05.07.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Die alte Tante SPD auf dünnem Eis

In der umfangreichen Bibliothek der deutschen Sozialdemokratie wuchs über das vergangene Vierteljahrhundert eine Abteilung, die ausschließlich mit Werken zur Krisendiagnostik der SPD gefüllt ist. Gerd Mielke und Fedor Ruhose (nach einer Namensänderung: Fedor Rose und im Weiteren hier so bezeichnet), fügten ihr jüngst das beim Campus Verlag erschienene Buch »Auf dünnem Eis. Die SPD in Krisenzeiten« hinzu.

Die beiden Autoren sind seit Jahren in einer produktiven Publikationsgemeinschaft vereint. Gerd Mielke ist Politikprofessor an der Universität Mainz und war zuvor unter den SPD-Ministerpräsidenten Rudolf Scharping und Kurt Beck Abteilungsleiter aber auch Grundsatzreferatsleiter in der Staatskanzlei. Fedor Rose ist langjähriger Wegbegleiter des amtierenden SPD-Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer und dessen Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei. Jüngst wurde er in die Grundwertekommission der SPD berufen und wirkt im Think Tank »Progressives Zentrum« mit.

Wie andere länger geplante Publikations- oder politische Vorhaben, wurde auch Auf dünnem Eis vom Bruch der Ampelregierung und den vorgezogenen Neuwahlen überrascht. In Teilen auch überholt, weshalb das Buch bereits zum Zeitpunkt seines Erscheinens den Charakter einer nach vorn gerichteten Politikberatung einbüßte und zur historischen Abhandlung aus dem Spätherbst der Ampel mutierte. Da die Autoren weder den Ampelbruch antizipieren konnten, noch das erstaunliche Comeback der Linkspartei, bei gleichzeitig gebremsten Aufstieg des Bündnis Sahra Wagenknecht und ebenso wenig die im schwarz-roten Koalitionsvertrag vereinbarte Reform der Schuldenbremse, inklusive bereits vollzogener Grundgesetzänderungen, sind einige ihrer Diagnosen und Empfehlungen bereits aus der Zeit gefallen.

Das ändert jedoch nichts daran, dass Mielke/Rose für diejenigen Leser:innen, die nicht allein tagespolitische Analysen suchen, sondern längere Entwicklungslinien der ältesten Partei in Deutschland verstehen wollen, interessanten Stoff zur Verfügung stellen.

Dritter Weg als fataler Irrweg

In Übereinstimmung mit dem wohl überwiegenden Teil der Krisendiagnosen gehen auch Mielke/Rose davon aus, dass die anhaltende Erosion der SPD kein singuläres deutsches Phänomen ist, sondern Ausdruck einer tieferliegenden Erosion sozialdemokratischer Parteien in nahezu allen westlichen Demokratien. Sie referieren ausführlich eigene Forschung und politische Publizistik, die diese Entwicklung wesentlich mit dem sogenannten Dritten Weg verknüpft. Jener politisch-strategischen Neuausrichtung, wie sie insbesondere in den 1990er Jahren unter Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland vollzogen wurde. Der britische Soziologe Anthony Giddens, einer der ideologischen Vordenker dieser Linie, propagierte eine moderne Form der Sozialdemokratie, die auf marktwirtschaftliche Effizienz und individuelle Eigenverantwortung setzte, ohne den Anspruch auf sozialen Ausgleich gänzlich aufzugeben. Mielke/Rose erinnern aber auch an die häufig vergessenen Beiträge von Ulrich Beck.

Was als pragmatischer Versuch erschien, sozialdemokratische Politik an die Bedingungen der Globalisierung und der neoliberalen Hegemonie anzupassen, entwickelte sich zu einer strategischen Sackgasse. Der Bruch mit traditionellen Prinzipien – insbesondere der konsequenten Umverteilung und einer solidarisch organisierten Arbeitswelt – hatte einen tiefgreifenden Entfremdungsprozess zwischen Partei und klassischen Wähler:innenmilieus – Arbeiter:innen, Gewerkschafter:innen, einkommensschwache Schichten.

