19.06.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Gesellschaft

Berlin 2040: In weiter Ferne, so nah!

Berlin steht an einem Wendepunkt. Die Stadt kämpft mit überlasteter Infrastruktur, wachsender sozialer Ungleichheit und dem Verlust politischer Gestaltungskraft angesichts radikaler Sparprogramme. Mehr Effizienz und Verlässlichkeit sind bedeutsam, doch eine sozial gerechte, lebenswerte Stadt entsteht nicht allein durch technokratische Effizienz. Bedeutsam sind verlässliche öffentliche Infrastruktur, demokratische Beteiligung und der Respekt vor der Lebensrealität aller.

Damit dieser Wandel gelingt, braucht es eine Politik, die nicht nur verwaltet, sondern Verantwortung übernimmt: mit langfristigem strategischem Denken, konkreten Verbesserungen im Alltag und einer neuen Kultur des Gemeinsinns und der Selbstermächtigung der Stadtgesellschaft.

»Visionen 2030«

Knapp 50 Autorinnen und Autoren aus der Berliner Stadtgesellschaft, Politik, Kultur, Wirtschaft publizierten bislang ihre Ideen für die Zukunft Berlins in der vom Berliner Tagesspiegel initiierten Reihe »Visionen 2030«.

Entstanden ist eine multiperspektivische Reflexion der vielfältigen Herausforderungen und Chancen, denen sich Berlin in den kommenden Jahren stellen muss. Die Reihe vermittelt individuelle Visionen der Autor:innen und verweist auf übergreifend als bedeutsam für eine erfolgreiche Zukunft der Stadt erachtete Themen sowie Spannungsfelder.

Die klimaneutralen Stadtentwicklung wird als ein wesentlicher Schlüssel für Berlins Zukunft identifiziert. Konzepte wie flächendeckende Begrünung, Entsiegelung, nachhaltige Mobilität und energieeffiziente Infrastruktur sollten nicht auf der politischen Achse zwischen links und rechts verortet werden, sondern notwendige Antworten auf die Klimakrise sein. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, ökologische Ziele mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, um keine soziale Spaltung zu vertiefen.

Übereinstimmung gibt es in der Bedeutung der Verwaltungsmodernisierung. Digitalisierung als unverzichtbarer Hebel für mehr Effizienz, Bürger:innennähe und ein Wandel in der Verwaltungskultur sind Basisvoraussetzungen, nicht Ziele der Reform. Neben automatisierten Genehmigungsverfahren werden digitale Beteiligungsformate und offene Plattformen entscheidend sein, um den Dialog zwischen Stadtgesellschaft und Politik zu stärken. Dabei müssen digitale Infrastrukturen gemeinwohlorientiert gestaltet werden und die Risiken von Desinformation und Algorithmen nicht nur benannt, sondern reduziert.

Stadtentwicklung soll nicht nur von oben gesteuert, sondern als gemeinsamer Prozess von Bezirken, Kiezen und Bürgerschaft verstanden werden. Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung besteht ein Konsens darin, politische Prozesse wesentlich stärker als bisher durch dialogorientierte Formate zu begleiten, um sie mehr als bislang an den Bedürfnissen der Bevölkerung auszurichten. Weitergehende Überlegungen plädieren für die Einrichtung von öffentlichen Räten, Bürger:innenräten und anderen Instrumenten, mit denen die demokratische Kultur belebt und die Stadt als Gemeinwesen wirksamer werden soll. Selbstermächtigung der Bürger:innen der Stadt statt etatistisches Top-down-Regieren.

Wohnen ist die zentrale soziale Frage in der Stadt, in der arm zu sein nie sexy war, sondern ein Kampf um Würde und gesellschaftliche Teilhabe. Der soziale Zusammenhalt hängt eng mit einer bezahlbaren und sozial gemischten Wohnraumentwicklung zusammen. Die betreffenden Beiträge mahnen übergreifend zum Handeln gegen Wohnungsnotstand und Verdrängung. Innovative Konzepte wie generationenübergreifendes Wohnen und die Nutzung von Leerständen für soziale Infrastruktur gewinnen an Bedeutung.

Kultur, auch darin sind sich viele Autor:innen einig, wird als Brücke für gesellschaftliche Integration, Innovation und wirtschaftliche Dynamik hervorgehoben. Die Visionen betonen die Notwendigkeit, kreative Freiräume zu sichern und kulturelle Vielfalt sichtbar zu machen, um die soziale Kohäsion und die internationale Strahlkraft Berlins zu stärken.

