Diskursive Schuldabwehr und Shoah-Trivialisierung von rechts und links
Am 7. Oktober 2023 griff die Hamas Israel mit einem beispiellosen Angriff an, der Hunderte Zivilist:innen tötete, Entführungen auslöste und international Entsetzen hervorrief. Israels Krieg gegen die Hamas, war, wie Navid Kermani und Natan Sznaider am 28. April 2025 in der Süddeutschen Zeitung in einem Gastbeitrag formulierten: „eine Reaktion auf den Massenmord am 7. Oktober und daher nicht nur verständlich, sondern – soweit Kriege überhaupt zu rechtfertigen sind – im Grundsatz legitim.“ Mit dem einseitigen Bruch des Waffenstillstandsabkommens durch Israel am 18. März dieses Jahres habe sich die Situation grundlegend geändert, wie Kermani/Sznaider weiter ausführen.
Die Regierung Netanjahu habe faktisch aufgegeben, das Leben der Geiseln zu retten, und behandele die verzweifelten Angehörigen sogar als Störfaktor, weil sie daran erinnerten, dass die militärische Vernichtung der Hamas und die Befreiung der Geiseln nicht gleichzeitig zu erreichen seien. Darüber hinaus betreibe die israelische Regierung systematisch die Zerstörung des verbleibenden palästinensischen Elends, die Vertreibung der Bevölkerung aus Gaza und deren jüdische Besiedlung. Diese Politik werde durch den Stopp humanitärer Hilfen, offene Kriegsverbrechen und Pläne zur ethnischen Säuberung vorangetrieben, die in Washington diskutiert, in Tel Aviv als Regierungspolitik formuliert und von der Armee in Gaza bereits umgesetzt würden.
Der Text betont, dass es für diese Politik keine moralische oder strategische Rechtfertigung gebe, zumindest nicht, wenn man an einer lebenswerten Zukunft Israels interessiert sei. Vielmehr zerstöre die Regierung Netanjahu all das, was den jüdischen Staat nach dem Holocaust ausgemacht habe: Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Demokratie und Weltoffenheit. Kritische Stimmen würden pauschal als antisemitisch diffamiert, während sich die Regierung gleichzeitig mit internationalen Rechtsextremen auf Antisemitismus-Konferenzen verbünde.
Während weltweit über die sicherheitspolitischen, humanitären und diplomatischen Folgen diskutiert wird und Sznaider/Kermani nicht nur in diesem Gastbeitrag, sondern gemeinsam mit weiteren Akteur:innen, wie z.B. Eva Illouz, bedeutsame Positionen einnehmen, die darauf abzielen, nicht nur diesen Krieg zu beenden, sondern auch dauerhafte Lösungen für eine friedliche Entwicklung der Region zu entwickeln, entfalteten sich in Deutschland und Österreich Debatten, die weit über das aktuelle Geschehen hinauswiesen. Sie berührten grundlegende Fragen der Erinnerungskultur: Welche Rolle spielt die historische Verantwortung für den Holocaust? Wie wird mit deutscher und österreichischer Schuld umgegangen – und inwiefern wird sie politisch instrumentalisiert?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich das Working Paper »‚Schuldkult‘ und ‚German Guilt‘. Rechte und linke Abwehr durch Projektion im Kontext des 7. Oktobers« der Soziologin Elke Rajal, das 2025 als Working Paper Nr. 031 am Center for Antisemitism and Racism Studies (CARS) der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen erschienen ist.
Rajal arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Passau und promoviert zu den Zusammenhängen von NS-Aufarbeitung und Antisemitismus in Deutschland und Österreich.
In dem Working Paper untersucht Rajal, wie nach dem 7. Oktober sowohl in der extremen Rechten als auch in Teilen der antiimperialistischen Linken Schuldabwehrmechanismen sichtbar wurden, die sich in antisemitischen und verschwörungstheoretischen Narrativen bündeln. Sie analysiert dabei zentrale Begriffe wie „Schuldkult“ (im rechten Diskurs) und „German Guilt“ (im linken Diskurs) sowie die jeweiligen Projektionen, die Täter-Opfer-Umkehr, Shoah-Trivialisierung und die Externalisierung historischer Verantwortung ermöglichen.
