30.08.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Exil in Bildern: Stefan Zweigs letzte Reise

Flucht ist selten ein linearer Prozess, sondern vollzieht sich zumeist in Etappen. Dabei spielen nicht nur die Dynamik sich fortlaufend wandelnder Konfliktlinien eine Rolle, sondern ebenso die Tatsache, dass sich Zufluchtsorte als weder ausreichend sicher herausstellen können noch Möglichkeiten zum Lebensunterhalt oder zur Versorgung bieten. Viele Menschen sehen sich deshalb gezwungen, dauerhaft oder zumindest längerfristig mit der prekären Situation des Flüchtlingsdaseins zu leben. Die Ursachen für Fluchtgeschehen liegen zumeist in Gewalt als Folge von Krieg oder Bürgerkrieg, Verfolgung z.B. aufgrund autoritärer politischer Herrschaft oder dem Staatszerfall.

Mitte 2015 – dem Jahr, an das dieser Tage als der »Sommer der Migration« in Deutschland erinnert wird – registrierte der UN-Flüchtlingshochkommissar (UNHCR) mit 20,2 Millionen Geflüchteten und zusätzlich 38,2 Millionen »Binnenvertriebenen« einen Höchststand im Vergleich zum vorhergehenden Vierteljahrhundert.

Angela Merkels Aussage Ende August 2015: »Wir schaffen das« reflektierte einen außergewöhnlichen Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität: Zahlreiche Menschen übernahmen freiwillige Aufgaben, Bahnhöfe wandelten sich zu Symbolorten der Willkommenskultur, und es formierte sich eine breite Bewegung, die verdeutlichte, dass alternative Ansätze in der Migrationspolitik denkbar sind.

Wie einige Jahre später auch in der Corona-Pandemie, die ebenfalls mit einer breiten gesellschaftlichen Solidaritätsbewegung begann, wandelte sich nach 2015/16 der öffentliche Diskurs von der solidarischen Energie der Willkommenskultur ins Gegenteil einer abschottenden und ausgrenzenden Migrationspolitik – nicht allein in Deutschland.

Symptomatisch steht dafür der bundesdeutsche Umgang mit den afghanischen Ortskräften, für die seinerzeit 2.400 Visa-Zusagen erteilt wurden, um die von den Taliban verfolgten Menschen und ihren Familien Schutz zu gewährleisten. Über Monate hin verzögerte die Bundesregierung die Ausreise der Betreffenden aus Pakistan nach Deutschland, obwohl in knapp zwei Dutzend Eilbeschlüssen die Bundesregierung von Gerichten daran erinnert wurde, dass die Bundesrepublik durch „bestandskräftige, nicht widerrufene Aufnahmezusagen rechtlich gebunden“ sei, wie es in einem Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts hieß. Zuletzt schob die pakistanische Regierung Familien mit Visa-Zusagen Deutschlands nach Afghanistan ab.

In der öffentlichen Debatte wird über Geflüchtete und Asylsuchende sowie über Maßnahmen wie Abschiebungen häufig abstrakt und entpersonalisiert berichtet und diskutiert. Zu selten finden die tatsächlichen Biographien der betreffenden Menschen Eingang in Berichterstattung und Bewusstsein.

Daran musste ich denken, als mein Sohn vom Besuch bei seiner Großmutter die bereits 2012 in erster und 2016 in zweiter deutscher Auflage bei Jacoby & Stuart erschienene Graphic Novel »Die letzten Tage von Stefan Zweig« mitbrachte.

