28.05.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Gesellschaft

NOlympia ist ein Ja zu Berlin

Schriftzug auf einem Berliner Gehweg

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Ablehnung der Berliner Olympiabewerbung bedeutet weder Kleingeist noch Verzicht. Es ist die bewusste und abgewogene Entscheidung, die tatsächlichen Prioritäten für Berlins Zukunft zu setzen. Die Bundeshauptstadt steht vor gewaltigen finanziellen, sozialen und demokratischen Herausforderungen. Statt Milliarden in ein risikoreiches Großprojekt zu stecken, braucht Berlin eine Strategie, die ihre Ressourcen gezielt auf soziale Infrastruktur, Klimaanpassung, funktionierende Verwaltung und eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung lenkt. Dabei sind die Bürger:innen direkt einzubeziehen, statt vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Der Berliner Landeshaushalt 2025 weist bekanntlich ein Milliarden-Defizit auf. In der Stadt wird mal wieder „gespart bis es quietscht“, worunter unter anderem die Kulturinstitutionen massiv zu leiden haben. Privatisierungen statt öffentliche Verantwortung stehen auf der Agenda des schwarz-roten Senats. Manche Diskussionen, inklusive der Olympia-Bewerbung, klingen als feierten die 1990er Jahre in Berlin wieder Renaissance.

Für die Jahre 2026 und 2027 sind weitere Kürzungen vorgesehen. Notwendige Investitionen in Schulen, Kitas, Verwaltung, Verkehrsinfrastruktur und Digitalisierung werden durch Haushaltsrisiken wie steigende Sozialausgaben, Inflation und Zinsbelastungen gebremst. Dennoch sollen parallel dazu bereits enorme Investitionssummen für ein temporäres Event blockiert werden. Das passt nicht zusammen – im Gegenteil.

Schon die Schätzungen der Bewerbungskosten für eine Olympiade belaufen sich international häufig auf mehrere hundert Millionen Euro, noch bevor überhaupt ein Spatenstich erfolgt. Die Londoner Spiele 2012 beispielsweise hatten ursprünglich geplante Kosten von 4,0 Milliarden Pfund – am Ende lagen die tatsächlichen Kosten bei 9,3 Milliarden Pfund (National Audit Office UK, 2013). Die Oxford Olympics Study (Flyvbjerg et al., 2016), die alle Sommerspiele seit 1960 analysierte, zeigt eine durchschnittliche Kostenüberschreitung von 156 %. Diese Kostensteigerungen sind kein Einzelfall, sondern systemimmanent. Es wäre fahrlässig, Berlins knappe öffentliche Mittel in ein derart riskantes Projekt zu lenken.

Es geht nicht darum, Sport gegen Soziales auszuspielen. Weil eine Stadt zuerst ihre Grundfunktionen, sozialen Netze und demokratischen Räume absichern muss, kann sie sich keine Milliardenprojekte leisten, die vor allem internationalem Glanz dienen.

Die Pro-Argumente sind bekannt und empirisch schwach

Die Befürworter einer Berliner Bewerbung machen mobil – mit den alten, bereits bekannten um empirisch schwachen Argumenten. Bei einer Veranstaltung der Initiative „Wir für die Spiele“ warben prominente Sportlerinnen wie die Olympiasiegerinnen Heike Drechsler und Svenja Brunckhorst für Berlin als Austragungsort. Christopher Krähnert, Präsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft in Berlin, führte an, man wolle mit den Spielen auch den Sanierungsstau bei den Sportstätten beenden und Infrastruktur, Inklusion sowie Demokratie stärken.

Doch hier lohnt ein kritischer Blick: Die Behauptung, Olympia mobilisiere notwendige Mittel für Sportstättensanierung, ist empirisch schwach unterlegt. Analysen vergangener Olympiastädte zeigen, dass die olympischen Mittel vorrangig in repräsentative Anlagen fließen, nicht aber in den Breitensport oder in die nachhaltige Aufwertung lokaler Sportinfrastruktur (Zimbalist, 2017; Gaffney & Mascarenhas, 2005). Oft verschärfen sich Ungleichheiten sogar, weil prestigeträchtige Arenen gebaut werden, während kommunale Sportplätze und Schwimmhallen weiterhin unterfinanziert bleiben. Die Erfahrung lehrt: Wer Sportstätten sanieren will, braucht eine eigene kommunale Sportstrategie – kein milliardenschweres Event.

