22.07.2025
Benjamin-Immanuel Hoff/Julia Grosse
Interview aus dem Podcast »Kunst der Freiheit«

Jenseits des White Cube: Kunst für alle?

BIH: Vor drei Jahren im Gespräch mit dem Deutschlandfunk hast du auf die Frage, welche Berufsbezeichnung du dir bei der enormen Bandbreite an Tätigkeiten geben würdest, gesagt, „gegenwärtig Kuratorin“. Ist das noch aktuell?

Julia Grosse: „Ich kann das bejahen, ich bin noch Kuratorin. Zugleich sprach ich damals in dieser Radiosendung auch darüber, dass ich ganz viele Hüte auf dem Kopf hatte und immer noch habe. Als Kuratorin, Kunstkritikerin und Kunsthistorikerin.

Wenn ich über das Kuratieren spreche, dann allerdings nicht in dem klassischen Sinn, viele Ausstellungen umzusetzen und zu kuratieren, sondern mich reizt es, dazwischen zu schauen, in die Strukturen zu spicken um festzustellen, was ist eigentlich dazwischen los. Wie hält eine Struktur ein Kunsthaus aber auch eine Ausstellung zusammen.

BIH: Einer dieser Hüte, der auf deinem Kopf sitzt, ist die Tätigkeit in Jurys und Beiräten. Viele sehen darin eine zwar abstrakt notwendige Tätigkeit, aber vorrangig eine lästige Verpflichtung. Wenn du über deine Arbeit reflektierst, erscheint mir dies als ein struktureller Teil deiner beruflichen Praxis. Als etwas aus dem du mehr schöpfst als du gibst. Warum?

Julia Grosse: Ich kann den Aufwand, der mit einer solchen Tätigkeit verbunden ist, schon bejahen. Das kann schon sehr in die Zeit gehen. Man reist zwei Tage durchs Land, ist involviert und muss sich, wenn man die Tätigkeit ernst nimmt, auch ernsthaft vorbereiten. Aber ich hab auch früh festgestellt, dass diese Jurys, aber auch vor allem die Beiratsarbeit strukturell unheimlich wichtig ist. Eine solche Tätigkeit, zum Beispiel im Programmbeirat für Kunst im öffentlichen Raum in München, umfasst einen Zeitraum von sechs Jahren. Eine lange Zeit, in der man einerseits verpflichtet ist und in der es andererseits gelingen kann, auch wirklich nachhaltig Programme zu gestalten, als Gruppe wirksam Einfluss zu nehmen.

Und gerade in einer Zeit wie dieser und dem gegenwärtigen Klima ist es wichtig, dass Vielstimmigkeit auch konkret wird. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, ein Teil davon zu sein und hier mit anderen wirksam zu werden.
 

BIH: Wenn allgemein über Kunst gesprochen wird, dann dominieren häufig Erzählungen über den Kunstmarkt. Oder große Publikumswirksame Ausstellungen in den  Kunstmuseen. Die Kunst im öffentlichen Raum, die Kunst am Bau sind in der öffentlichen Wahrnehmung eher zurück gesetzte Themen. Du hast nun als eine deiner Beiräte den für die Kunst im öffentlichen Raum aus München angesprochen. Und ich habe das Gefühl, dass das kein Zufall ist, sondern ein künstlerisches Feld, dass dir sehr wichtig ist.

Julia Grosse:  Ja, das stimmt. Viele verorten die Kunst und ihre Präsentation in den abgeschlossenen Ausstellungsraum. In den man sich zum Teil auch gar nicht hineintraut. Je nach Standort, je nach inklusiver oder exklusiver Architektur.

Die Kunst im öffentlichen Raum ist demgegenüber eine Chance, in den Dialog zu gehen mit einem Publikum, das einfach da ist. Das den öffentlichen Raum als ihren Raum verstehen soll. Wenn die öffentlichen Räume enger werden, dann ist die Präsenz von Kunst hier umso wichtiger, soweit sie jenseits von Repräsentation funktioniert. Also jenseits von Skulptur vor großen Bankfilialen, sondern von Kunst im öffentlichen Raum, die partizipativ ist und die Menschen auch zum Stehenbleiben animiert. Das ist für mich eine unheimliche Chance, die der öffentliche Raum hat im Vergleich zu den Museen, bei denen es viele Hürden gibt. dorthin zu gehen, die Treppe hinaufzusteigen.


BIH: Mir gefällt an Kunst im öffentlichen Raum, dass sie eine Aneignungsmöglichkeit bietet. Kinder eignen sich Skulpturen im öffentlichen Raum gemeinhin an, indem sie sie berühren, beklettern, umspielen.

Ebenso gefällt mir die Kontroverse um Denkmäler und deren historische Bezüge. Vor allem, wenn sie umstritten sind. Mein Lieblingsbeispiel ist dieses mehrfach von einem Künstlerinnen-Kollektiv in Sofia, der Hauptstadt von Bulgarien, überformte ehemalige sowjetische Denkmal. Das ganz im Stil des heroischen Kampfes gestaltete Motiv wurde nach dem Beginn des Ukrainekriegs in den Farben der Ukraine übermalt. Oder die Figuren als Superheldenfiguren überzeichnet.


