Das Gemälde als Zeitzeugin
Was sieht ein Gemälde über die Dauer seines Lebens und über welche verschlungenen Wege verläuft seine Existenz? In der jüngst erschienenen Graphic Novel »Zwei weibliche Halbakte« des französischen Zeichners Luz nehmen die Leser:innen die Perspektive eines expressionistischen Gemäldes von Otto Mueller ein. Das Gemälde wird zum Erzähler seiner Geschichte. Aus seiner Sicht blicken die Leser:innen zunächst auf Otto Mueller (1874-1930) und seine Frau Maschka im Jahr 1919.
Otto Mueller, Mitglied der Künstlergruppe Die Brücke, zeichnet vor den Toren Berlins seine Frau Maschka. Das Bild wird zwei Frauen im Halbakt zeigen, doch in der Geschichte sehen die Leser:innen zunächst, wie Otto Mueller die Leinwand auf sein Fahrrad schnallt und in die Stadt zurück radelt.
Der französische Autor und Zeichner Rénald „Luz“ Luzier nimmt uns Leser:innen durch die ungewöhnliche Sichtweise mit auf eine Wanderung durch Ateliers, Salons, Depots und Museen über einen Zeitraum von fast 80 Jahren. Wir lernen aus dieser Perspektive Muellers Atelier und die Wohnung des jüdischen Rechtsanwalts und Kunstmäzens Ismar Littmann in Breslau kennen, der das Werk – damals noch mit dem Titel »Zwei Mädchenakte« erwirbt.
»Zwei weibliche Halbakte« gelingt es, uns das Thema NS-Kunstraub und die Restituierung enteigneter Kunstwerke nahezubringen und die Geschichte eines Kunstwerks mit den Geschichten von Personen zu verbinden, deren Erinnerung wichtig ist.
So zum Beispiel Ismar Littmann. Er war weit mehr als ein Sammler – er war Mäzen und ambitionierter Förderer moderner Kunst in Breslau. Seine Sammlung umfasste etwa 347 Gemälde sowie rund 5.800 Grafiken – Werke von Corinth, Kollwitz, Liebermann und Mueller.
Eindrücklich und berührend gezeichnet können wir sehen, wie vor dem Fenster Littmanns die nationalsozialistischen Aufmärsche immer größer werden, Hindenburg durch Hitler ersetzt wird und Weltwirtschaftskrise sowie die antisemitische Berufsverbotspraxis die Schlinge um den Hals Littmanns immer enger werden lassen. Bis er sich schließlich das Leben nimmt. Für seine Kunstsammlung hat er zuvor die Veräußerung veranlasst, um seiner Familie die Emigration zu finanzieren. Seine Witwe, Käthe Littmann, kümmert sich um die Veräußerung.
Doch »Zwei Mädchenakte« werden neben weiteren Werken Muellers von den Nationalsozialisten konfisziert, um es in die NS-Denunziationsschau „Entartete Kunst“ aufzunehmen. Hierbei handelte es sich um ein Propagandainstrument des Regimes, das moderne Kunst als „undeutsch“ und „verfallen“ denunzierte. Die Ausstellung war ein Massenspektakel der kulturellen Ausgrenzung und ideologischen Kontrolle: fast zwei Millionen Besucher:innen, geordnete Diffamierung künstlerischer Freiheit.
Während und nach der Ausstellung „treffen“ die Leser:innen auf Adolf Hitler, Herrmann Göring und Josef Goebbels. Eindringlicher jedoch ist, wie das Gemälde Zwei weibliche Halbakte in Luz’ Erzählung zum stummen Zeugen politischer Machtverschiebungen wird: Der damalige Direktor der Nationalgalerie verliert sein Amt, weil er der modernen Kunst gegenüber zu nachsichtig agierte. An seine Stelle tritt Adolf Ziegler – ein linientreuer Maler und NS-Funktionär –, der wenig später die Ausstellung Entartete Kunst in München organisiert.
Die Reaktionen von Parteifunktionären und Publikum, wie sie Luz inszeniert, machen deutlich, wie stark sich die damaligen Angriffe auf die künstlerische Moderne mit heutigen Debatten um Kunstfreiheit und öffentliche Kulturförderung spiegeln. Moderne Kunst galt als provokant, traditionsfern und – vor allem – als Verschwendung öffentlicher Mittel.