Die Politikwissenschaft hat diesen Prozess in zahlreichen Studien, auch unter Mitarbeit von Mielke/Rose aufgearbeitet. Keine Berücksichtigung finden bei Mielke/Rose die Analysen von Colin Crouch, der mit seinem Begriff der Postdemokratie eine folgenreiche Interpretation vorlegte, wonach die Sozialdemokratie durch ihre Anpassung an marktliberale Paradigmen selbst zur Entpolitisierung beitrug. Benannt wird Nancy Fraser, die den progressiven Neoliberalismus – also die Verbindung von wirtschaftlicher Liberalisierung mit kulturellem Fortschrittspathos – als dominantes, aber tief widersprüchliches Erbe dieser Phase kennzeichnete, in dessen Folge ein wachsendes politisches Vakuum, das autoritäre und rechtspopulistische Bewegungen zunehmend zu füllen wussten.

Weil nach Überzeugung von Mielke/Rose die sozialdemokratische Idee selbst durch diese Entwicklungen nicht obsolet wurde – wohl aber ihre instrumentelle Umsetzung unter den Vorzeichen des Dritten Weges, plädieren die Autoren für eine sozialdemokratische Politik der Hüterin dekommodifizierter Lebensbereiche: „Eine neue politische Erzählung für die SPD, eine Bereitschaft der Wählerschaft ihr als Partei wieder zu folgen, setzt damit die Wiederaufnahme alter Erzählmuster voraus. Das Neue muss an Bewährtes und Vertrautes anknüpfen.“ (S. 199)

Das ist leichter gesagt als getan, wie die Autoren, die mit der von Olaf Scholz geführten »funktionalen Regierungspartei« an vielen Stellen hart ins Gericht gehen, konstatieren: Da die SPD in der für sie selbst „zunehmend gefährlichen Bürgergeld-Debatte des Jahres 2024 selbst die Argumente der Gegenseite aufnimmt und statt eines eigenen Narrativs ebenfalls die Sanktionsdebatte aufnimmt, nimmt sie sich auch die Möglichkeit, entlang des sozialen Grundkonsenses [in der Gesellschaft – BIHoff] Solidarität und Respekt zur erzeugen. […] Anstatt kraftvoll zu argumentieren, stärkt die SPD von sich aus die Mechanismen der demobilisierten Klassengesellschaft, in der gesellschaftliche Konflikte vor allem innerhalb der schwächsten Gruppen gegenseitig ausgetragen werden. Deswegen ist in der Partei wieder eine Rat- und Sprachlosigkeit entstanden […].“ (S. 200)

Diese ungeschminkte Analyse, die sich umstandslos auf weitere Fallbeispiele ausweiten ließe und keineswegs ein randständiges Dasein in der SPD fristet, führt zwangsläufig zur Ursachenbetrachtung. Mielke/Rose konstatieren, dass „in der SPD der Ampel-Zeit […] kaum von einem innerparteilichen Strategie- und Programmpluralismus gesprochen werden [konnte].“ (S. 20)

Faktionen – aber welche und was folgt daraus?

Ausgehend von der Feststellung, dass Parteien „selten monolithische Blöcke, sondern geprägt sind durch ein multidimensionales Binnenleben“ (S. 20), doch die ehemals starken Parteiflügel zwar formal weiterbestehen, aber inhaltlich und organisatorisch erlahmt sind, nehmen Mielke/Rose jene Gruppierungen in den Blick, die sie als »Faktionen« kennzeichnen: „Gruppierungen, die sich durch spezifische Interessen und Einflussmöglichkeiten unterscheiden“ (ebd.). Obwohl Olaf Scholz seinerzeit bei der Urwahl um den Parteivorsitz mit seiner Teampartnerin Klara Geywitz gegen Walter Borjans und Saskia Esken unterlegen war, beherrschte er infolge seiner erfolgreichen Nominierung als Kanzlerkandidat und den überraschenden Wahlsieg 2021 „ohne ein offizielles Partei-Mandat alle in Frage kommenden SPD-Positionen und bestimmt[e] über die Ämtervergabe“. (ebd.) Diese Beschreibung ist nachvollziehbar.

