürgertums spalten sich aus dem bürgerlichen Lager ab und „um erfolgreich zu sein, kritisieren sie nicht nur dominante Politik innerhalb des Machtblocks, sondern stützen sich auf die Unzufriedenheit der Subalternen gegen ‘die da oben’ und mobilisieren gegen die politische Klasse – obwohl sie selbst zur bürgerlichen Klasse gehören und an der Führung der politischen Geschäfte teilnehmen“ (Demirovic 2018: 29). Wobei Demirovic der Annahme einer Hegemoniekrise widerspricht und die Ablösung des „progressiven“ Neoliberalismus durch den autoritär-populistischen Neoliberalismus als nächsten Schritt auf einer „erweiterten Stufenleiter“ sieht.
Erheblich ist hier nicht, welche Perspektive höhere Plausibilität beansprucht, sondern der geweitete Fokus. Während Autoritarismusstudien vor allem das subjektive Bedürfnis nach Ordnung und Konformität betonen – also fragen, warum Menschen autoritäre Politik unterstützen –, richtet sich der Blick in den gegenwärtigen Faschisierungsdebatten stärker auf staatliche und gesellschaftliche Umbauprozesse, die autoritäre Herrschaftsverhältnisse etablieren – unabhängig von individueller Zustimmung. Ein Blick auf die USA unter Trump zeigt, dass dies keineswegs aus hysterischer Überspitzung resultiert, sondern aus dem Bedürfnis, die sich vollziehende Entwicklung zu fassen, um darauf reagieren zu können. Da ein inflationär verwendeter Faschismusbegriff weder in der Vergangenheit noch heute nützt, wird in der Debatte, insbesondere über die autoritäre Transformation der USA, vorgeschlagen, nicht mit klassischen Faschismustheorien zu operieren, sondern die Indikatoren einer „Faschisierung“ (vgl. Demirović 2025; Candeias 2025) analytisch zu verfolgen. Dies erlaubt ein besseres Verständnis auch von Regimen wie in Ungarn oder der Türkei (Heller 2017), ohne sie vorschnell als faschistische Ausnahmeherrschaften zu deuten. Und bietet die Möglichkeit, realistische Gegenschritte zu identifizieren. Durchaus im Anschluss an Gramsci, denn wie zeitgemäß dessen Lektüre und erfolgreich daraus zu ziehende Schlussfolgerungen sein können, zeigt uns gegenwärtig die autoritäre Rechte – nicht die progressive Linke.
Die Vielfachkrisen der vergangenen zwei Dekaden wurden mit Instrumenten staatlichen Interventionismus behandelt. „Whatever it takes“, „Bazookas“ etc. warfen sowohl die Frage, nach der Tiefe des damit verbundenen polit-ökonomischen Paradigmenwechsels in den Staaten des westlich-liberalen Kapitalismus auf, als auch mit Blick auf autoritär-staatliche Regime wie China und Russland oder Länder der kapitalistischen Peripherie (u.a. Brasilien, Indien), „ob ein staatlich ‚gemanagter‘ Kapitalismus, ein sogenannter Staatskapitalismus, dem ‚liberalen’ Kapitalismus möglicherweise überlegen ist“ (Kannankulam 2022: 374).
Unabhängig davon, dass die Evidenz eines sich herausbildenden Staatskapitalismus eher dünn zu sein scheint, zeigt sich, dass die mit der staatlichen Intervention verfolgten Ziele, sich bislang von markt- oder neoliberal-kapitalistischer Logik nicht unterscheiden. Sie sind deshalb auch mit der Gefahr verbunden, „dass ökologisch und sozial verfehlte Geschäftsmodelle subventioniert werden und dass es zu Fehlallokationen kommt“, indem der Staat als Investor letzter Instanz auftritt, wo es anderweitig nicht mehr profitabel ist, wie z.B. bei Intel in Magdeburg oder mit LNG-Terminals neue, dauerhafte fossile Infrastruktur geschaffen wird (Wolf 2023).
Solange die entscheidenden Akteur:innen darauf abzielen, die Abkehr vom zerstörerischen fossilen Modell möglichst hinauszuzögern bzw. das Wachstumsmodell eines „grünen“ Kapitalismus weiterhin auf wachsendem Ressourcenverbrauch, externalisierte Umweltschäden und neokoloniale Rohstoffaneignung setzt, sind die notwendigen Bedingungen für den Übergang zu einem langfristig tragfähigen nachhaltigen Akkumulationsmodell nicht gegeben.