Julia Grosse:  Das ist ein sehr spannendes Thema. Kürzlich sprach ich darüber mit Miriam Zadoff, der Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in München, wie wir mit diesen problematischen sichtbaren Denkmälern in öffentlichen Raum umgehen können. Das, was du jetzt beschrieben hast, ist eine sehr aktivistische und proaktive, starke Arbeit im Umgang mit diesen Denkmälern und ich kenne das auch aus anderen Kontexten. In Angola zum Beispiel hat der Künstler Kiluanji Kia Henda im öffentlichen Raum auf leere Sockel nun normale Menschen posieren lassen und die alten, nicht mehr vorhandenen Statuen oftmals kolonialer Machthaber dadurch mit neuen Stimmen ersetzt . Das fasziniert mich.

Ebenso stark fand ich aber auch diesen goßen Kraftakt, mit dem in Bristol die Statue des ehemaligen Sklavenhändlers Edward Colston aus dem 17. Jahrhundert heruntergerissen und dann auf der Straße entlang gezerrt und in den Kanal geworfen wurde. Ich fand das so einen starken Akt. Auch im Hinblick darauf, was das mit den Leuten vor Ort gemacht hat. Da dachte ich: ja, im Grunde geht man so mit diesen sehr sichtbaren Statuen um. Man kann sie natürlich alle dem Erdboden gleich machen.

 

BIH: Nun wird eingewendet, dass indem die Denkmäler und Statuen gestürzt werden, wird auch Geschichte weggewischt.
 

Julia Grosse:  Ein berechtigter Einwand, der zugleich vernachlässigt, dass durch diesen Akt des Sturzes, der medial auch extrem sichtbar war, der Sturz als Umgang mit der Geschichte für immer in unseren Köpfen bleibt. Der ist für mich also alles andere als eine Unsichtbarmachung.

BIH: Bleiben wir bei den Interventionen in den öffentlichen Raum. Studierende der Berliner Universität der Künste, an der du tätig bist, haben mit schwarzem Stoff großflächig das Eingangsportal der Hochschule über mehrere Etagen verhüllt. Damit soll gegen die enormen Sparmaßnahmen des Berliner Senats protestiert werden und der Protest sichtbar bleiben. Denn in der Kultur- und Kunstszene der Stadt müssen insgesamt mehr als 11 Prozent eingespart werden, das sind über 130 Millionen Euro. Diese Einsparungen werden nicht gleichmäßig, sondern sehr ungleichmäßig verteilt.
Einige Sparten oder Institutionen müssen weniger Kürzungen erbringen, bei anderen werden es mehr. Dort stehen also 50 Prozent oder noch mehr zur Disposition, unter anderem in der Atelierförderung.
Auch die Universität der Künste selbst muss in diesem und in den nächsten Jahren mehrere Millionen einsparen und mich interessiert, was das aus deiner Perspektive für die Kunstszene der Stadt, aber auch für Künstlerinnen und Künstler ganz persönlich bedeutet, die ja sowieso häufig unter extrem prekären Bedingungen tätig sind und bei denen das Atelierprogramm eben eine wahnsinnig wichtige Funktion hat.

Julia Grosse:  Eine Kunstuni weiß einfach, wie man visuell einen Impact setzt. Und die Verhüllungsaktion war ziemlich kraftvoll und beeindruckend. Denn bei allen, den Dozent:innen wie den Studierenden gibt es große Sorge, was das für eine Konsequenz hat, wenn mehrere Millionen Euro an der UdK weggekürzt  werden.
Für die Kunstszene und vor allen Dingen auch die freie Kunstszene sind die Kürzungen in Berlin vielschichtig problematisch, oder besser gesagt, dramatisch. Klar ist, die Räume werden noch enger, also die physischen Räume, du hast es schon angesprochen, die Arbeitsräume, die Ateliers.

Das wird ein Grosses Problem. Denn solche Räume waren schon bisher knapp. Studierende oder auch junge Künstler:innen suchen teils über Jahre Studios und Arbeitsräume. Deshalb waren diese Programme so wichtig in Berlin und umso größer die Leerstellen, die bleiben. Zu erwarten ist, dass Formate die Stipendien überrannt werden, weil es da ja auch schon Kürzungen gab.
Kurzum: es ist ein Grosses Problem, dass die Räume physisch und auch diskursiv enger werden.

BIH: Du hast lange in London gelebt und als Kunstkorrespondentin dort gearbeitet. Die Arbeits- und Lebensbedingungen für Künstlerinnen und Menschen, die im Kultur- und Kunstbetrieb tätig sind, unterscheiden sich zwischen London und Berlin weiterhin stark, trotz einer sich radikal annähernden Mietenentwicklung. Der damalige Berliner Kultursenator Joe Cialo plädierte in der Diskussion um die Berliner Kürzungen dafür, sich bei der öffentlichen Finanzierung von Kunst und Kultur stärker an privat finanzierten Institutionen zu orientieren. Er nannte dann den Club Berghain als ein Beispiel dafür. Das fanden viele, freundlich ausgedrückt, skurril. Einige lesen das aber vor allem als einen Rückzug des Staates aus der öffentlichen Kunstfinanzierung.
Wenn man das konsequent zu Ende denken würde, was könnte das für Deutschland bedeuten. Zugleich aber auch gefragt: Wo denkst du, würde London dem Kunstbetrieb Berlins ein bisschen gut tun?

