Carl Laszlo und die (ungarische) Avantgarde
In dem 2012 beim Hanser-Verlag erschienen Gesprächsband von Timothy Snyder mit Tony Judt »Nachdenken über das 20. Jahrhundert« trägt das sechste Kapitel den Titel »Osteuropa verstehen«. In der Einleitung formuliert Snyder: „Tony ist ein Osteuropäer vor allem dank seiner Beziehungen zu Osteuropäern. Es waren diese Freundschaften, die ihm einen Kontinent eröffneten“.
Fragen wir uns selbstkritisch, wieviel wir tatsächlich über unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn wissen. Welche Rolle spielen sie in unserem bundesdeutschen und weiterhin überwiegend westlich orientieren Diskurs? Lesen wir ihre Texte oder interessieren uns für ihre Kunst, ihre Künstler:innen und ihre Geschichte? Mir wurde dies erst jüngst wieder bewusst, als Małgorzata Zachara-Szymańska, Professorin an der Universität Krakau, mir einen ihrer Texte übersandte. Dessen Lektüre offenbarte mir die Lücken meines Verständnisses für polnische Gegenwartsfragen, die sich aus der wechselvollen Geschichte dieses Landes im 19. und 20. Jahrhunderts speisen.
Passend zu diesen Überlegungen ließ mir der Künstler und Kunstvermittler Ferenc Kréti ein Exemplar seines Buches »Home is where my art is. Ein Besuch bei Carl Laszlo und der (ungarischen) Avantgarde«, erschienen bei MOLOKO PRINT zukommen.
Dieses Buch ist keine klassische Biografie, keine kunsthistorische Monografie, kein bloßes Gedenkbuch – sondern eine fotografisch-biografische Collage, ein kuratorisches Kunstwerk, das sich dem Leben, Denken und Wirken von Carl Laszlo auf eigenständige Weise nähert. Ferenc Kréti hat mit Home is where my art is ein Werk geschaffen, das selbst wie eine Ausstellung funktioniert: Es versammelt Texte, Fundstücke, Fotografien und transkribierte Interviews zu einem Mosaik, das nicht chronologisch, sondern thematisch und ästhetisch gelesen werden will. Die Kapitel stehen für sich – es darf geblättert, gesprungen und assoziiert werden.
Im Zentrum steht Carl Laszlo (1923–2013), ungarisch-jüdischer Psychoanalytiker, Holocaust-Überlebender, Kunstsammler, Verleger, Theaterautor, Netzwerker und Mitbegründer der Art Basel. Eine derart multiperspektivische Figur entzieht sich jeder monolithischen Darstellung – und genau diesem Umstand trägt die Form dieses Buches Rechnung.
Ungarn – das ist für viele heute ein Land, dessen Name vorrangig mit der autoritären Regierungsform der »illiberalen Demokratie« Viktor Orbáns verbunden ist. Der nationalkonservativer Pathos, mediale Gleichschaltung, eingeschüchterte Künstler:innen, eingeschränkte Wissenschaftsfreiheit, die Abschaffung des Rechts bei Aufrechterhaltung der Verfassungsinstitutionen sind inzwischen Vorbild für Autoritäre wie Trump u.a. geworden.
Über die von Orbán kontrollierte Magyar Művészeti Akadémia (MMA) erhielt das Regime faktisch die Kontrolle über zentrale Kunstinstitutionen – von Förderentscheidungen über Ausstellungsprogramme bis hin zu Chefsessel-Besetzungen. Untersuchungen, etwa vom Artistic Freedom Initiative, dokumentieren eine existentielle Krise unter freien Künstler:innen und Institutionen in Ungarn – bedingt durch staatliche Einflussnahme und die gezielte Umleitung von Fördermitteln an systemtreue Künstler:innen. Künstler:innen und Initiativen verteidigen mit Widerstandskultur ihr Recht auf autonome Sichtweisen – doch diese stehen unter prekärem Druck.
Umso wichtiger erscheint es, sich zu vergegenwärtigen, auf welche Kulturtradition Ungarn als ein Kristallisationspunkt europäischer Avantgarden zurückblickt: radikal, international, experimentell.