Der Umbau der Mobilität hin zu einem klimafreundlichen, barrierefreien und digital vernetzten System ist ein weiterer Schlüssel. Verdichteter ÖPNV, Sharing-Systeme und technologische Innovationen wie Robotaxis sollen Berlin verkehrlich zukunftsfähig machen.

Erstaunlich wenig Beiträge widmen sich der künftigen Gestaltung des Bildungswesens. Es scheint, als ob angesichts jahrelanger Enttäuschungserfahrungen der utopische Überschuss für die Zukunft von frühkindlicher, schulischer und beruflicher Bildung bei den Autor:innen erschöpft sei. Umso bedeutsamer dürfte es sein, nach der parteiübergreifenden Verständigung auf die Verfassungsreform zur Verwaltungsmodernisierung, eine gemeinsame Kraftanstrengung darauf zu richten, den jüngsten und jungen Menschen in der Hauptstadt ein besseres Bildungssystem zu bieten. Im Länderranking liegt Berlin auf Platz 12 vor Bremen (16) aber weit hinter Hamburg (3).

Viele Beiträge aus der „Visionen 2030“-Reihe betonen die Notwendigkeit, Konflikte nicht zu verdrängen, sondern offen anzusprechen. Besonders die Idee einer „versöhnlichen Motzkultur“ von Mo Asumang bringt dies auf den Punkt: Kritische, ehrliche Debatten sollen möglich sein, ohne den Respekt voreinander zu verlieren. Diese Kultur des offenen, aber respektvollen Streits kann helfen, Polarisierungen abzubauen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Berlin braucht solche Räume des Dialogs, in denen unterschiedliche Meinungen ausgehalten und konstruktiv verarbeitet werden, um die Vielfalt der Stadt als Chance zu nutzen und Konflikte produktiv zu bewältigen.

Die Überlegungen der Leser:innen, die in der „Visionen 2030“-Reihe des Tagesspiegels eingebunden wurden, spiegeln eine breite Palette an Alltagsrealitäten, Hoffnungen und Herausforderungen wider, die Berlin aus Bürgersicht prägen. Dabei wird deutlich, dass viele Leser:innen vor allem praktische Themen in den Vordergrund rücken, die ihr unmittelbares Lebensumfeld betreffen. Dazu gehören Fragen der Sauberkeit und Ordnung im öffentlichen Raum, etwa die Reinigung von Straßen und Grünflächen, die Beseitigung von Müll und die Pflege von Bäumen – Aspekte, die eng mit dem Sicherheits- und Wohlfühlgefühl in den Kiezen verbunden sind.

Zugleich thematisieren sie die Bedeutung von sozialer Nähe und Nachbarschaftshilfe als wichtige Faktoren für ein funktionierendes Stadtleben. Viele wünschen sich moderne, bezahlbare Wohnformen, die den Bedürfnissen unterschiedlicher Generationen gerecht werden und Raum für gemeinschaftliches Leben bieten. Die Leser:innen sehen zudem eine große Bedeutung in der Förderung von lokalen Treffpunkten, Jugendzentren und Kulturangeboten, die soziale Begegnung und Integration erleichtern.

Im Bereich Mobilität sprechen sich viele für eine stärkere Vernetzung und Erhöhung der Taktfrequenzen im Nahverkehr aus, verbunden mit innovativen Sharing-Angeboten, die den Autoverkehr reduzieren und zugleich die Lebensqualität erhöhen sollen. Gleichzeitig äußern einige die Sorge, dass eine zu starke Einschränkung des Individualverkehrs die Lebensrealitäten mancher Bevölkerungsgruppen erschweren könnte.

Die Leser:innen spiegeln auch die Ambivalenz im Umgang mit dem Wandel wider: Einerseits wünschen sie sich Fortschritt, Digitalisierung und Innovation, andererseits haben sie oft Sorgen bezüglich der Geschwindigkeit und der sozialen Folgen dieser Entwicklungen. Viele fordern mehr Beteiligung und Transparenz in Entscheidungsprozessen, damit ihre Erfahrungen und Bedürfnisse besser berücksichtigt werden.