Theoretisch stützt sich Rajal auf Konzepte wie Adornos Schuldabwehrantisemitismus und auf Debatten um den Historikerstreit 2.0 und nutzt als empirisches Material bezogen auf die Neue Rechte unter anderem Texte aus deren bekanntestem Magazin: »Sezession« sowie von Akteuren wie dem österreichischen Aktivisten der Neuen Rechten, Martin Lichtmesz, oder dem bekannten Vertreter der österreichischen Identitären Bewegung, Martin Sellner, die allesamt großen Einfluss auf die gegenwärtige Ausprägung sowohl der FPÖ aber auch der AfD und ihrem Umfeld hierzulande haben.
Im Hinblick auf linke Medien stützt sich Elke Rajal insbesondere auf das trotzkistische Magazin »marx21«. Hierbei handelt es sich um ein Netzwerk in der Traditionslinie von Tony Cliff (ursprünglich geboren als Yigael Gluckstein) und Teil der International Socialist Tendency (IST). Darüber hinaus betrachtet sie das österreichische Online-Magazin »Die Rote Fahne«, nicht zu verwechseln mit den unterschiedlichen gleichnamigen Zeitungen diverser stalinistischer Kleingruppen in Deutschland, aber auch Beiträge aus dem »Jacobin«-Magazin.
Überzeugend umschifft Rajal eine pauschale Gleichsetzung der antagonistischen politischen Lager und arbeitet dennoch spezifische diskursive Parallelen heraus – etwa die Vorstellung, Holocaust-Erinnerung sei primär ein Herrschaftsinstrument oder werde zur Unterdrückung nationaler bzw. antiimperialistischer Anliegen eingesetzt. Ergänzt wird die Analyse durch Verweise auf empirische Studien wie die Leipziger Autoritarismus-Studie und österreichische Befragungen zu antisemitischen Einstellungen.
Gleichwohl bietet das Paper auch Ansatzpunkte für kritische Diskussion. Während die Analyse der extremen Rechten mit großer Sorgfalt und historischer Tiefenschärfe ausgearbeitet ist, bleiben die Passagen zu den linken Diskursen mitunter etwas schematisch. Die Auswahl der untersuchten Texte konzentriert sich stark auf trotzkistische und revolutionär-sozialistische Strömungen, während Differenzierungen innerhalb linker Milieus – etwa postkoloniale Perspektiven, die sich gegen antisemitische Argumentationsmuster positionieren – weitgehend ausgespart bleiben. Hier hätte eine stärkere Differenzierung zusätzlichen analytischen Mehrwert geboten. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern Rajals Analyse ausreichend zwischen antisemitisch aufgeladenen Schuldabwehrdiskursen und legitimer, auch scharfer politischer Kritik an der konkreten Politik der israelischen Regierung differenziert. Schließlich trägt das Paper eine klare normative Haltung gegen Shoah-Trivialisierung, Täter-Opfer-Umkehr und antisemitische Projektionen – eine Haltung, die analytisch noch stärker hätte reflektiert werden können, gerade weil die untersuchten Themen nicht nur wissenschaftliche, sondern auch moralische Herausforderungen darstellen, wie einleitend anhand der Argumentation von Kermani/Sznaider herausgearbeitet wurde.
Im wissenschaftlichen Diskurs reiht sich Rajals Untersuchung in wichtige Arbeiten zur Analyse von Schuldabwehrantisemitismus, israelbezogenem Antisemitismus und postkolonialen Erinnerungskonflikten ein. Durch die parallele Betrachtung rechter und linker Diskurse werden diese Arbeiten um eine weitere Perspektive erweitert.
Vor dem Hintergrund aktueller Debatten um Kunstfreiheit, Erinnerungskultur und Antisemitismusbekämpfung liefert dieses Working Paper substanzielle Impulse, um die Gefahren diskursiver Überschneidungen und – gerade aufgrund der berechtigten Ablehnung des sogenannten Hufeisentheorems – gleichwohl notwendigen Analyse struktureller Argumentationsgemeinsamkeiten zwischen neurechten und antiimperialistischen Politiken sichtbar zu machen.
Die Arbeit von Elke Rajal bietet Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen, sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der politischen Öffentlichkeit, und lädt dazu ein, differenziert über historische Verantwortung und ihre gegenwärtigen Instrumentalisierungen nachzudenken.
Rajal, Elke (2025): ‚Schuldkult‘ und ‚German Guilt‘. Rechte und linke Abwehr durch Projektion im Kontext des 7. Oktobers, Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, CARS Working Papers 31 (hrsgg. v. Stephan Grigat und Martin Spetsmann-Kunkel), Aachen, DOI: https://doi.org/10.17883/5816