Gesucht: Ein tragfähiges Projekt für eine progressive gesellschaftliche Mehrheit
Ein tragfähiges Projekt, das auf eine progressive gesellschaftliche Mehrheit im Jahr 2029 zielt, ist sich der Begrenztheit technokratischer Reparaturen bewusst, ohne darauf zu verzichten, die Verwaltung effizienter, die Infrastruktur moderner und den Staat investitionsfähiger machen. Der in sich widersprüchliche Block der parteipolitischen und gesellschaftlichen Linke, ob Mosaik oder nicht, muss deshalb verschiedene Aufgaben erfüllen: (1) für die emanzipatorischen Erfolge seit den 1960er Jahren einstehen und „darf sich nicht selbst schwächen, indem sie sich […] den Widerspruch von sozialen und identitätspolitischen Orientierungen einreden lässt“ (Demirovic 2025), (2) den Staat dann als handlungsfähig verstehen, wenn sozial-ökologische Zukunftsinvestitionen in die industrielle Transformation, klimagerechte Dienstleistungen sowie gemeinwohlorientierte Infrastrukturen und Daseinsvorsorge dazu beitragen, (3) eine demokratische und solidarische Alltagspraxis vor Ort zu etablieren, die (4) die rassistisch konnotierten Entsolidarisierungspraktiken, insbesondere im Spannungsverhältnis der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und sozialen Grundsicherungen beenden.
Es könnte eine in vielerlei Hinsicht spannende und überraschende Erzählung von Deutschland werden, für diejenigen, die hier leben oder zu uns kommen - ob aus Südkorea, dauerhaft oder nur temporär.
Verwendete Literatur:
Bardt, Hubertus / Dullien, Sebastian / Hüther, Michael / Rietzler, Katja: Für eine solide Finanzpolitik. Investitionen ermöglichen!, IW-Policy-Paper, Nr. 10/2019.
Beznoska, Martin / Hentze, Tobias / Hüther, Michael / Kauder, Björn: Schuldenbremse 2.0 –Konzepte für tragfähige Fiskalregeln, in: IW-Policy-Paper, Nr. 4/2024.
Candeias, Mario: Faschisierung an der Macht. Von Trump und Melonie zu Merz, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, April 2025, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/faschisierung-an-der-macht/
Demirovic, Alex: Braucht es eine Erneuerung der Faschismustheorie?, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Mai 2025, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/braucht-es-eine-erneuerung-der-faschismustheorie/
Demirovic, Alex: Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Nr. 190, Heft 1/2018, S. 27-42.
Fraser, Nancy: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2027, S. 71-76.
Fratzscher, Marcel: „Grundgesetzänderung ist riesige Chance, Deutschland zukunftsfähig zu machen“, Statement vom 18. März 2025, https://www.diw.de/de/diw_01.c.941601.de/grundgesetzaenderung_ist_riesige_chance__deutschland_zukunftsfaehig_zu_machen.html
Grünewald, Stephan: rheingold Wahlstudie 2025 – „Was Deutschland wirklich bewegt“, hrsgg. vom rheingold Institut, https://www.rheingold-marktforschung.de/rheingold-studien/rheingold-wahlstudie-2025-was-deutschland-wirklich-bewegt/
Heller, Ágnes: Von Mussolini bis Orban: Der illiberale Geist, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2017, S. 73-79.
Kannankulam, John: Staatskapitalismus?, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Nr. 208, Heft 3/2022, S. 373-384.
Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, 2010, Grenzen der Staatsverschuldung in den Bundesländern gemäß Föderalismusreform II. Handreichung für den AK Haushalt zur Einrichtung von Schuldengrenzen in den Bundesländern, https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Ausschuesse/Rechtsausschuss/Stellungnahmen_Schuldenbremse/BdSt-Stellungnahme-Anlage-2.pdf
Kirchgässner, Gebhard: Die Schuldenbremse der Bundesländer: eine Fehlkonstruktion?, in:Wirtschaftsdienst, Heft 10/2014, S. 721-724.
Mielke, Gerd/Ruhose, Fedor: Auf dünnem Eis. Die SPD in Krisenzeiten, Frankfurt/New York, 2025.
Weber, Isabella/Krebs, Tom: Deutschland entdeckt seine Liebe zum Militär-Keynesianismus, in: Surplus. Das Wirtschaftsmagazin, 24. April 2025, https://www.surplusmagazin.de/deutschland-militaer-keynesianismus-aufruestung-weber/
Wolf, Harald: Das Ende des Neoliberalismus, wie wir ihn kennen, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, November 2023, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/ende-des-neoliberalismus-wie-wir-ihn-kennen/.