Insgesamt zeichnen die Leser:innen ein Bild von Berlin als einer Stadt, die sich trotz aller Herausforderungen durch ihre Vielfalt, Kreativität und den starken lokalen Zusammenhalt auszeichnet. Ihre Perspektiven betonen, dass nachhaltige Stadtentwicklung nur gelingen kann, wenn sie eng an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort orientiert ist und sowohl soziale als auch ökologische Aspekte integriert.

Die katastrophale Haushaltslage Berlins und der Sparkurs des Senats stellen eine erhebliche Hürde für die Umsetzung der vielfältigen Visionen dar, die in der „Visionen 2030“-Reihe formuliert wurden. Finanzielle Restriktionen begrenzen den Handlungsspielraum und erfordern eine strikte Priorisierung sowie Effizienzsteigerungen. Vor diesem Hintergrund muss eine realistische Perspektive für Berlin sowohl den Zeitraum bis 2030 als kurzfristigen, pragmatischen Zwischenschritt betrachten. Gleichzeitig ist es unerlässlich, den Blick auf eine Entwicklungsstrategie bis 2040 zu richten. Diese Zeit wird benötigt, um die umfassende, nachhaltige und soziale Transformation der Stadt zu ermöglichen. Auf dem Weg dorthin müssen unumkehrbare Entwicklungen Schritt für Schritt eingeleitet werden, bei denen im Sinne der Vorschläge für Bürger:innenräte u.a. Instrumente der Selbstermächtigung der Bürger:innen die Stadtgesellschaft beteiligt, statt betroffen ist.

Diese doppelte Perspektive berücksichtigt die aktuelle Finanzsituation, ohne den Anspruch auf tiefgreifende Veränderungen aufzugeben. Effizienz und Innovation müssen Hand in Hand gehen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung. Dazu zählen der Ausbau bezahlbaren Wohnraums, die Stärkung kultureller und sozialer Infrastruktur sowie die Förderung partizipativer Demokratieformen.

Über die Ablösung der Kameralistik durch die Doppik wurde lange abstrakt und oft unter neoliberalen Vorzeichen eine Fachdebatte geführt. Das Thema ist jedoch ziemlich alltagsrelevant und in der aktuellen Krise der öffentlichen Haushalte zeigt sich ihr praktischer Nutzen: Hamburg, das frühzeitig auf Doppik umgestellt hat, bildete in wirtschaftlich guten Jahren Rücklagen, gab also weniger aus als es Mittel hatte. Dadurch kann die Stadt 2025 das Kulturbudget um rund 11 Prozent erhöhen, während Berlin bei Kultur und Kunst dreistellige Millionenbeträge kürzt. Die Umstellung allein erklärt diesen Unterschied nicht, doch schafft sie notwendige Voraussetzungen für eine vorausschauende und resiliente Haushaltspolitik. Zeit, dass sich was dreht.

Looking Back to Move Ahead

Harald Wolf, der die Berliner Politik über mehr als 25 Jahre maßgeblich prägte, legte in seinem Buch »Rot-Rot in Berlin. 2002 bis 2011: eine (selbst-)kritische Bilanz« fast eines Jahrzehnts rot-roter Regierung vor. Es ist eine Analyse, die auch für heutige Erneuerungsansprüche Maßstab sein könnte. Wer einen Blick in dieses Buch wirft, lernt darin viel. Über die Anpassungsprobleme einer im hochsubventionierten West-Berlin geprägten politischen Elite, die nach der Wiedervereinigung der Stadt sowohl eine selbstüberschätzende Metropolenpolitik verfolgte als auch den Klientelismus und die Verfilzung zwischen Politik, Verwaltung und Wirtschaft – vorrangig in der Bau- und Wohnungswirtschaft ebenso wie im Bankensektor fortsetzte. (Selbst-)Kritisch geht Harald Wolf auch mit den polit-ökonomischen Rahmenbedingungen des Entstehens und dem Wirken des rot-roten Bündnisses ins Gericht. Die im Untertitel angekündigte (Selbst-)Kritik war keine Phrase, sondern Methode.

Harald Wolfs Buch Rot-Rot in Berlin ist bis heute ein Beispiel für politische Bilanzarbeit, die den Anspruch auf Erneuerung ernst nimmt. Davon ist der Aufruf „Wir haben verstanden“ der Berliner SPD weit entfernt. Er inszeniert Erneuerung, ohne Selbstkritik. Statt Analyse herrscht Anklage – gegenüber jenen, die aktuell Verantwortung tragen, ohne die eigene Rolle der Unterzeichner:innen in über drei Jahrzehnten Regierungsbeteiligung zu benennen.