Diese künstlerischen Traditionen und ihre ungarischen Repräsentant:innen sind eingebettet in das »Zeitalter der Extreme« als das Eric Hobsbawm bekanntlich das 20. Jahrhundert bezeichnete. Es schüttelte Ungarn mehrfach auf radikale und widersprüchliche Art durch: der Zerfall der Habsburgermonarchie, die kurzlebige und brutal niedergeschlagene Räterepublik 1919, Horthys protofaschistisches Regime und dessen Kollaboration mit den Nationalsozialisten, dem hunderttausende ungarische Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen. Die Niederschlagung des ungarischen Reformkommunismus 1956 und staatssozialistische Diktatur bis 1989.
Die ungarische Moderne war nie nur eine Stilfrage – sie war Ausdruck eines kulturellen Aufbruchs inmitten politischer Instabilität. Künstler:innen wie Lajos Kassák, Anna Beöthy-Steiner, Sándor Bortnyik, János Mattis-Teutsch oder László Moholy-Nagy experimentierten mit Konstruktivismus, Dadaismus, Expressionismus und politischer Agitation. Viele von ihnen waren jüdischer Herkunft oder Sozialist:innen – und gerieten deshalb bald ins Visier nationalistischer Kulturpolitik. Nach dem Ende der Räterepublik mussten viele fliehen, ihre Werke galten als „bolschewistisch“ oder „entartet“.
In den 1920er- und 30er-Jahren setzte sich die Verdrängung fort. Die ungarische Avantgarde arbeitete zunehmend aus dem Exil: in Berlin, Paris, Wien, Zürich oder später New York. Ihre Beiträge zur europäischen Moderne sind unbestritten – und doch oft vergessen, weil ihnen in ihrer Heimat über Jahrzehnte die Öffentlichkeit verwehrt blieb.
Auch das vorerst letzte Kapitel lässt sich – in Anlehnung an Wolfgang Leonhardts bekanntes Buch – auf das 20. Jahrhundert zurückbeziehen: Die Kinder der liberalen Revolution fraßen in Form von Orbáns Fidesz die Revolution.
Die grosse intellektuelle Welt im kleinen Basel
In diesem historischen Spannungsfeld bewegte sich Carl Laszlo. Seine Biografie liest sich wie ein Brennglas auf die Brüche und Umwege der ungarischen Kunst- und Zeitgeschichte. Laszlo war ein Vertriebener. Er überlebte, anders als alle Mitglieder seiner Familie, fünf Konzentrationslager, darunter Auschwitz und Buchenwald. Befreit wurde er in Theresienstadt.
Nach 1945 baute er sich ein neues Leben in Basel auf. Dort wurde er Psychoanalytiker, Verleger, Theaterautor, Netzwerker – und Sammler. Er veröffentlichte früh seine Lagererfahrungen, 1955 unter dem Titel Ferien am Waldsee. Der Text wurde wie andere Erinnerungen von Überlebenden seiner Zeit zunächst ignoriert. Erst spät wurde sein Text als bedeutender Beitrag zur frühen Holocaust-Literatur erkannt, neu aufgelegt (u.a. 2020 im Verlag Das vergessene Buch) und schließlich 2023 bei btb noch einmal veröffentlicht – 100 Jahre nach Laszlos Geburt. In der Süddeutschen Zeitung schrieb Alex Rühle einen berührenden Text über diese Wiederentdeckung.
In seiner Basler Villa am Sonnenweg sammelte Laszlo über 15.000 Kunstwerke. Seine Jugendstilvilla in Basel war ein „home art museum“ – daher auch der Titel des Buches von Ferenc Kréti. Seine Publikationen – insbesondere die Zeitschriften Panderma (1958–1977) und Radar (ab 1982) waren Plattformen der Nachkriegsavantgarde. Er veröffentlichte darin Künstler:innen der ungarischen und europäischen Moderne, kuratierte Ausstellungen, korrespondierte mit Hans Arp, Vasarely, Schöffer, Burroughs und Ginsberg.
Laszlos Editionen wie La lune en rodage (1960, 1965, 1977) versammelten Beiträge von Künstlern wie Hans Arp, Marina Apollonio, Günter Frühtrunk, Thomas Bayrle oder Man Ray. Die von ihm herausgegebene Anthologie 13 Wiederentdeckungen (1976) rückte übersehene Künstler:innen wie William Wauer oder Thilo Maatsch ins Blickfeld. Besonders enge Kontakte pflegte Laszlo mit der Beat Generation: William S. Burroughs, Allen Ginsberg und Timothy Leary zählten zu seinem Umfeld.
