07.07.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Gesellschaft

"Bildungskriminelle" - wie BILD Stimmung macht und was dabei kaputt geht

BILD macht Stimmung wie Trump und dessen MAGA-Apologeten

„Nur Bildungskriminelle sind gegen den Prien-Vorschlag“ – mit dieser Aussage kriminalisiert BILD-Chefredakteurin Marion Horn pauschal all jene, die den Vorschlag von Bundesbildungsministerin Karin Prien ablehnen, eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund in Grundschulklassen einzuführen. Damit verlässt sie den Boden demokratischer Auseinandersetzung. Wer andere Positionen als „kriminell“ bezeichnet, entzieht ihnen ihre Legitimität. In dieser Logik stehen nicht mehr Argumente gegeneinander, sondern Schuldurteile. Das ist nicht zugespitzter Journalismus, sondern autoritäres Denken.

Horn schreibt damit eine Form der Kommunikation fort, in der politische Differenz nicht als Ausdruck demokratischer Pluralität verstanden wird, sondern als Gefahr. In einer solchen Erzählweise ist Widerspruch kein Beitrag zur Klärung, sondern ein Delikt. Wer abweichende Positionen in dieser Weise delegitimiert, entzieht ihnen gleichsam das Recht, gehört zu werden – eine Haltung, die sich mit demokratischer Streitkultur nicht vereinbaren lässt und der Sache selbst schadet. Denn Karin Prien, deren Vorschlag hier zum Gegenstand gemacht wird, erklärt selbst, sie wünsche sich eine offene Debatte – nicht eine moralisch aufgeladene Konformität.

Ein Blick auf die politische Entwicklung in den USA zeigt, wohin es führt, wenn öffentliche Debatten systematisch entgrenzt werden. Donald Trump hat über Jahre hinweg seine politischen Gegner:innen nicht nur kritisiert, sondern kriminalisiert: Er sprach von „Verrätern“, „Kriminellen“, „Feinden des Volkes“, erklärte Medien zur „Lügenpresse“ und rief regelmäßig dazu auf, politische Widersacher „wegzusperren“. Damit verschob er den politischen Diskursrahmen von der Auseinandersetzung um Positionen hin zur moralischen Verurteilung von Personen.

Diese Rhetorik hat nicht nur das politische Klima vergiftet, sondern auch konkrete Folgen gezeitigt: Eine kompromissfähige, parteiübergreifende Zusammenarbeit wurde nahezu unmöglich. Die politische Gegenseite erschien nicht mehr als legitimer Partner in der Aushandlung gesellschaftlicher Lösungen, sondern als illegitime Bedrohung, der man Widerstand leisten müsse. Aus demokratischer Streitkultur wurde ein binäres Freund-Feind-Schema.

Das Gegenteil dessen, was demokratische Debatte leisten soll, tritt ein: Es geht nicht mehr darum, durch Auseinandersetzung klüger zu werden, Komplexität auszuhalten, Widersprüche zu verhandeln – sondern um Mobilisierung durch Polarisierung. Je schärfer der Ton, desto höher der Applaus der eigenen Anhängerschaft. Differenzierung gilt als Verrat, Kompromiss als Schwäche, gemeinsame Lösungssuche als unerwünschte Annäherung.

Diese Dynamik ist nicht auf die USA beschränkt. Auch in Deutschland wirkt sie – wenn etwa Medien Sprache der Kriminalisierung aufgreifen, wenn politische Vorschläge nicht mehr kritisch geprüft, sondern ihre Gegner:innen moralisch aussortiert werden. Demokratie aber braucht das Gegenteil: Streitfähigkeit, Komplexitätstoleranz und die Bereitschaft, gemeinsam an tragfähigen Lösungen zu arbeiten.

Die Lage an vielen Schulen ist tatsächlich schwierig – doch die Antwort kann nicht Aussonderung heißen

Niemand bestreitet: An vielen Schulen herrschen heute schwierige Bedingungen. Lehrkräftemangel, übervolle Klassen, Sprachbarrieren, sozialräumliche Segregation, fehlende Unterstützung für Kinder mit besonderem Förderbedarf – all das prägt den Alltag in vielen Grundschulen, vor allem in urbanen Ballungsräumen.

Doch die Ursache dieser Situation liegt nicht bei den Kindern – und erst recht nicht bei deren Herkunft. Sondern in der systematischen Vernachlässigung öffentlicher Bildungsinfrastruktur über Jahre hinweg.

Statt dringend nötige Investitionen zu ermöglichen, haben Schuldenbremse und Haushaltsdogmen wie die „schwarze Null“ viele Kommunen und Länder in einen Zustand permanenter Unterausstattung gezwungen. Zugleich fließen jährlich Milliarden in teure, wenig zielgerichtete Projekte wie die Mütterrente, das Baukindergeld oder andere symbolische Umverteilungsvorhaben, die wenig mit Zukunftsvorsorge und viel mit Klientelpolitik zu tun haben.

Und selbst wenn Mittel bereitgestellt werden – wie zuletzt über Sonderprogramme oder den Digitalpakt – scheitert ihre Umsetzung oft an einer überkomplexen, föderal zersplitterten Verwaltungsstruktur. Investitionen, die angekündigt werden, erreichen die Schule vor Ort mit jahrelanger Verzögerung – wenn überhaupt.