Weit entfernt von diesem selbstkritischen Herangehen ist die Behauptung des „Wir haben verstanden“, mit dem der Aufruf »ERNEUERUNG-SPD.BERLIN« beginnt. Er inszeniert Erneuerung, ohne Selbstkritik. Statt Analyse herrscht Anklage – gegenüber jenen, die aktuell Verantwortung tragen, ohne die eigene Rolle der Unterzeichner:innen in über drei Jahrzehnten Regierungsbeteiligung zu benennen. Stattdessen bleibt das Papier bei einem Scherbengericht – einem Verfahren, mit dem in der Antike missliebige Bürger aus dem politischen Leben entfernt wurden.

Relevante parteiinterne Analysen wie jene von Jana Faus und Thorsten Faas (»Viel Verantwortung, viele Wahlen, viele Herausforderungen«) oder Helmut Kleebank (Analyse der Berliner Wiederholungswahl von 2023) bleiben unerwähnt. Statt produktiver Auseinandersetzung mit den Ursachen des Vertrauensverlusts bietet der Aufruf eine Erzählung, die mehr an Oppositionsrhetorik als an reflektierte Regierungsverantwortung erinnert.

In der medialen und politischen Wiederspiegelung wurde der Aufruf wohl auch deshalb als Ausdruck einer tiefgreifenden inhaltlichen und personellen Erschöpfung der sozialdemokratischen Partei Berlins bewertet. Für diese Erschöpfung der Berliner SPD gibt es nachvollziehbare Gründe: Bis zur Wahl 2026 wird sie seit 37 Jahren ununterbrochen regiert haben. Wenn ein Erneuerungspapier migrationspolitische Vereinfachungen, marktkonforme Wohnungspolitik und ein selektives Gerechtigkeitsverständnis propagiert, fehlt mehr als nur ein neuer Ton – es fehlt eine Idee.

Zentrale Thesen des Aufrufs arbeiten mit vereinfachenden Gegensätzen. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen ist auch deshalb relevant, weil sie auch jene Bemühungen der beiden ex-linken SPD-Neumitglieder Sebastian Schlüsselburg und Michael Grunst konterkarieren, die aus dem linken Wahlerfolg bei der Bundestagswahl, Lektionen für die SPD-Berlin ableiten möchten:

  • Die Kritik an der „Umsonst-Stadt“ trifft nicht zu. Berlin ist keine Stadt des Überflusses, sondern geprägt von wachsenden sozialen Spannungen. Schulessen, günstiger Nahverkehr und kulturelle Teilhabe sind keine „Ersatzbefriedigung“, sondern Voraussetzungen für Gerechtigkeit.
  • Enteignungsdebatten verhindern keinen Neubau. Der Stillstand hat andere Gründe: Bodenspekulation, Verwaltungsstau, fehlende Kapazitäten. Enteignung ist ein legitimes Mittel, nicht das Problem.
  • Die Verteidigung des motorisierten Individualverkehrs mit Verweis auf vermeintliche Alternativlosigkeit ersetzt keine Mobilitätswende. Sie verhindert sie.
  • Der Satz „Wer irregulär kommt, muss gehen“ ist keine mutige Wahrheit, sondern Mainstream. Er trägt nichts zur Lösung bei, sondern reduziert Migration auf ein Sicherheitsproblem.

Die These, kostenfreie Leistungen führten zu Ungerechtigkeit, stellt das sozialdemokratische Verständnis von Teilhabe auf den Kopf. Wer Schulessen als Symbol „verfehlter Politik“ brandmarkt, ignoriert, dass in Berlin fast jedes dritte Kind armutsgefährdet ist – und das kostenlose Mittagessen oft die erste warme Mahlzeit des Tages bedeutet. Kostenfreie Angebote vermeiden Stigmatisierung und ermöglichen soziale Teilhabe.

Gerechtigkeit bemisst sich heute nicht nur an individueller Bedürftigkeit, sondern an kollektiver Infrastruktur. Wer hier spart, spart an der Zukunft der Stadt – und schwächt ihren sozialen Zusammenhalt.