Ein Buch als begehbare Erinnerung
Ferenc Kréti gelingt es in seinem Buch, all diese Stränge zusammenzuhalten. Er wählt bewusst einen nicht-linearen Zugang. Seine Fotografien zeigen Werke ungarischer Konstruktivist:innen im Licht privater Räume – aufgenommen über Monate hinweg mit wechselnden Lichtverhältnissen. Diese Fotografien werden kombiniert mit Zitaten Laszlos, die aus Interviews und Dokumentationen stammen. Der Text-Bild-Dialog funktioniert wie ein inneres Gespräch über Exil, Erinnerung, Kunst und Gegenwart.
Ein Höhepunkt ist das Interview mit dem Verleger Udo Breger aus dem Jahr 1980 – ein dokumentarisches Selbstporträt, das Laszlos Haltung zur Kunst, zur Psychoanalyse und zur eigenen Überlebensgeschichte verdeutlicht: eigenwillig, provozierend, reflektiert. Keine Selbstmythologie, sondern ein Gespräch in der Schwebe.
Der Verzicht auf ein lineares Erzählen ist kein ästhetischer Selbstzweck. Es ist eine angemessene Form, um ein Leben zu zeigen, das sich nicht vereindeutigen ließ – weder biografisch noch politisch noch kunsthistorisch.
Verlust als historische Konstante
Laszlo verfolgte das Ziel, ungarische Kunst nach Ungarn zurückzubringen – im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn. 2006 gelang es ihm, einen Teil seiner Sammlung in der Stadt Veszprém im Dubniczay-Palast öffentlich zu zeigen. Auf der damaligen Website der Sammlung hieß es noch, man zeige „rund 200 Werke“, darunter Arbeiten von László Moholy-Nagy, János Mattis-Teutsch oder Marcello Morandini.
Markus Wüst zitierte 2023 aus dem Nachruf auf Laszlo in der «Basler Zeitung» vom 16. November 2013: „Wenn man Carl Laszlo besuchte, besuchte man nicht nur einen Menschen oder Künstler und Sammler, sondern ein Gesamtkunstwerk, das er selbst über Jahre hinweg in einem kleinen Häuschen im Gellertquartier angelegt hatte. Sobald man durch die Tür kam, betrat man eine sakrale Welt. Ein Tempel des Dunklen, ein Tempel des Schwülstigen, Schönen.“
Carl Laszlos Sammlungen existieren heute nicht mehr. Weder in Ungarn noch in Basel. Nach seinem Tod wurde sie weder von einer Institution übernommen noch dauerhaft gesichert. Die von ihm gestiftete Ausstellung im ungarischen Dubniczay-Palast in Veszprém, wo er 2006 seine Werke der Öffentlichkeit zugänglich machte, wurde bald nach seinem Tod geschlossen. Ein Großteil seiner Sammlung wurde 2016 versteigert.
Heute ist die Ausstellung nicht mehr vorhanden; viele der Werke befinden sich erneut in Privatbesitz oder auf dem internationalen Kunstmarkt. Dies spiegelt die Vulnerabilität nicht-institutionalisierter Kunstarchive wider – insbesondere dann, wenn sie mit einer singulären Persönlichkeit verbunden sind, deren Nachruhm sich erst posthum entfaltet.
In einem Gespräch mit dem Galeristen und Freund Miklos von Bartha, das Ferenc Kréti dokumentiert, heißt es auf die Frage, was von Laszlos Sammlung bleibe: „Nichts! Nichts bleibt!“
Immerhin bleibt dieses Buch. Es ergänzt die bereits 1998 von Ines Geipel und Maren Ulbrich herausgegebene Publikation »Der Sammler Carl Laszlo. Facetten der Moderne« anlässlich einer Potsdamer Ausstellung, die inzwischen vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich ist.
Umso mehr ist dem Buch ein großes Publikum zu wünschen und ein Kunstmuseum in Deutschland, das der verstreuten Sammlung von Carl Laszlo eine freundschaftliche Ausstellung widmen möchte: Denn bekanntlich sind es Freundschaften, die uns einen Kontinent eröffnen.
Ferenc Kréti, Home is where my art is. Ein Besuch bei Carl Laszlo und der (ungarischen) Avantgarde, Moloko Print, Schönebeck 2025 [ISBN 978-3-910431-81-2]