Ebenso wenig überzeugt das Demokratie-Argument. Demokratische Legitimität entsteht nicht durch die Vergabe eines internationalen Megaevents, sondern durch transparente, faire und partizipative Verfahren vor Ort. Wenn Olympia als Instrument verkauft wird, um Inklusion oder Mitbestimmung zu stärken, steht das im Widerspruch zu den Erfahrungen der Vergangenheit: Sicherheitsauflagen, kommerzielle Interessen und IOC-Vorgaben haben in vielen Städten zu Einschränkungen der Bürgerrechte und zur Privatisierung öffentlicher Räume geführt (Lenskyj, 2008).

Berlin sollte von Hamburg lernen – unabhängig von Olympia

Ob man den Bürger:innen Hamburgs Olympische Spiele wünschen möchte, sei dahingestellt. Immerhin lässt der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg seine Bürger:innen, wie in der Vergangenheit, selbst über die Bewerbung der Stadt entscheiden. Anders als der Senat der Bundeshauptstadt.

Darüber hinaus leben Hamburg und Berlin in haushaltspolitisch völlig unterschiedlichen Welten. Hamburg nutzt ein kaufmännisches (doppisches) Haushalts- und Rechnungswesen. Dort werden Investitionen nicht als einmalige Belastung betrachtet, sondern als langfristige Vermögenswerte, die aktiviert und über Jahre abgeschrieben werden. Das schafft größere finanzielle Flexibilität, gerade in Krisenzeiten: Hamburg kann gezielt gegensteuern, weil es nicht allein auf den jährlichen Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben schaut, sondern auf die langfristige Tragfähigkeit seines Gesamtvermögens.

Berlin dagegen arbeitet mit dem klassischen kameralistischen System. Hier gilt: Alles, was investiert wird, muss im selben Haushaltsjahr gegenfinanziert werden – entweder durch Einnahmen oder durch Kürzungen an anderer Stelle. Spielräume entstehen kaum, Rücklagen sind formal eng gebunden, die Schuldenbremse zieht zusätzliche Grenzen. In der Krise führt das dazu, dass Berlin sofort kürzen muss, statt antizyklisch investieren zu können.

Vor diesem Hintergrund ist klar: Während Hamburg auch in schwierigen Zeiten handlungsfähig bleibt und politische Spielräume für große Projekte hat, würde Berlin mit einer Olympia-Bewerbung seine finanziellen Probleme nicht lösen, sondern eher verschärfen. Jede zusätzliche Belastung würde in Berlin bedeuten, dass an anderer Stelle gekürzt oder umgeschichtet werden muss – in einer Stadt, die ohnehin mit dringenden Herausforderungen in Schulen, Verkehr, Verwaltung und Klimaanpassung kämpft.

Anstatt sich auf ein Großprojekt mit ungewissem Ausgang einzulassen, wäre es für Berlin klüger, über eine grundlegende Reform seiner Finanzsteuerung nachzudenken. Ein System, das langfristige Investitionen als Vermögensaufbau versteht und nicht sofort als Haushaltslast behandelt, könnte der Stadt helfen, strategische Spielräume zurückzugewinnen – ganz unabhängig von Olympia.

Die progressive Perspektive: Was Berlin wirklich braucht

Die Berliner NOlympia-Kampagnen der Vergangenheit und auch gegenwärtig orientieren genau auf eine zukunftsfähige und gemeinwirtschaftliche Stadtentwicklung. Ihre Kritik richtete sich nicht nur gegen lokale Kosten, sondern auch gegen die strukturellen Bedingungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), das Städte in einen hochkommerzialisierten Wettbewerb zwingt, der kaum Rücksicht auf lokale Bedürfnisse nimmt. Diese zivilgesellschaftlichen Bewegungen haben wichtige Debatten angestoßen, die über Berlin hinausstrahlen und von einer modernen, nachhaltigen Stadtpolitik ernst genommen werden sollten.

Ein zukunftsfähiges Berlin muss sich den eigenen Basisfunktionen stellen. Die Stadt leidet unter chronischen Problemen bei Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Sauberkeit – und zwar nicht im Sinne einer konservativen „Law and Order“-Rhetorik, sondern als Fundament solidarischer Stadtorganisation. Wer sich auf den ÖPNV verlässt, muss sich darauf verlassen können; wer auf Ämtern einen Pass beantragt, darf nicht monatelang warten müssen; wer öffentliche Räume nutzt, sollte diese in einem guten Zustand vorfinden. Solidarität braucht funktionierende Grundsysteme. Berlin in diesem Sinne zu entwickeln, ist Projekt olympischer Dimension, das an die tatsächlichen Alltagsbedürfnisse der Stadtgesellschaft anschließt.