Vielleicht braucht es die Opposition, um diese Idee wiederzuentdecken – als Raum der Klärung und des Aufbruchs. DIE LINKE, Grüne und zivilgesellschaftliche Akteure sind gefordert, dieses Vakuum nicht nur zu kritisieren, sondern mit konkreten Konzepten zu füllen. Berlin wartet nicht auf Parolen – sondern auf Politik, die gestaltet.

Das Problem der Berliner SPD ist nicht ihr „Linkssein“, wie einige im parteiinternen Streit offenbar suggerieren. Die öffentliche Debatte reflektiert einen signifikanten Verzicht auf eine sozialdemokratische Idee von Stadt: Wohnraum als Gemeingut, Mobilität als Teilhabe, Integration als Aufgabe der Gesellschaft – nicht der Polizei. Eine Politik, die sich selbstverständlich zu Verteilungsgerechtigkeit, öffentlicher Daseinsvorsorge und demokratischer Infrastruktur bekennt.

„Es gilt zu zeigen, dass die Partei nicht nur für ihre Regierungsfähigkeit gewählt werden will, sondern weil sie etwas im Land verändern will – und dass sie das auch kann“, schreibt  der Sozialforscher Jan Niklas Engels von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in einem Beitrag für den Think Tank Progressives Zentrum. Ob es für eine solche Erneuerung nach 37 Jahren SPD-Regierungsbeteiligung den Gang in die Opposition bräuchte, werden die Wähler:innen und muss am Ende die Partei selbst entscheiden.

In jedem Fall entsteht aus dieser Betrachtung sowohl für DIE LINKE als auch für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gemeinsam mit der Stadtgesellschaft – die Verantwortung, das beschriebene Vakuum zu füllen. Mit zukunftsfähiger progressiver Politik, die handlungsfähig und vor allem in der Lage ist, eine Gestaltungsmehrheit zu mobilisieren. In der jüngsten Umfrage vom 18. Juni 2025 liegen LINKE (19 Prozent) und Grüne (15 Prozent) gemeinsam bei 34 Prozent nur 4 Prozentpunkte hinter der schwarz-roten Koalition. Die AfD zurückzustutzen und die Frage nach der politischen Alternative konkret gestellt , kann Verhältnisse vielleicht nicht unmittelbar zum Tanzen bringen. Aber die Füße beginnen zu wippen und die Melodie ist im Kopf.

Alle wollen regieren – wir wollen verändern.

Berlin steht an einem Kipppunkt. Die Stadt ist nicht gescheitert, aber sie scheint sich mit ihrem Scheitern arrangiert zu haben. Die Geschichten über das „dysfunktionale Berlin“ erzählen sich inzwischen von selbst: überforderte Bürgerämter, unpünktliche Bahnen, eine Verwaltung, die sich hinter Verfahren verschanzt, statt Lösungen zu suchen. Diese Erzählung ist gefährlich, weil sie Vertrauen zerstört – und verhindert, dass wir uns auf eine gemeinsame Richtung verständigen.

Die Parteien des demokratischen Verfassungsbogens haben sich auf eine Verwaltungsreform geeinigt. Rund 100 Jahre nach der Schaffung der Einheitsgemeinde Berlin, könnte diese Reform zu den bedeutendsten Entwicklungen gehören. Wenn SPD-Chefverhandler Torsten Schneider – noch bevor das Abgeordnetenhaus endgültig abgestimmt hat – das Jahr 2026 lautstark zum „Jahr des funktionierenden Berlins“ ausruft, ist die Realität eine andere. Die FES-Studie „Welche Träume bewegen Deutschland?“ legte das fehlende Vertrauen in die Politik und die Politiker:innen offen: Nur 30 Prozent waren zuversichtlich, dass die Politik die Zukunftsherausforderungen bewältigen kann. 84 Prozent bemängelten, dass es der „Politik an einer Vision fehlt.

Eine klare, realistische und zugleich ambitionierte Strategie für die Stadt wünschen sich deren Bewohner:innen. Keine weitere großspurige Metropolenerzählung - stattdessen ein verlässlicher Vertrag mit der Stadtgesellschaft. Getragen von einem neuen Gemeinsinn: Wer hier lebt, muss sich verlassen können – auf Wohnungen, Verkehrsverbindungen, öffentliche Dienste, auf gerechte Regeln, die für alle gelten.