Der Comic basiert auf dem 2010 in Frankreich von Laurent Seksik veröffentlichten Roman »Vorgefühl der nahen Nacht«, der die letzten sechs Monate im Leben des exilierten österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig und seiner Frau Lotte beschreibt. Graphisch umgesetzt wurde der Text von Laurent Seksik von Guillaume Sorel, der seit 1987 als Illustrator für Zeitschriften und Magazine sowie als Comiczeichner arbeitet.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 geriet Stefan Zweig als jüdischer Schriftsteller zunehmend unter Druck. 1934 verließ er Österreich und lebte zunächst in London, später in Bath. 1939 heiratete er Charlotte Elisabeth Altmann (»Lotte«), die ihn bereits seit einigen Jahren als Sekretärin begleitet hatte. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde ihre Lage schwieriger: Zweig galt in Großbritannien als »enemy alien« und durfte sich zeitweise nur eingeschränkt bewegen. 1940 emigrierten Stefan und Lotte in die USA, wo sie in New York und Ossining lebten.

Von dort zogen beide 1941 nach Petrópolis bei Rio de Janeiro. Die überwiegend sepiafarben und grün gezeichnete Graphic Novel beginnt bei der Abreise von Stefan und Lotte Zweig aus New York am 15. August 1941 nach Brasilien. Dort vollendete Zweig seine Autobiografie Die Welt von Gestern sowie die Schrift Schachnovelle. Die Erfahrungen der Heimatlosigkeit und des politischen Zerfalls spiegelten sich in diesen Schriften: In Die Welt von Gestern entwarf er die Erinnerung an das verlorene Europa, in der Schachnovelle verdichtete er die Erfahrung von Isolation und Zwang.

Entsprechend nimmt die Graphic Novel die Leser:innen mit auf eine doppelte Reise: zunächst auf See aber mehr noch in die seelischen Abgründe Stefan Zweigs. Der hochanerkannte und weltweit gelesene Autor ist, so zeigen Seksik Texte und Sorels Tuschezeichnungen, erfüllt von einer tiefen Sehnsucht nach seiner Heimat Wien und einer noch größeren Verzweiflung angesichts des scheinbar unaufhaltbaren Siegeszugs der deutschen Nationalsozialisten und mit ihnen verbündeten faschistischen Regime, die im Sieg der japanischen Truppen bei der Schlacht um Singapur und der Kapitulation der britischen, australischen und niederländischen Alliierten unter Generalleutnant Arthur Percival am 15. Februar 1942 kulminiert.

„In einem Jahr, Lotte, wird die Wehrmacht durch die Straßen von Rio marschieren“ ist Zweig mit den ihm von Siksek in den Mund gelegten Worten überzeugt. Auf den Einwand Lottes: „Nein, das ist unmöglich!“ antwortet Stefan: „Nicht möglich?! Deutschland judenfrei zu machen, war das vielleicht möglich? … Lotte, sie haben alle Schlachten gewonnen.“

Lotte, die lebenslustige junge Frau, die so bemüht ist, ihren geliebten Mann aus dem Tal der Verzweiflung zu retten und in Rio de Janeiro neu anfangen möchte, stößt dabei an die Grenzen ihrer eigenen gesundheitlichen Beschränkungen. Das Exil in Brasilien, in dem die Zweigs aufgrund der Unterstützung von Gönnern, keinen materiellen Mangel leiden muss, währt letztlich nur 190 Tage, ein knappes halbes Jahr. Am 22. Februar 1942 wählt das Paar in beiderseitigem Einverständnis den Tod durch Suizid.

Das Schicksal von Stefan und Lotte Zweig führt vor Augen, dass jede abstrakte Debatte über Flucht und Migration ins Leere läuft, wenn sie die individuellen Geschichten und Verletzlichkeiten der Betroffenen ausblendet. In diesem Sinne wäre auch dieser schon etwas älteren Graphic Novel eine weiterhin interessierte Leser:innenschaft zu wünschen.  

 

Guillaume Sorel/Laurent Seksik, Die letzten Tage von Stefan Zweig, Jacoby & Stuart, Berlin 2012 (ISBN: 978-3-941-787-78-0). Aus dem Französischen von Edmund Jacoby, 90 Seiten, gebunden, 24,- EUR.