Bedauerlicherweise verzichten Mielke/Rose in der weiteren Darstellung ihres Buches auf eine neue politische Geographie der SPD-Faktionen. Das wäre tatsächlich spannend gewesen. Sowohl um zur Ursachenforschung der spezifischen Gründe für das Auseinanderklaffen zwischen regionaler Mehrheitsfähigkeit der SPD z.B. im Saarland oder Bremen und Hamburg und ihrer Erosion auf Bundesebene oder in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen beizutragen. Als auch für die von den Autoren angestrebte „Doppelstrategie als funktionale Regierungspartei und gleichzeitige Partei, die an alte Erfolge anschließen möchte“ (S. 199). Dass den Autoren für die Zukunftsbeschreibung der Sozialdemokratie jenseits der funktionalen Regierungspartei keine Begrifflichkeit als der Anschluss an frühere Erfolge einfällt, scheint unter diesem Gesichtspunkt kein Zufall. Denn zwar werden der Scholz-Flügels als ideeller Gesamterbe des Schröder-Kurses stilisiert und finden einzelne Personen wie Kevin Kühnert oder Matthias Miersch als Vertreter:innen der Parteilinken Erwähnung, doch entsteht auf den 243 Seiten des Buches weder eine Klarheit über die realexistierenden Faktionen und ihrer jeweiligen Interessen- und Einflussmöglichkeiten in der SPD, noch darüber, wie das Zurück in die Zukunft tatsächlich umgesetzt werden soll.

Schluss mit Volkspartei oder besser populare Volkspartei?

Auf dem Weg dorthin empfehlen Mielke/Rose der SPD, sich vom Anspruch, Volkspartei zu sein, zu verabschieden. Auch wenn die Parteienforschung die Volkspartei-Beschreibung nicht allein quantitativ, sondern auch qualitativ untersetzte, halten Mielke/Rose fest, dass eine Partei, die zwar in allen Alters- und Berufsgruppen weitgehend gleichmäßig repräsentiert, sich aber von elektoraler Verankerung um wenigstens 30 Prozent immer weiter entfernt, den Anspruch Volkspartei zu sein, verwirkt. Sie referieren dazu kundig und kompakt die entsprechenden Erkenntnisse und diskutieren kritisch die These der Kartellparteien und was sich dennoch – jenseits des oft populistisch instrumentalisierten Kartellpartei-Stigmas – aus ihr ziehen lässt. Darüber hinaus skizzieren sie zumindest in Umrissen die Konsequenzen für eine stärkere gesellschaftliche Verankerung der SPD.

Erstaunlicherweise bleiben auch hier die Schlussfolgerungen eher farblos. Dabei hätte gerade die rheinland-pfälzische funktionale Regierungs-SPD Anknüpfungspunkte für eine über inzwischen jahrzehntelang verfolgte Strategie der Verankerung in den gesellschaftlichen Strukturen geboten. Ebenso hätten Mielke/Rose im Anschluss an die bis heute beachtliche Rede des damaligen SPD-Vorsitzenden, Siegmar Gabriel, auf dem Leipziger Parteitag 2009 deutlich machen können, wie eine Wiederherstellung des sozialen Kapitals im Anschluss an z.B. Michael Vester, aussehen könnte.

Michael Vester und dessen Hannoveraner Forschungszusammenhang griff dabei auf das soziologische Konzept von sozialem Kapital zurück, wie es u. a. von Pierre Bourdieu oder Robert Putnam formuliert worden war – als Summe der sozialen Beziehungen, Netzwerke und Vertrauensverhältnisse, auf die Individuen und Gruppen zurückgreifen können, um Interessen durchzusetzen oder Identität zu stiften.

Die Krise der SPD wird darin als Folge eines langfristigen Verlusts jener dichten Netzwerke, alltäglichen Beziehungen und kulturellen Bindungen gesehen, die die Partei einst mit der Arbeiterschaft, den Gewerkschaften und anderen Milieus verbanden. Durch Individualisierung, Entindustrialisierung und den Rückzug aus strukturell benachteiligten Räumen habe die SPD diese Verankerung aufgegeben, ohne tragfähige neue Bindungen aufzubauen. Nötig sei deshalb die strategische Rückwendung zu konkreter sozialer Präsenz: politische Arbeit im Alltag, nicht nur im Wahlkampf – ansprechbar, sichtbar, verbindlich.