Ob die U-Bahn fährt, das Bürgeramt erreichbar ist, der Schulhof saniert, der Spielplatz sicher, das Krankenhaus personell ausgestattet, die Straße sauber – das sind keine Nebensächlichkeiten. Sie sind sichtbare Zeichen dafür, ob eine demokratische Stadt ihre Versprechen hält.

Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit – das klingt nach Sekundärtugenden und Begriffen konservativer Ordnungspolitik. Genau in diesem Sinn arbeiten die sogenannten SPD-Erneuer:innen mit diesen Schlagwörtern.

In einer progressiven Lesart sind sie jedoch Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Denn eine Stadt, die nicht funktioniert, trifft nicht alle gleich. Sie trifft zuerst die, die keine Ausweichmöglichkeiten haben: Menschen, die auf öffentliche Infrastruktur angewiesen sind, die auf pünktliche Busse warten müssen, weil sie sich kein Taxi leisten können, die stundenlang auf einen Termin im Bürgeramt hoffen, weil ihnen sonst Wohngeld, Kita-Platz oder Aufenthaltsrecht entzogen wird.

Berlin steht exemplarisch für viele Entwicklungen, die die Arbeitswelt in Deutschland prägen – mit all ihren Brüchen, Ungleichheiten und Widersprüchen. Die Stadt vereint Industriearbeit, Dienstleistungen, Büroberufe und Solo-Selbständigkeit – oft unter prekären Bedingungen und bei unzureichendem Einkommen. Die Erwerbsarbeit ist heute weiblicher, vielfach migrantisch geprägt und häufig in Teilzeit organisiert. Sorgearbeit – sei es in der Familie, in der Nachbarschaft oder in Freundeskreisen – als gesellschaftlich gleichwertige Arbeit anzukennen, sie beispielsweise steuerlich besserzustellen, ist in der Hauptstadt eine Alltagsfrage. Faire Löhne, verlässliche Betreuung für Kinder und pflegebedürftige Angehörige sowie echte Vereinbarkeit von Beruf und Alltag bilden ein gleichberechtigtes Ensemble.

Bemerkenswert ist, dass sich nahezu die Hälfte der Menschen in Deutschland zur Arbeiter:innenklasse zählt – unabhängig von Bildung, Herkunft, Geschlecht oder Alter. Gleichzeitig verorten sich fast 90 Prozent in der gesellschaftlichen Mitte. Das ist kein Widerspruch, sondern verweist auf ein Selbstbild, das soziale Sicherheit, Anerkennung und Teilhabe einfordert. Eine demokratische Klassenpolitik ist nicht anachronistisch sondern angesichts dessen zeitgemäß – wenn sie wiederum nicht nostalgisch, sondern an den tatsächlichen Alltagsfragen ansetzt und sich dadurch vermittelt.

Progressive Stadtpolitik verlässt die Debatte, in der kulturelle gegen ökonomische Interessen ausgespielt werden und stellt die gemeinsamen Interessen der Vielen in den Mittelpunkt. Sie erinnert daran, dass soziale Infrastruktur, Schutzrechte für Beschäftigte und wohlfahrtsstaatliche Leistungen durch kollektiven Einsatz erkämpft wurden. Den gleichen Einsatz benötigt es für deren Fortentwicklung. Eine Stadt für alle durfte sich nie damit begnügen, „arm aber sexy“ zu sein. Progressiv ist eine Kultur des Respekts gegenüber der Lebenszeit, den Bedürfnissen und Rechten aller, die hier leben – ob hier geboren oder zugezogen, ob Tourist:in für drei Tage oder Bewohner:in in Reinickendorf.

Pragmatische Radikalität nimmt den Alltag ernst – nicht als Verwaltungsaufgabe, sondern als politische. Sie ist radikal in der Analyse: etwa da, wo Sparpolitik, Marktgläubigkeit oder institutionelles Misstrauen gegenüber dem Öffentlichen strukturelle Verantwortungslosigkeit hervorgebracht haben. Und sie ist pragmatisch in der Umsetzung: weil nicht jede Utopie sofort Wirklichkeit wird, aber jede konkrete Verbesserung zählt. Gute Politik misst sich nicht an der rhetorischen Höhe ihrer Ziele, sondern an der Verlässlichkeit ihrer Umsetzung.