Julia Grosse: Diesen Vergleich, der Politiker:innen häufiger über die Lippen kommt, dieses ah, let's do it like London, lernen von UK und US und so weiter, finde ich meistens zu kurz gedacht.

Ein für mich positiver Aspekt beim Blick auf London beispielsweise besteht darin, dass unterschiedliche Facetten von Kultur viel selbstverständlicher als hier in Deutschland zusammengedacht werden. Die „Popkultur“, die „Hochkultur“ und der „Mainstream“ (ganz bewusst in Anführungszeichen formuliert) werden stark zusammen gedacht. Das hat mich schon immer fasziniert.

Denn sie bekommen es hin, einen Zustand von „Hochkultur“ und einem „Mainstream“ oder einer „Popkultur“ zu schaffen, der die Kunst oder die Hochkultur nicht aushöhlt. Es ist keine Verflachung, sondern ein produktives Zusammenkommen dieser beiden Pole, die sich gegenseitig befruchten. Davon können wir lernen. Wenn ich im Museumskontext Helene Fischer anspreche, gegen immer noch viele Augenbrauen hoch. Das ist nicht zwingend so etwas wie Dünkel, sondern eine fehlende Vorstellung davon, dass Mainstream in solche Institutionen der Hochkultur hineinkommt. Das ist immer noch ein Reizthema in Deutschland.

Trotz aller Sparzwänge hier in Deutschland unterscheidet sich die Situation noch sehr von denen in den USA oder in UK, bei denen der staatliche Support viel, viel niedriger liegt. Die Notwendigkeit, kreativ zu sein, um Mittel einzuwerben, ist wesentlich höher. Auch wenn einzelne Ausstellung in Deutschland bereits überwiegend privat finanziert werden, ist es noch keine Regel, dass Firmen wie Hyundai oder andere gesamte Ausstellungen sponsern und dann ein gesamter Gebäudeflügel beispielsweise „Hyundai-Flügel“ heißt. Das sehe ich in Deutschland auch auf absehbare Zeit noch nicht.

Die Tate Gallery in London zum Beispiel lädt seit Jahrzehnten Künstler:innen ein, eine ganz Grosse Arbeit zu entwickeln. Das kostet Millionen – das könnte staatliche Förderung gar nicht auffangen. Der Nachteil besteht dann wiederum darin, dass die Kunsteinrichtung mitgefangen ist mit dem Image und ein Stück weit auch der Agenda von der Unternehmen, mit denen sie arbeiten.


BIH: Lass uns noch einmal zu dem Modell Berghain zurückkommen. Ich sehe dieses Beispiel von Chialo extrem kritisch, weil es eine blauäugige, reduzierte Zeichnung von Privatfinanzierung versus öffentlicher Kunstförderung ist, in der die öffentliche Kunstförderung als ein überflüssiger Luxus angesehen wird oder die Kunstförderung als eine Art Mäzenatentum verstanden wird. Dabei ist öffentliche Kunstförderung quasi die Entscheidung des Volkssouveräns, den Haushaltsgesetzgeber mit der öffentlichen Kunstförderung zu beauftragen, bei der die Kunst frei ist.


Julia Grosse: Ich stimme dir zu. Das ist sehr vereinfacht dargelegt, weil es die Kunst zu einem Serviceprodukt, einer Art künstlerischen Dienstleistung reduziert. Um nicht missverstanden zu werden – weder verstehe ich das Berghain und die Kunst, die da produziert wird, als einen Service. Doch es ist ein Markt und die Leute zahlen dafür. Die Leute zahlen natürlich auch, wenn sie ins Museum gehen. Doch sie zahlen dort für die Erfahrung von und mit Kunst, die sich durch die öffentliche Finanzierung auch die Freiheit nehmen kann, schwer zu verstehen, nicht marktgängig zu sein. Kunst muss kein Service sein – sie kann neugierig machen, irritieren. Jeden amüsieren, das kann Kunst nicht und soll sie auch nicht, weshalb diese Vergleiche nicht zu Ende gedacht sind.

BIH: Das Gegenteil von unterkomplex ist das, was du gemeinsam mit Yvette Mutumba machst. Ihr habt an unterschiedlichsten Projekten schon zusammengearbeitet, aber ihr habt eine Plattform gegründet, die heißt Contemporary And. Bitte erzähle uns über deine Beweggründe diese Plattform zu schaffen.