Einen solchen Weg beschreitet Die Linke bereits seit 2017. Im damaligen Bundestagswahlkampf wurden Gespräche an ca. 10.000 Haustüren geführt, der strukturierte Erfahrungsaustausch mit der linken US-amerikanischen Working Families Party vorgenommen und Modellprojekte zur Erprobung von Organizing Methoden gestartet. Bereits vier Jahre später erreichte Die Linke bei der Bundestagswahl 2021 etwas mehr als 220.000 Haustüren – und war infolge der strategischen Sackgasse im Dauerkonflikt mit Sahra Wagenknecht dennoch auf der schiefen Ebene. Erst infolge der Trennung von Sahra Wagenknecht und in Verbindung mit der enormen Eintrittswelle, die zu einer Verdopplung der Mitgliedszahlen bei der Linkspartei führte, wurden im Winterwahlkampf 2025 Gespräche an 638.000 Haustüren geführt. Durch persönliche Gespräche konnte Die Linke verlorenes Vertrauen zurückgewinnen bzw. erstmals überhaupt für Menschen als Ort des Vertrauens in Frage kommen. Die auf unterschiedlichen Erfahrungen des Organizing, ob im betrieblichen Rahmen oder dem progressiven Community Organizing, gründende Methode ist insoweit nicht allein eine Mobilisierungsstrategie. Sondern eine Ausdrucksform politischer Anerkennung und kollektiver Strategiebildung in den räumlichen oder lebensweltlichen Nachbarschaften. Der Wiederaufbau sozialer Beziehungen wird als Grundlage politischer Repräsentation verstanden, indem Solidarisierungserfahrungen dazu führen, sich gemeinsam aus der Misere herauszuarbeiten, sich selbst zu ermächtigen, Selbstwirksamkeit zu erleben – aber auch die vielen schönen Momente gemeinsam zu teilen, die Solidarisierung hervorbringt und neue Verbindungen schafft.

Ein solches Herangehen als selbstverständliche Basisarbeit progressiver Politik kann mittelfristig eine neue Volkspartei etablieren – nicht im Sinne der klassischen Parteienforschung als Großpartei, sondern als populare Kraft, die ihre Stärke aus sozialer Nähe, örtlicher Präsenz und geteilter Lebensrealität schöpft. Die populare Volkspartei übersetzt individuell empfundene Ohnmacht in gemeinsames Handeln – indem Menschen ihre Probleme nicht mehr als private Schicksale begreifen, sondern als Ausdruck struktureller Ungleichheit. Die populare Volkspartei wird zum politischen Ort, an dem Anerkennung, Beteiligung und Selbstermächtigung zusammenkommen – und damit zur Brücke zwischen Alltag und politischer Veränderung. Sie schafft nach innen Strukturen, Kommunikationsformen und Arbeitsweisen, die an den alltäglichen Lebenswelten der Mitglieder anschließt – ein Parteileben, das vom Gedanken der Gemeindearbeit getragen wird.

Diese auf inzwischen mehrjährigen Erfahrungen in der Linkspartei beruhenden Überlegungen kontrastieren die zutreffende Kritik von Mielke/Rose an den Abschottungs- und Entfremdungstendenzen, die von den Autoren nicht allein auf die SPD, sondern die Parteien insgesamt bezogen wird. Sie fordern zwar notwendige „Veränderungen und Öffnungen“ ein, damit „die SPD über den aktuellen Stand einer funktionalen Regierungspartei hin zu einer brückenschlagenden Partei des sozialen Ausgleichs und des zivilgesellschaftlichen Engagements“ (S. 219) wird – bleiben aber leider auch hier die Antwort schuldig, was dafür zu tun ist.

Der Abteilung Krisendiagnostik in der Bibliothek der Sozialdemokratie ist in diesem Sinne zu wünschen, dass der nächste Neuzugang von Gerd Mielke und Fedor Rose den Titel trägt: »Wie wir die alte Tante SPD vom dünnen Eis auf festen Boden holten«.

 

Gerd Mielke/Fedor Ruhose: Auf dünnem Eis. Die SPD in Krisenzeiten. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2025