Das heißt: verlässliche Dienstleistungen, funktionierende digitale Verwaltung, erreichbare Ansprechpersonen, Regeln, die für alle gelten – nicht als Drohung, sondern als Versprechen. Eine gerechte Stadt erkennt man daran, dass nicht nur die Lauten, Einflussreichen oder Vernetzten zu ihrem Recht kommen, sondern auch die Leisen, Vereinzelten, Überforderten sicher sein können, dass die Stadt für sie da ist.

Diese Perspektive ist kein technokratisches Modernisierungsprojekt, sondern ein politischer Kulturwandel: weg vom achselzuckenden „Berlin halt“ – hin zu einer Stadt, die sagt: Wir machen das besser. Nicht, weil es einfach ist. Sondern weil es notwendig ist. Nicht, um Kontrolle auszuüben. Sondern um Freiheit möglich zu machen.

Diese Unterschiede zeigen sich exemplarisch in den Beiträgen des ehemaligen linken Bürgermeisters und Kultursenators, Klaus Lederer, einerseits und des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner (CDU) andererseits. Klaus Lederer denkt Stadtpolitik nicht als Verwaltungsmodernisierung, sondern als demokratischen Zukunftsdiskurs – mit dem Ziel, Berlin über öffentliche Räte, kollektive Teilhabe und soziale Gerechtigkeit strategisch gestaltbar zu machen. Seine Vision ist dialogisch, konfliktfähig und langfristig orientiert: Er versteht Freiheit als das Recht und die Fähigkeit aller, an den großen Fragen der Stadt mitzuwirken – etwa wie Berlin 2050 aussehen soll. Damit steht sein Ansatz im scharfen Kontrast zu Kai Wegners technokratischer Zukunftsformel, die vor allem auf Effizienz, Sicherheit und beschleunigte Verfahren setzt. Während Wegner Verwaltung beschleunigen will, will Lederer Demokratie vertiefen. Es ist der Unterschied zwischen Stadt als Serviceleistung und Stadt als Gemeinwesen – zwischen einem Regierungsstil der Vereinfachung und einer Vision, die politische Komplexität produktiv macht.

Die Vorstellungskraft für ein anderes, besseres Berlin ist nicht verschwunden. Sie liegt in den Kiezen, bei sozialen Bewegungen, Mieter:inneninitiativen, in der solidarischen Ökonomie, in Wissenschaft und Schulen, an den Rändern – und im Zentrum der Stadt.

Nötig ist eine langfristige Strategie mit visionärem Pragmatismus jenseits einer Legislaturperiode. Eine Perspektive von zehn bis fünfzehn Jahren, die unumkehrbare Entwicklungen in Gang setzt und partizipative Mitbestimmung auf diesem Weg und an den Weggabelungen ermöglicht. Die Elemente dessen sind nicht neu und lassen sich jenseits der einzelnen Fachpolitiken auf wenigstens sieben Nenner bringen:

1. Soziale Infrastruktur als Basis

Stabile öffentliche Güter und Räume, wohnortnahe Angebote der Daseinsvorsorge, funktionierende Schwimmbäder, Schulen, Kitas und Bibliotheken – sie sind nicht Beiwerk, sondern Fundament der sozialen Demokratie.

2. Wohnen der dominierenden Marktlogik entziehen

Die Spekulation mit Grund und Boden zerstört die Stadt. Eine Fortführung der Enteignungsdebatte braucht niemand – denn die Bürger:innen haben bereits entschieden. Was es braucht, ist eine gemeinwirtschaftliche Wohnungspolitik, die Boden vergesellschaftet, Genossenschaften stärkt und Neubau sozial und ökologisch plant. In Arbeitsteilung von öffentlichen und privaten Akteur:innen in einem Rahmen, der sich von der dominanten Marktlogik gelöst hat.

3. Berliner Gemeinschaftsaufgabe Gute Bildung

Berlin verzeichnete 2023 mit 47 Prozent die geringste Quote betrieblicher Ausbildungsplätze, liegt bei Bildungsarmut auf Platz 15 aller Bundesländer – ebenso bei der Schulqualität und Integration. Diese Defizite zu beheben wird eine Gemeinschaftsaufgabe benötigen. Investiv aber vor allem auch zwischen den Engagierten im Bildungssystem, der Politik und der Stadtgesellschaft. Gegenwärtig ist klar – wer sich auf dieses Politikfeld einlässt, wird vermutlich scheitern. An den Strukturen und Erwartungen. Daran kann niemand Interesse haben, deshalb müssen sich alle gemeinsam darum kümmern, statt Wetten auf das Scheitern abzuschließen.