Was Berlin wirklich braucht, ist eine soziale und ökologische Investitionsoffensive: mehr bezahlbarer Wohnraum, mehr Mittel für Schulen, Kitas, Gesundheits- und Kulturangebote, eine klimafreundliche Mobilitätswende. Diese Ziele erfordern keine olympischen Spiele, sondern eine politische Prioritätensetzung, die Gemeinwohl vor Prestige stellt. Eine progressive Stadtpolitik lebt davon, sich an den Alltagsproblemen der Menschen zu orientieren, nicht an temporären Großereignissen. Öffentliche Räume müssen zu Orten der Demokratie und Teilhabe gemacht werden – nicht zu Sicherheitszonen für internationale Gäste.

Eine progressive Stadtpolitik, über die im kommenden Herbst bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus entschieden wird, muss sich auf das konzentrieren, was die Stadt wirklich voranbringt: soziale Infrastruktur ausbauen, den Umbau zu einer klimafreundlichen Stadt beschleunigen, neue Formen der Teilhabe ermöglichen, demokratische Innovationsräume öffnen.

Die Bewerbung für die Olympischen Spiele passt nicht in diese Prioritäten, weil sie vor allem auf außenpolitische Sichtbarkeit und sportliches Prestige zielt, nicht aber auf die sozial-ökologische Transformation, die Berlin dringend benötigt.

Das Olympia-Bewerbungsmodell ist unzeitgemäß

Grundsätzlich stellt sich zudem die Frage, ob das Format der olympischen Städtebewerbungen noch zeitgemäß ist. Weltmeisterschaften wie die Fußball-WM werden längst länderübergreifend ausgerichtet: Deutschland organisiert die EM 2024 als nationale Aufgabe; die WM 2026 wird sogar von drei Ländern – USA, Kanada und Mexiko – gemeinsam veranstaltet. Warum sollte Berlin allein für Olympia antreten? Eine zukunftsfähige Variante wären gemeinsame, nationale oder europäische Bewerbungen, die Belastungen verteilen, Ressourcen bündeln und ein integratives Signal setzen, statt Städte in einen teuren Wettbewerb zu zwingen.

Nicht zuletzt ist auch der demokratische Aspekt relevant. Andere Städte und Regionen haben ihre Bürger:innen über Olympia abstimmen lassen – Hamburg, München, Calgary, Innsbruck, Graubünden. Meist fiel die Entscheidung gegen eine Bewerbung aus. Dass der schwarz-rote Berliner Senat derzeit keine Abstimmung plant, wirkt unzeitgemäß. Wie Wolfgang Merkel (Demokratie und Krise, 2015) betont, entsteht Legitimität heute nicht allein durch repräsentative Verfahren, sondern durch partizipative Elemente. Ein Projekt dieser Größenordnung sollte öffentlich legitimiert werden, um Vertrauen zu stärken und gesellschaftliche Spaltungen zu vermeiden. Beteiligung ist keine Last, sondern eine demokratische Notwendigkeit.

Der Senat hätte mit den interessierten Städten und Bundesländern ein gesamtdeutsches Bewerbungskonzept auf den Weg bringen können, dass die Rhein-Ruhr-Bewerbung als Ausgangspunkt nimmt. So wären die Kosten und Belastungen gleichmäßiger verteilt worden und ein Mehrwert für die ganze Republik entstanden.

Kurzum: NOlympia ist ein Ja zu Berlin, weil es ein Ja zu einer Stadt ist, die den Menschen gehört – nicht internationalen Verbänden wie dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), das Städte in einen hochkommerzialisierten Wettbewerb zwingt, der wenig Rücksicht auf lokale Bedürfnisse nimmt. Berlins Olympiabewerbung ist ein Projekt aus einer vergangenen Zeit. Statt „Zurück in die Zukunft“ Teil 3 geht es um nicht weniger als eine zuverlässige, solidarische und nachhaltige Stadtpolitik mit selbstverständlicher demokratischer Teilhabe von den Quartieren ausgehend, über Berlins zwölf Bezirke bis zum Roten Rathaus.