Julia Grosse: Wir können es selbst manchmal nicht glauben, aber Contemporary And hat im Jahr 2023 das zehnjährige Jubiläum gefeiert. Angefangen hat es damit, dass wir 2013 mit Mitteln aus dem Auswärtigen Amt und dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) begonnen haben, eine Plattform zu gründen, um Kunstproduktion aus Afrika und der globalen Diaspora eine stärkere Sichtbarkeit zu geben.
Uns war dabei von Anfang an klar, dass es nicht nur um Afrika als Kontinent geht, sondern wir der Tatsache Rechnung tragen wollen, dass afrikanische Künstlerinnen und Künstler überall sitzen. Die Diaspora ist mindestens genauso wichtig wie die Länder und Städte in Afrika. Eine junge Künstlerin macht vielleicht gerade eine Residency in Paris, kommt aber eigentlich aus Lagos, wohnt aber gleichzeitig in London und so weiter. Diese Komplexität, Vielfalt und Bewegung wollten wir sichtbar machen.
Aus Magazin-Gedanken ist inzwischen ein riesiges globales Netzwerk entstanden. Mit critical writing workshops, mit einem kritischen Leseraum, den wir gestartet haben und der durch die Museen weltweit wandert.

Indem wir seit zehn Jahren diskursiven Texten von Autorinnen all over the world Raum geben, ist ein unglaubliches Archiv entstanden. Durch eine Grosse Förderung können wir dieses gesammelte Wissen zugänglicher machen. Bislang gibt es quasi nur ein Nadelöhr, durch das man etwas mühselig  zu diesen ganzen tollen Inhalten kommt. Wir sind sehr happy, dass wir dieses Nadelöhr nun endlich zu einer großen Suchfunktion ausbauen können, um all dieses Wissen sichtbar und nutzbar zu machen.

Entstanden sind die Texte in einer Zeit, in der die Notwendigkeit, in der viele Sachen, über die wir heute viel selbstverständlicher reden, viel weniger präsent waren. Zur Venedig-Biennale 2013 haben wir beispielsweise eine kleine Karte herausgebracht, auf der wir alle Künstler:innen aus afrikanischen Perspektiven versammelt haben: Der eine ist in dem Pavillon, die andere ist hier und dort usw.. Das war damals eine kleine Sensation , denn so eine Übersicht gab es noch nicht.
Heute sind diese Diskurse stärker und wir freuen uns über den Beitrag, den wir dazu geleistet haben. Gleichzeitig sehen wir auch die Bedrohungen für diese Diversität und diversen Diskurse im gegenwärtigen Klima.

 
BIH: Wenn in Deutschland über den afrikanischen Kontinent gesprochen wird, scheint aus meiner Sicht immer noch die Vorstellung vorherrschend, dass es sich mehr um ein Land als um einen extrem unterschiedlichen Kontinent handelt. Die Vielfalt afrikanischer Kultur, Kulturrennen, Strömungen, aber auch die Diaspora, die du angesprochen hast, werden aus meiner Sicht wenig reflektiert. Wie viel Sisyphus steckt eurer Arbeit bei Contemporary And?

Julia Grosse: Sehr viel. Du hast es schon angesprochen: Afrika ist ein Kontinent mit 54 Ländern. Allein diese Entscheidung, dass wir die Plattform Contemporary And nennen, basiert darauf, dass uns in erster Linie interessiert, dass die Künstler:innen zeitgenössisch arbeiten. Ob sie vielleicht aus Tansania kommen oder aus Paris mit Eltern aus Tansania ist für uns keine Kategorie, nach der wir diese Künstler:innen einordnen. Deshalb war für uns auch wichtig festzustellen, dass wir nichts zur sogenannten African Art machen. Für uns gibt es afrikanische Kunst genau aus diesem Grund, den du genannt hast, nicht. Ebenso wenig wie es die eine europäische Kunst gibt.
Es lag dann auch auf der Hand, nicht von Kunst aus Afrika zu sprechen, sondern von afrikanischen Perspektiven.  Der Begriff Kunst aus Afrika und der globalen Diaspora ist zwar weiterhin gebräuchlich, aber er ist anfällig für ein schematisches Verständnis, dass der Vielfalt nicht Rechnung trägt. Denn in Wirklichkeit ist es ja, genau wie du sagst: was hat jetzt der Maler aus Accra mit der Performance-Künstlerin aus Addis Abeba zu tun? Was verbindet sie oder eben nicht? Es gibt Tausende von Künstler:innen, aber diese Klischees muss man halt immer wieder aufbrechen über Jahre. Von daher ist es sehr sisyphusal.

BIH: Sisyphusal ist ein schönes Wort, das gefällt mir sehr gut. Es ist schon eine Weile her und man kann sich das angesichts des sehr monothematischen Bundestagswahlkampf, den wir erlebt haben, in dem es eigentlich nur um Migration ging und um nichts anderes, fast gar nicht mehr vorstellen, doch du hast vor einiger Zeit einem Panel teilgenommen, dessen These lautete, dass der Freiraum von Kunst und Ästhetik vorwegnimmt, was im politischen Raum sichtbar und verhandelbar ist. Das betrifft unser Verständnis von Schönheit, aber auch von Diversität und Verantwortung. Daraus ist die Idee einer Ästhetik der Vielfalt entstanden. Diese Ästhetik sei ebenso notwendig wie spannungsgeladen, da die Idee des Nationalstaats auf der Annahme von Homogenität basiert. Wir haben dies gerade in der Diskussion über Africa as a country schon ein Stück weit vorweggenommen.