4. Verlässlichkeit als städtische Tugend zurückgewinnen

Gute Verwaltung, klare Regeln, funktionierende Infrastruktur – nicht als konservativer Reflex, sondern als Bedingung dafür, dass Solidarität im Alltag erfahrbar wird.

5. Quartiere und Beteiligung stärken

Eine Stadt der Beteiligung: mit Bürger:innenräten, partizipativen Budgets, Kiezfonds – und einer Politik sowie Verwaltung, die zuhört, statt sich zu verschließen. Ermöglichung als Selbstverständnis öffentlichen Handelns.

6. Expertise, Innovation und Stadtgesellschaft verbinden

Berlin ist voll von klugen Köpfen – nutzen wir sie. Nicht nur als Expert:innen, sondern als Mitgestalter:innen: in Reallaboren, in lokalen Innovationspartnerschaften, in einem Berliner Zukunftsrat.

7. Langfristig planen, schrittweise verlässlich und transparent handeln

Nicht alles geht sofort – aber vieles kann sofort beginnen. Wir brauchen eine strategische Steuerung mit klaren Prioritäten, einem öffentlichen Umsetzungsmonitoring und Pilotprojekten, die Wirkung zeigen.

Berlin 2040 beginnt jetzt.

Die Wiederherstellung einer funktionierenden, gerechten und zukunftsfähigen Stadt braucht Zeit – und klare Prioritäten. Deshalb muss die Perspektive bis 2040 in den Blick genommen werden – wissend, dass die Wahlperioden fünf Jahre umfassen.

Bestimmte Entwicklungen gehen schneller, andere benötigen mehr Zeit. Der Mietendeckel hat gezeigt, dass juristisch umstrittene Vorhaben einen Plan B benötigen, damit die angestrebten Ziele erreicht werden. Progressive Mehrheiten benötigen deshalb wirksame Methoden: Unumkehrbare Einstiege in langfristige Reformprozesse, bei denen die angestrebten Wirkungen transparent benannt werden: Was wollen wir gemeinsam erreichen? Wie sehen unsere Ergebnisse aus? Wie wollen wir das erreichen, und wo müssen wir uns korrigieren. Mit den Worten von Peter Kurz: „Die Wahrheit auf dem Platz muss der Ausgangs- und Zielpunkt allen Handelns sein“.

Kurzfristige Vorhaben mit direkter Wirkung auf die Lebensrealität der Menschen priorisieren und ehrlich sagen, was mehr Zeit benötigt. Der Stadtgesellschaft die Möglichkeit einräumen, strukturell und regelmäßig mitzuentscheiden, welche großen Projekte angesichts knapper Haushaltsmittel und notwendiger Konsolidierung zuerst umgesetzt und welche zurückgestellt werden.

Die Entwicklung Berlins wird nicht von oben verordnet. Sie entsteht dort, wo Menschen ihre Stadt mit Gemeinsinn selbst gestalten – solidarisch, selbstbewusst, offen.

Ein solcher Ansatz knüpft an Überlegungen aus der Reihe Vision Berlin 2030 an, in der zentrale Zukunftsfragen der Stadt mit strategischem Weitblick und konkreter Umsetzungsperspektive diskutiert wurden – etwa zur Mobilitätswende, zur öffentlichen Daseinsvorsorge oder zur sozial-ökologischen Transformation. Die dort skizzierte Verbindung von langfristiger Vision und alltäglicher Praxis verdient es, in eine Gesamtstrategie überführt zu werden, die Berlin nicht bloß verwaltet, sondern gemeinsam mit seiner Stadtgesellschaft neu begründet.

Für die auch dann weiterhin bestehenden Widersprüche entwarf die Künstlerin Mo Asumang in den Visionen 2030 ein alltägliches, handfestes Demokratiemodell, dass die Selbstermächtigung der Stadtgesellschaft ins Zentrum rückt: öffentliche Orte und Formate, die aktive, versöhnliche Auseinandersetzung lehren – mit dem Ziel, Berlin zu einer Stadt zu machen, in der Konflikte nicht untergehen, sondern als Chance für Gemeinsinn genutzt werden.

 

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