Stalin-Renaissance in Putins Russland
Vor etwa einem Monat eröffnete die Moskauer Metro in der Station Taganskaya ein ehemaliges sowjetisches Wandrelief in frisch restaurierter Form. Es trägt den Titel: »Dank des Volkes an den Führer und Feldherrn« und zeigt den Diktator Josef Stalin als zentralen Helden der Nation.
Das Besondere an der Restaurierung und Wiedereröffnung ist, dass dieses Wandrelief im Zuge der Entstalinisierung im Jahre 1965 entfernt wurde. Nun ist es zurück – und das ist keineswegs ein Einzelfall. Im Gegenteil.
Darüber berichtet Dr. Daria Boll-Palievskaya. Sie ist freie Journalistin und schreibt unter anderem für Zeit Online, die Berliner Zeitung und Spektrum der Wissenschaft.
In meinem Podcast KUNST DER FREIHEIT sprach sie über die Stalin-Renaissance als Instrument von Putins Geschichtspolitik.
BIHoff: Allein im Mai dieses Jahres sollen sieben neue Stalin-Statuen in Russland eingeweiht worden sein. Das ist nach Ihren Worten ein Rekord seit den Tagen des Personenkultes zu Stalins Lebzeiten. Welches Interesse hat Putin an dieser Stalin-Renaissance?
Dr. Daria Boll-Palievskaya: Ich glaube, das ist mehr oder weniger offensichtlich. Es geht um eine staatlich gesteuerte Geschichtspolitik, oder sagen wir besser staatlich geförderte Geschichtspolitik. Die Stalin zunehmend als effektiven Anführer und Symbol nationaler Stärke inszeniert. Seine Verbrechen treten dabei eher in den Hintergrund oder werden gar nicht thematisiert.
Das fängt schon bei den neuen Schulgeschichtsbüchern an, die inzwischen landesweit im Unterricht verwendet werden müssen. Dort wird Stalin ganz anders dargestellt als noch vor 15 oder sogar vor 10 Jahren. Damals war der Fokus klar: Stalin war ein Tyrann, ein unfähiger Militärstrategie und das Sinnbild eines verbrecherischen Regimes. Heute werden im Unterschied dazu seine Rolle als entschlossener Verteidiger sowjetischen Interessen, gerade in der Außenpolitik während des Zweiten Weltkrieges in den Vordergrund gestellt.
Was die Errichtung der Stalindenkmäler betrifft, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass das ziemlich subtil abläuft. Die Mehrheit der neuen Stalinstatuen wird auf private Initiative hin errichtet. Das heißt, von Einzelpersonen, lokalen Organisationen oder regionalen Ablegern der kommunistischen Partei, aber auch Unternehmen. Offiziell hat der Staat damit nichts zu tun.
Wobei es immer öfter vorkommt, dass solche Denkmäler mit der Rückendeckung der lokalen Behörden entstehen. In der Stadt Wologda zum Beispiel hat der Gouverneur selbst ein Stalindenkmal in Auftrag gegeben.
BIHoff: Nach dem Tod des Diktators 1953 wurde der Stalin-Kult offiziell geächtet. Sein Terrorregime kostete Millionen Menschen das Leben. Die geschichtspolitisch bewusst inszenierte Stalin-Renaissance heute, die – wie Sie bereits darstellten – schon in der Schule einsetzt, verfehlt ihre Wirkung nicht, wie Sie herausgefunden haben. Sie schreiben, und ich zitiere: „Stalin steht im heutigen Russland vermehrt nicht mehr für Gulag, Schauprozess und Angst, sondern für Ordnung, Stärke und Sieg....“
Dr. Daria Boll-Palievskaya: Das lässt sich tatsächlich sehr gut mit soziologischen Umfragen belegen. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada Zentrum hat bereits 2017 festgestellt, dass rund 46 Prozent der befragten Russen Gefühle wie Respekt, Bewunderung oder sogar Sympathie für Stalin empfanden. Zwei Jahre später, 2019, bewerteten sogar 70 Prozent der Russen seine Rolle in der Geschichte als positiv. Das war ein Rekordwert.
Und auch in den aktuellen Umfragen zählt Stalin regelmäßig zu den drei beliebtesten historischen Persönlichkeiten in Russland. Gleich nach Peter dem Großen oder Katharina der Großen.
Und dieses Comeback Stalins prägt das öffentliche Geschichtsbild ganz und gar spürbar. Seine Verbrechen werden ausgeblendet. Stattdessen sieht man in ihm einen starken Herrscher unter dem Russland oder die Sowjetunion weltweiten Respekt genoss.
BIHoff: Das Gulag-Museum in Moskau, das die Verbrechen des Stalinismus thematisierte, musste offiziell aus Brandschutzgründen im November 2024 schließen. Die Räume zur freien Meinungsäußerung sind in Putins Russland immer kleiner geworden. Gibt es so etwas wie eine Gegenreaktion auf die Stalin-Renaissance?
Dr. Daria Boll-Palievskaya: Ich würde nicht davon sprechen, dass es ernsthafte Gegenreaktionen gibt. Der Vorfall in der Moskau-Metro, also diese Aufstellung der Stalinstatue, hat zwar tatsächlich viele überrascht. Und es gab auch einzelne Zeichen des Protests. Unbekannte Aktivisten haben anonymen Plakate daneben aufgehängt, mit allen alten Zitaten von z.B. Putin, in denen noch vor Jahren der Personenkult scharf kritisiert wurde. Ein Abgeordneter der Opposition hat sich auf Telegram gegen das Stalinrelief ausgesprochen. Ein anderer Abgeordneter aus der Oppositionspartei Jabloko nannte das Ganze eine „Schande für Moskau“. Doch ich glaube, das war es dann auch schon.
Und ehrlich gesagt, was will man auch erwarten, wenn wir uns darüber einig sind, dass Russland heute eine klare Autokratie ist, dann dürfen wir nicht davon ausgehen, dass öffentliche Protest überhaupt noch möglich ist. Zumindest nicht ohne ernsthafte persönliche Konsequenzen. Deswegen passiert nichts. Die Leute wissen, dass es gefährlich ist. Und ich würde sagen, das meiste bleibt nur als anonymes Zeichen. Oder es gibt vereinzelte Stimmen im Netz, mehr nicht.
BIHoff: Vielen Dank für dieses Gespräch.