In dieser Gemengelage ist der Vorschlag einer „Verträglichkeitsgrenze“ für Kinder mit Migrationshintergrund als Umgehung der eigentlichen Frage: Wie muss das Bildungssystem gestaltet sein, um allen Kindern unabhängig von Herkunft, Sprache und sozialem Status gleiche Chancen zu eröffnen? Der Verweis auf eine maximale Quote von 30 oder 40 Prozent suggeriert, dass jenseits dieser Schwelle Bildung nicht mehr möglich ist. Doch das Problem liegt nicht im Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, sondern in der ungleichen Verteilung von Ressourcen und in der fehlenden Bereitschaft, auf die Realität eines Einwanderungslandes strukturell zu reagieren.

Hinzu kommt, dass etwa die Hälfte aller Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Ihre Kinder sind Deutsche – keine Sonderkategorie, die man rechnerisch „deckeln“ kann. Der Begriff „Verträglichkeitsgrenze“ entzieht diesen Kindern faktisch ihren gleichberechtigten Platz im System. Bildungspolitik wird so zu einem Ordnungsprojekt, in dem nicht Integration organisiert, sondern Abweichung verwaltet wird.

Die Erzählung, Schulklassen würden „kippen“, wenn der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund eine bestimmte Schwelle überschreitet, bedient alte Stereotype – von Überfremdung, Leistungsabfall, kultureller Überforderung. Doch sie ist empirisch nicht belegt. Sie verschiebt die Verantwortung von politischen Rahmenbedingungen auf die betroffenen Kinder selbst – und bedient damit eine Erzählung, die nicht auf Lösung, sondern auf Abgrenzung zielt.

Was sich verändert, wenn viele Kinder mit Sprachförderbedarf in einer Klasse sind, ist die Anforderung an pädagogische Konzepte – nicht die prinzipielle Möglichkeit, gute Bildung zu organisieren.

Dabei ist längst klar, was hilft: Sprachförderung muss früh beginnen, strukturell verankert und dauerhaft finanziert werden. Schulen in sozial herausgeforderten Lagen benötigen kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams und niedrigschwellige Elternarbeit. Digitale Lerninstrumente können individuell unterstützen, sofern sie pädagogisch eingebettet sind. Vor allem aber braucht es eine bildungspolitische Prioritätensetzung, die sich an den realen Bedarfen orientiert – nicht an politischen Symbolkonflikten.

Bildungspolitik in Deutschland ist seit Jahrzehnten geprägt von ideologischen Frontstellungen: Gesamtschule oder Gymnasium, längeres gemeinsames Lernen oder frühe Selektion, Leistung oder Gerechtigkeit. Dabei gerät aus dem Blick, dass strukturelle Fragen – etwa die Finanzierung, die räumliche Ausstattung, die Fachkräfteentwicklung, der Umgang mit Heterogenität – quer zu diesen Lagern liegen. Solange Bildungspolitik vor allem als – um Ausnahmsweise den inflationär überstrapazierten Begriff zu verwenden – „kulturkämpferisches“ Terrain betrachtet wird, bleibt der Raum für pragmatische Lösungen eng. Vorschläge, ob nun hilfreich oder nicht, werden dann nicht im Licht ihrer Umsetzbarkeit oder Wirkung geprüft, sondern dienen als Marker für Zugehörigkeit – zur einen oder zur anderen Seite.

Der Zugang zu Bildung ist weiterhin eine Frage der Herkunft. Bildungsgerechtigkeit gibt es nur, wenn die Voraussetzungen für Gerechtigkeit hergestellt werden. Lange galt deshalb Chancengleichheit als zentraler normativer Bezugspunkt für Bildungsgerechtigkeit – insbesondere im sozialliberalen Reformdiskurs der 1960er und 1970er Jahre. Ein Kind aus einer einkommensarmen Familie mit unsicherem Aufenthaltsstatus und beengten Wohnverhältnissen kann die „gleiche Chance“ aber objektiv nicht nutzen wie ein Kind aus einem akademischen Haushalt mit kulturellem Kapital, Unterstützung durch Nachhilfe, Sprachkompetenz und stabiler Wohnsituation. Die Corona-Pandemie hat dies wirksam vor Augen geführt.

Da Chancengleichheit nur darauf abzielt, dass alle die gleiche Startlinie erreichen sollen – nicht aber, dass sie gleiche Lebensverhältnisse oder gleichwertige Ergebnisse erzielen wird Ungleichheit legitimiert, solange sie „verdient“ erscheint: Wer die Chance nicht nutzt, trägt selbst die Verantwortung für das Scheitern. Dadurch geraten strukturelle Ursachen – wie Klassenverhältnisse, Diskriminierung, rassistische Ausschlüsse, Bildungsfinanzierung – aus dem Blick.

Wer Kinder zu Problemträgern erklärt, verschiebt die Verantwortung – und entzieht sich der politischen Aufgabe, für gleichwertige Bedingungen zu sorgen. Wenn politische und mediale Akteure stattdessen auf Ausgrenzung setzen und Gegner:innen kriminalisieren, führen sie nicht etwa einen Bildungsdiskurs – sie entziehen sich ihm.

Der Satz „Nur Bildungskriminelle sind gegen den Prien-Vorschlag“ plädiert für eine Verurteilung anderer Meinung, die jede Verständigung verhindert. Karin Prien wird damit ein Bärendienst erwiesen und die aufklärerische Kritik an ihrem Vorschlag delegitimiert. Das macht nicht nur demokratische Politik kaputt, sondern auch die Gemeinschaftsaufgabe gute Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, die egal in welchem Status und welcher sozialen Lage in unserem Land leben.