In dieser Szenerie begegnet uns zudem eine der zwielichtigsten Figuren des NS-Kunsthandels: Hildebrand Gurlitt. Einst selbst Förderer der Moderne, stieg er zum offiziellen Kunsthändler des Regimes auf. Im Auftrag des Propagandaministeriums verkaufte er beschlagnahmte Werke ins Ausland – zur Devisenbeschaffung.
1939 erwarb Gurlitt das Mueller-Gemälde zu einem symbolischen Preis. Es war kein Einzelfall: Gurlitt füllte damit auch seine Privatsammlung, deren Umfang erst Jahrzehnte später durch den sogenannten Schwabinger Kunstfund bekannt wurde. Dass Luz’ Comic diese Stationen des Bildes zeigt – Verachtung, Verwertung, Verschiebung –, verleiht dem Werk eine zusätzliche historische Tiefe.
Die Rückkehr des Gemäldes ins öffentliche Bewusstsein erfolgte über verschlungene Wege. 1946 wurde es Teil der Stiftung des Kölner Anwalts Josef Haubrich. Dessen ebenfalls aufgrund NS-Verfolgung suizidierter Frau Alice Haubrich setzt Luz mit der Graphic Novel ebenso ein Andenken wie zuvor Ismar Littmann. Die Sammlung wird an das Wallraf-Richartz-Museum, dann ins Museum Ludwig überführt. Doch erst 1999 – nach Jahrzehnten juristischer Auseinandersetzungen, wachsendem politischen Druck wurde das Werk an die Erben Ismar Littmanns restituiert. Den Rahmen dafür lieferte unter anderem die sogenannten Washingtoner Erklärung, die 1998 von 44 Staaten – darunter auch Deutschland – unterzeichnet wurde. Sie markierte einen Wendepunkt im Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogener Kunst: Erstmals einigten sich Staaten auf freiwillige, aber politisch verbindliche Grundsätze, um die Rückgabe von Raub- und Fluchtkunst an die rechtmäßigen Erben zu ermöglichen.
Dabei handelte es sich nicht um ein völkerrechtlich bindendes Abkommen, sondern um eine politische Selbstverpflichtung. Deutschland richtete infolgedessen die „Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste“ ein, heute Teil des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste in Magdeburg. Die Umsetzung blieb jedoch abhängig von der Bereitschaft einzelner Länder, Kommunen und Museen. Das Thema ist bis heute virulenter Gegenstand politischer Kontroversen über den angemessenen rechtlichen Rahmen.
Die Restitution an die Littmann-Erben war dabei einer der ersten öffentlich wahrgenommenen Fälle, in denen ein Werk der sogenannten „entarteten Kunst“ – also ein Bild, das aus öffentlichen Museen entfernt wurde – nicht wegen Raubkunst im engeren Sinn, sondern wegen seiner Zugehörigkeit zu einer jüdischen Privatsammlung zurückgegeben wurde. Dieser Fall war damit juristisch und erinnerungspolitisch bedeutsam. Es war eine symbolische Rückgabe, aber auch ein Akt der verspäteten Gerechtigkeit. Die Geschichte dieser Restitution verlief dabei keineswegs geradlinig, wie es Luz’ erzählerische Verdichtung ungewollt suggerieren mag – sondern war geprägt von Lücken, Versäumnissen und der Ausdauer nachfolgender Generationen.
Der Zeichner Luz gehörte zur Redaktion der französischen Satierezeitschrift »Charlie Hebdo«. Den islamistischen Anschlag auf die Zeitung überlebte er durch einen Zufall. Ein Jahr investierte er in die Recherche und Erarbeitung dieser Graphic Novel. Ein langer und zugleich vergleichsweise kurzer Zeitraum, wie der Künstler im Interview mit der taz äußert. Jede Minute Arbeit in diese sensibel gezeichnete Geschichte aus düsterer Zeit war exzellent eingesetzt.
Luz verdichtet Geschichte zu einer poetischen, visuell dichten Erzählung über Macht, Verlust und Rückkehr. Dass das Bild selbst zum Subjekt wird – stumm, aber sehend –, erlaubt eine Erzählperspektive, die frei von Pathos und zugleich tief berührend ist. In seinen reduzierten, oft blassen Farbflächen und klaren Linien bleibt Luz eng an der Materialität des Originals – und zugleich sehr gegenwärtig. Die Graphic Novel ist nicht nur ein Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Kunstpolitik, sondern auch ein Reflexionsraum über die politische Dimension von Kunst, die nicht vergeht.