Mir erscheint, dass wir uns gegenwärtig in einer beschleunigten Regression bewegen und schon die Idee einer Ästhetik der Vielfalt unter „Wokenes“-Verdacht steht. Das sage ich ganz bewusst in Anführungsstrichen, weil wir glaube ich beide einen positiven Wokenes-Begriff haben. Doch was bedeutet das für strategische Beratung an einem Haus wie dem Gropius-Bau in Berlin, an dem du tätig bist? Wird die Luft nicht nur finanziell, sondern auch ästhetisch-künstlerisch dünner?

Julia Grosse: Ich bin normativ hoffnungsvoll. Vermutlich auch aufgrund dieser strukturellen Arbeit, die wir seit vielen Jahren machen und die auch in meine kuratorische Praxis hineinragt. Von daher prägt mich eine „Weitermachen“-Logik eher, als mich davon abschrecken zu lassen.
Obwohl das Tempo der Regression in den USA erschreckend ist. Insbesondere auch der vorauseilende Gehorsam bei Institutionen, die innerhalb von Wochen ihre ganzen Diversitätsprogramme einstampfen. Das ist gruselig und ich kann zumindest festhalten: an dem Punkt sind wir jetzt hier noch nicht.
Gleichzeitig stelle ich auch in Berlin fest, dass zum Teil – ob bewusst oder unbewusst, gewollt oder rein zufällig – auch progressive Diversitätsformate kurz vor der Abwicklung standen bzw. stehen.
Deshalb muss man jetzt gerade dafür sorgen, dass diese Diskursräume und auch diese Diversitätsräume nicht kleiner werden oder verschwinden.

Das ist einfacher gesagt als getan, doch ich glaube, der erste Schritt besteht schon darin, eine Awareness zu entwickeln, dass diese Räume bedroht sein können.

Hinzu kommt noch, dass wenn ich über Diversität spreche, den Aspekt von Klassenverhältnissen dabei mitdenke. Ich bin überzeugt, dass im Grunde alle diese Minderheitsperspektiven auch von Klassenverhältnissen durchdrungen sind.


BIH: Ich danke dir für diesen Aspekt, der im Podcast KUNST DER FREIHEIT an verschiedenen Stellen eine Rolle spielt. Diese Perspektive einzubringen und zum Gegenstand zu machen, erscheint mir unverzichtbar.
Ich möchte noch einmal auf die Ästhetik der Vielfalt zurückkommen. Als ich in der Sendung vom 02. März 2025 in KUNST DER FREIHEIT mit Prof. Dr. Markus Hilgert über Kulturerbe sprach, thematisierte er, das sich die Verständigung darüber, was als bewahrenswert in unserem Kulturerbe angesehen wird, in einer postmigrantischen Gesellschaft anders ausprägt und vermutlich andere Ergebnisse zeitigen wird, als in einer Gesellschaft nichtmigrantischer Homogenität.

Die Diskussion darüber zu führen, was die unterschiedlichen Gruppen in unserer postmigrantischen Gesellschaft mit dem vielfältigen Kulturerbe verbinden und welche Fehlstellen sie darin identifizieren, in ästhetisch-künstlerischer Form zu führen, erscheint mir ein signifikanter Punkt. Der Gropiusbau scheint mir ein Ort zu sein, der in diesem notwendigen gesellschaftlichen Gespräch ein Player sein will.

Julia Grosse: Absolut. Du hast es bereits angedeutet und ich möchte es etwas zuspitzen: wenn Schulklassen durch Museen geschoben werden, vor allem historische Museen mit einer historischen Sammlung, das den Kindern als „das Kulturerbe“ vermittelt wird, findet ein Ausschluss statt. Denn aus der migrantischen Position stellt sich berechtigt die Frage, wen diese Geschichte tatsächlich repräsentiert. Einmal davon abgesehen, dass wir gerade auch hier häufig auf ein Kulturerbe-Verständnis treffen, dass hinsichtlich der sozialen Unterschiede, der Klassenunterschiede Lücken hat.

Bei uns im Gropius Bau haben wir bekanntlich keine Sammlung, die wir zeigen. Wir sind ein Haus für Kunst. Doch wir haben durch das historische Bauwerk[1] eine eigene Geschichte und verfolgen das Ziel, unter der Leitung von Jenny Schlenska, uns der Publikumsansprache vollkommen bewusst zu sein: wie sprechen wir als Haus mit der (Stadt)gesellschaft? Welche Fragen stellen wir bisher nicht, die aber die Gesellschaft interessieren? Wie sprechen wir diejenigen an, die noch im Gropius Bau waren, die möglicherweise oder vermutlich gar nicht wissen, was in dem Gebäude los ist, das sie nur aus der Außensicht kennen. Diese Ansprache und dieses Dialogische ist für uns das wichtige Thema. Über das Programm kannst du in den Dialog kommen, aber trotzdem erreichst du damit noch nicht alle. Selbst wenn du eine Ausstellung über das Boxen machst, was sehr viele Leute ansprechen würde, musst du dennoch schauen, wie du ins tatsächliche Gespräch mit interessierten Menschen und Nicht-Besucher:innen kommst.

Ich erzähle dir in dem Zusammenhang eine Anekdote. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und habe mein erstes Praktikum bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, kurz der WAZ, in Wattenscheid gemacht, einer sehr kleinen Lokalredaktion, drei Zimmer und das war's.
Was ich aber so nachhaltig gelernt habe in der Zeit, und da bin ich total dankbar bis heute, dass man innerhalb kürzester Zeit mit ganz verschiedenen Leuten in einen Dialog gehen musste. Also der frisch gewählte Karnevalsprinz, der Leiter von einem Kunstraum vor Ort, die Organisatorin der Überraschungsei-Messe in der Stadthalle bis hin zur Freiwilligen Feuerwehr. Ständig komplett andere Menschen und komplett andere Diskurse. Für mich war das ungemein lehrreich für meine spätere Arbeit als Kunstkritikerin.

Jeder hat ja so seine Tricks, und ich befrage mich bis heute stets: wer ist meine Audience? Und ich möchte komplexe Diskurse, so beschreiben, dass meine Kunstgeschichtsprofessorin das genauso versteht, wie meine Tante aus Essen-Kupferdreh, die im Autohaus gearbeitet hat. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir das auch als Gesellschaft können und es keine überzeugenden Argumente für die Haltung gibt: Mit dem oder der kann ich bzw. will ich nicht reden. Wir müssen das tun.

In diesem Sinne der tatsächlichen Verständigung durch Verständlichkeit habe ich am Gropiusbau einen Lektürebeirat gegründet. Das sind Leute, die den Gropius zum Teil noch nie vorher besucht haben – Frauen mit Kindern, zum Teil migrantische Backgrounds, zum Teil nicht, die jetzt immer die zukünftigen Wandtexte der kommenden Ausstellung lesen. Und das ist so großartig. Denn diese Feedbacks sind so wichtig für uns. Die zeigen im Kleinen, was ein Problem ist oder noch ausgehandelt werden muss im Großen.

Wenn die sagen: „okay, was meint ihr mit dem Wort Installation? Meint ihr eine Bühne oder was ist damit gemeint?“ Dann geht es nicht darum, dass jemand bloßgestellt wird in dem Sinne, dass die einen nicht wissen, was mit dem Wort gemeint ist, oder die anderen zu elitär beim Formulieren.

Es zeigt mir aber, auf was für einem hohen Ross wir und auch ich sitzen, wenn man instinktiv denkt „Installation, das weiß man doch, was das bedeutet“. Deshalb ist das für uns so ein total großartiger Schlag ins Gesicht. Erfrischend. Aber es ist auch ein langer Weg.

BIH: Vielen Dank für diese Darstellung. Wir bleiben mal beim Gropius Bau, denn im vergangenen Jahr war im sogenannten Gropiushain, das ist das Umfeld des Gropius Bau, einen Kunstparcours aufgebaut. Dem zugrunde lag das berühmte Zitat der Architektin Lina Bo Bardi, nachdem jedes Museum einen Spielplatz verdiene. Als Vater von drei Söhnen kann ich bestätigen, dass die Leidenschaft meiner Kinder für Kunstmuseen deutlich ausgeprägter gewesen wäre, hätte es mehr Spielplätze mit Museen gegeben. Euer Kunstparcours damals war eine Mischung aus Skulpturenpark, Abenteuerspielplatz, Museumserweiterung und so etwas wie ein temporärer Jahrmarkt.
Inzwischen lädt das BAUBAU, gestaltet von der Künstlerin Kerstin Brätsch, dazu ein, kostenlos das Erdgeschoss des Ausstellungshauses als Spielort zu nutzen. Wie viel Spielplatz braucht ein Kunstmuseum aus deiner Perspektive?

Julia Grosse: Ich habe auch Kinder und ich kann das genauso bestätigen. Mein kleineres Kind war im BAUBAU und konnotiert den Gropiusbau allein auch deswegen positiv, genau wie du sagst, weil es halt die Erinnerung hat, ach das war ein super Ort, das ist ein Ort, der irgendwie Sinn für mich macht. Das hat Einfluss.

Du hast Lina Bo Bardi zitiert. Denn ein anderer Pionier, auch für viele Museumsmacherinnen, die mit diesem Spielgedanken spielen, ist Palle Nielsen. Das war ein Aktivist, der in den späten 1960er Jahren das Moderna Museet in Stockholm überzeugen konnte, für einen Monat das komplette Museum leer zu räumen und in einen riesigen Spielplatz zu verwandeln. Das war eine der erfolgreichsten „Ausstellungen“ ever in diesem Museum. Es gibt großartige Fotos von so unzähligen Kindern, die von Gerüsten in ein Meer aus Schaumstoff springen. Einfach großartig.
Mir zeigt dies, dass Kunst in der Lage ist, Phänomene unserer Gesellschaft greifbar oder erfahrbar zu machen, und das Spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle hat. Spielen ist eine höchstkomplexe Tätigkeit, die spielerisch und zugleich ernsthaft ist. Spielen ist auch für uns Erwachsene ein wichtiges Format, über das wir Gesellschaft verstehen und spüren und bei dem wir lebenslang lernen, wie wir miteinander klarkommen.

Dieser Spielraum BAUBAU hat wiederum Einfluss auf die Architektur des Gropius Bau. Man sieht auf einmal Kinder in Socken in einem Museum herumlaufen. Das gab es vorher im Gropius Bau nicht.

Es gab eine andere unheimlich tolle Situation bei uns im Haus. Im Lichthof, der ist direkt vor dem BAUBAU standen als Teil einer Ausstellung sechs Profi-Tischtennisplatten, eine künstlerische Arbeit von Rirkrit Tiravanija. Da konnte man einfach Tischtennis spielen. Man konnte sich die aneignen. Innerhalb von wenigen Wochen hatte sich das in einer bestimmten Tischtennis-begeisterten Szene herumgesprochen und die Amateur-Ping-Pong-Tischtennisszene aus Berlin hatte diese Platten in Beschlag genommen. Die waren da jeden Tag, die haben da gespielt. Und wenn man dann zum Beispiel selber mit seinem Kind mal spielen wollte, musste man sich fast streiten, um einen Platz an diesen Platten zu ergattern. In unserem kostenfrei begehbaren Lichthof war die Kunst also so aneignungsfähig, wie wir das vorhin bei der Kunst im öffentlichen Raum besprochen hatten. Und es kamen Menschen in unsere Kunsthalle, die wir sonst nicht erreicht hätten, die noch nie die Treppen hinaufgestiegen und durch die Eingangshalle getreten waren.
Da spielte dann der Lieferando-Typ, der seinen Rucksack mit den Transportboxen – direkt von der Schicht kommend – in der Ecke abgestellt hatte, mit seinem Kumpel. Daneben die Rentnerin mit ihrem Enkel, und daneben hattest du die Kunststudentin. Eine Gleichzeitigkeit von Leuten, die eigentlich sonst so nicht zusammenkommen. Die zusammen Tischtennis spielten, aber eben auch Sachen verhandeln mussten – wer darf wann spielen, als ein Beispiel. Da wurde herumgeschrien, da wurde aber auch gejubelt, da wurde geschwitzt, da wurde gelabert. Für mich war das die praktische, reale Öffnung von Museen, von öffentlichen Kunsträumen, von denen wir immer reden.
Übrigens keineswegs harmonisch und da lagen sich auch nicht alle klassenübergreifend in den Armen. Es war zunächst nicht mehr und nicht weniger als gelebte Gleichzeitigkeit. Deswegen bin ich jedoch so optimistisch, dass das möglich ist und nicht nur ein Schlagwort in der Agenda bleibt.

BIH: Mir gefällt das, was du beschreibst, unter verschiedener Perspektive. Zum einen, weil es eine praktische Übersetzung des Schlagwortes der Niedrigschwelligkeit beim Zugang zu Kunsteinrichtungen ist. Gleichzeitig befinden sich die meisten Museen nicht dort, wo die prekarisierte Klasse sich aufhält, sondern sie sind im Zentrum der Stadt. Das Zentrum in der segregierten Stadt wird inzwischen aber von reichen Leuten bewohnt oder lädt nur diejenigen zum Verweilen ein, die auch konsumieren können und wollen. Die Segregation führt dazu, dass die soziale Mischung abhanden gekommen ist. Natürliche Orte der schichtenübergreifenden Begegnung, wie Schwimmbäder, die Kneipe u.ä. werden weniger. Solche Orte sind aber nicht weniger als demokratische Infrastruktur. In der Sendung vom 23. März 2025 sprach ich hier in KUNST DER FREIHEIT darüber mit dem Buchautor Dr. Rainhald Manthe.

Du beschreibst in deinen Beispielen das öffentlich finanzierte Museum oder die öffentlich finanzierte Kunsthalle als einen Aufenthaltsort, eine Halle, in der man sich begegnet, in der es Anlässe für soziale Begegnungen gibt, die über die Kunst hinausgehen. Das finde ich sehr spannend. Und es führt uns zu dem, was du strukturelles Kuratieren nennst. Dieses strukturelle Kuratieren verstehe ich so, dass es nicht um die Inhalte einer Ausstellung oder eines Events im engeren Sinne geht, sondern um die Institution als Ganzes. Du sprichst von den „disziplinierenden Elementen von Architektur, von unsichtbaren Elementen wie Governance und Arbeitsbedingungen, der Sammlungsstrategie“.


Julia Grosse: Exakt darum geht es mir beim strukturellen Kuratieren, das selbstverständlich nicht komplett vom Inhalt gelöst werden kann. Es gibt strukturelle Entscheidungen für eine Ausstellung, zum Beispiel zu Themen wie Kampfkunst. Man weiß, dass man damit sehr viele Menschen anspricht. Denn es ist ein Phänomen, das viele Menschen berührt oder beschäftigt, weil sie selber boxen oder kickboxen.

Entstanden sind meine Überlegungen zum strukturellen Kuratieren, weil ich mich immer wieder dabei erwische, nach den Bereichen und Elementen, den Ecken zu suchen, die innerhalb eines Museums übersehen werden, weil sie nicht für die klassische Ausstellung genutzt werden oder als relevant erscheinen. Nehmen wir zum Beispiel die Säulengänge, an denen am Wochenende regelmäßig frisch Verheiratete, die Frauen oft in ihren krassen Brautkleidern, posieren. Solche quasi anderen, erweiterten Nutzungen faszinieren mich. Insofern kuratiere ich das gesamte Ausstellungsgebäude und nicht eine Ausstellung allein. Ich kuratiere die gegebenen Strukturen und kam so auf den Begriff.

Ich nenne dir noch ein Beispiel. Wir bleiben bei unserem pompösen Haupteingang mit den Säulen und dem Grossen Treppenaufgang. Der natürlich nicht barrierefrei ist. Deshalb gibt es weiter unten einen sehr, sehr kleinen, fast unsichtbaren barrierefreien Seiteneingang. Wenn man dort mit dem Rollstuhl oder auch mit dem Kinderwagen hinein möchte, klingelt und dann wird vom Pförtner die Tür geöffnet. Aber der Unterschied zwischen unserem repräsentativen Haupteingang und diesem Seiteneingang ist riesig. Wenn man über die Seite hineingeht und die Rampe hinabrollt, hat man nicht mehr das Gefühl, in einem Gebäude angelehnt an die italienische Renaissance zu sein, sondern in einer trüben Stadtverwaltung. Da ist kein: Willkommen, hier fängt die Kunst an! Und es ist ein ziemlich langer Weg, bis man dann mal oben ist, wo die anderen nach wenigen Schritten angekommen sind. Diesen Widerspruch wollte ich auflösen, dafür Sorge tragen, dass auch am Seiteneingang alle das Gefühl erhalten, sie sind willkommen im Haus für Kunst.
Also haben wir damit begonnen, Soundarbeiten von Künstler:innen zu installieren. Das war dann das erste Mal, dass an diesem Ort Kunst stattfand. Man geht rein und es war eine Arbeit zu hören. Das kam sehr gut an. Aktuell läuft hier z.B. eine Soundarbeit von Yoko Ono als Teil ihrer großen Ausstellung. Selbst, wenn man die Ausstellung nicht besucht, sollen alle, die diesen Seiteneingang nutzen, einen Teil dieser Ausstellung und der Kunst im Haus erleben können. Das sind einfache Aktivierungen und Interventionen von übersehenen Räumen.

Noch ein Beispiel: Es gibt im Gropius abends immer ein Gong. Das klassische „Ding Dong“ mit der Ansage: „Guten Abend, der Gropius Bau schließt …“. Da hat sich noch keiner Gedanken darüber gemacht. Das läuft einfach, alle sind davon genervt oder man hört gar nicht mehr hin. Wir haben dann eine Künstlerin beauftragt, den Gong neu zu interpretieren. Nun gibt es diesen Gong nicht mehr, sondern ganz viele Kinder lachen durcheinander und das ist großartig. Nach dem wilden Kinderlachen spricht die Künstlerin in vielen verschiedenen Sprachen zwar genau das gleiche „Guten Abend, der Gropius-Bau schließt…“, aber es ist halt ein ganz anderer Sound. Viel wärmer, denn es vermittelt die Aussage: Vielen Dank, dass ihr da wart, wir wissen das zu schätzen.

Was ich damit deutlich machen möchte ist, dass es sich dabei um Mini-Eingriffe handelt. Es ist gar nicht notwendig – und das ist meine Taktik – alles neu zu denken und das mit einer riesigen, lauten Geste zu tun. Ich glaube, man ist erfolgreicher, wenn man ganz viele kleine Aktionen/Aktivierungen setzt. Viele, kleine Aktionen, die in ihrer Menge eine bestehende Struktur mehr und mehr poröser werden lassen und öffnen. Das ist meine Strategie.

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Hier geht's zur Folge Jenseits des White Cube: Kunst für alle? meines Podcasts Kunst der Freiheit vom 09. März 2025, in dem das Gespräch mit Julia Grosse nachgehört werden kann.

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Zur Person:

Julia Grosse studierte Kunstgeschichte, deutsche Literatur und Medienwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Anschließend arbeitet sie als Kolumnistin und Kunstkorrespondentin in London für verschiedene Grosse deutsche Zeitungen.

Im Hoffmann & Campe-Verlag erschien ihr Buch „Ein Leben lang“. Darin thematisiert sie die lange Liebe ihrer Großeltern.

Sie ist Mitgründerin der Plattform Contemporary and (C&) und Dozentin am Institut für Kunst im Kontext der Berliner Universität der Künste. Dem Hochschulrat der Akademie der Bildenden Künste München gehört sie an und sitzt darüber hinaus in vielen Jurys und Beiräten.

Julia Grosse kuratierte Ausstellungen und Festivals. Am Berliner Gropius Bau ist sie seit 2024 in der Rolle der strategischen sowie konzeptionellen Beratung und Entwicklung tätig.

Kurzum, sie ist enorm vielfältig produktiv und wurde 2020 zusammen mit Yvette Mutumba, mit der sie gemeinsam die Plattform »Contemporary And« gründete, mit dem Preis European Cultural Manager of the Year ausgezeichnet.
 

 

[1] Errichtet wurde der Bau 1877–1881 nach Plänen und unter Leitung der Architekten Martin Gropius – einem  Großonkel des Bauhaus-Gründers Walter Gropius im Stil der italienischen Renaissance.