In der Stadt liegt die Kraft
Auf eigenen Wunsch endet dieser Tage die Amtszeit des Sozialdemokraten Stefan Weil als Ministerpräsident in Niedersachsen. Der „Normal One“, wie er tituliert wurde, und in den Worten von Carsten Bergmann (Neue Presse) „ein Landesvater im besten Sinne“, regierte ab 2013 zuerst in einer rot-grünen Koalition, dann in einem Bündnis mit der CDU und zuletzt erneut mit seinem Wunschpartner den Grünen. Der als ausgesprochen bürger:innennah geltende Weil war zuvor Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover. Dort stellte er sich monatlich im Lokalfernsehen h1 live den Fragen von Bürger:innen in der Sendung „Warum, Herr Weil?“.
Als die CDU in Thüringen bei der letztjährigen Kommunalwahl das Erfurter Rathaus nach vielen Jahren von der SPD eroberte, war beim Landes- und Fraktionsvorsitzenden, Mario Voigt, die Freude groß. Seinen Wahlkampf bestritt der heutige Ministerpräsident jedoch mit der populistischen Erzählung eines Stadt-Land-Konflikts, in dem sich die vermeintliche Normalität des ländlichen Raums gegen die gefühlte Dominanz sogenannter woker rot-rot-grüner Stadt-Eliten behaupten müsse.
Die Rolle der Städte zu verstehen, statt Spaltungsnarrative zu verstärken, bedeutet nach Peter Kurz nicht, „bei der bloßen Beschreibung und der schon in der Bibel manifesten, zwischen Überhöhung und Verdammung oszillierenden Bewertung der Stadt“ stehenzubleiben.
Für den früheren SPD-Oberbürgermeister von Mannheim, ist die Stadt eine „Lebensform mit großer politischer Relevanz“, ein Öko-System, dessen Relevanz auf der Verknüpfung von Wissen, Infrastruktur, Kapital und Wertschöpfung basiert:
„Diese Konzentration macht Städte zugleich zu den Orten mit dem höchsten Ressourcenverbrauch und damit automatisch zum Handlungsort mit der größten Hebelwirkung für Veränderung. […] Politik vor Ort ist nicht einfacher und das politische System ist nicht per se stabiler und wirksamer als die nationale und internationale Politik. Aber: Die Stadt bietet bessere Voraussetzungen für eine zeitgemäße Politik, die den Herausforderungen gerecht wird. Und diese müssen dringend genutzt werden.“
Im Verlag S. Fischer hat Peter Kurz, der 16 Jahre als Stadtoberhaupt und zuvor acht Jahre als Dezernent tätig war, ein ebenso lehrreiches wie kurzweiliges Büchlein veröffentlicht. In zehn kurzen Kapiteln und auf etwas mehr als 110 Seiten skizziert Peter Kurz ein Leitbild lokaler Politik, das erkennbar von der Authentizität und Erfahrung desjenigen geprägt ist, der aus eigener Erfahrung weiß, worüber er spricht.
Corona-Krise, Klimawandel, Bauwende und Wohnungskrise, wirtschaftliche oder digitale Transformation – bei all diesen Themen benötigt es die kommunale Erfahrung, um die Wirksamkeit von Maßnahmen zu identifizieren und von unterschiedlichen Herangehensweisen zu lernen. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden die Städte gemeinhin nicht gehört. Das ist ein weltweites Defizit, kein deutsches Phänomen. Doch daran, dass Deutschland zwar ein Mehrebenensystem hat, aber keine tatsächliche Multi-Level-Governance, im Sinne von Kurz verstanden als Fähigkeit aller Ebenen, „am Design der Politik durch Beratung mitwirken [zu] können“ und das Handeln aufeinander abzustimmen, ließe sich durchaus etwas ändern.
Der Koalitionsvertrag der schwarz-roten Koalition im Bund sieht zwar ambitionierte Ziele bei der Staatsmodernisierung vor, auch basierend auf den Vorarbeiten der Initiative für einen handlungsfähigen Staat, doch eine verbesserte Multi-Level-Governance ist darin nicht zu erkennen. Ein Fehler, denn Governance in diesem Sinne bedeutet nicht mehr und nicht weniger als Regieren als Lernprozess, in dem Korrekturen kein Eingeständnis von Scheitern, sondern von vornherein mitgedacht sind.
Den Übergang von Standards und abstrakten politischen Zielformulierungen hinzu Wirkungszielen, für die Peter Kurz plädiert, immerhin hat sich der Bund als Teil der Staatsmodernisierung vorgenommen. Was das konkret bedeutet, erläutert Kurz anhand einleuchtender Beispiele und auch überraschenden Daten. Wenn er – natürlich provokant und zugleich zum Nachdenken anregend – die Rechnung aufmacht, ob es tatsächlich sinnvoll ist, „in einer Zeit größter bildungspolitischer Herausforderungen in einer Stadt wie Mannheim über Jahre hinweg 25-30 % aller Investitionen im Bildungsbereich in den Brandschutz“ zu investieren, obwohl das Ziel der Vermeidung von Bränden an weiterführenden Schulen mit größeren Personenschäden, wohl nicht nur in Mannheim, erreicht ist, die PISA-Reformziele jedoch noch nicht.
An Wirkungszielen orientierte Politik bedeutet freilich nicht automatisch bessere Politik oder Verwaltung. Dafür ist ein Wandel in der Kultur nötig, für den es Zeit brauchen wird. Und die Bereitschaft, sich auf diesen Kulturwandel einzulassen, umzudenken.
Dafür sind die lokalen Gemeinwesen generell und die Städte im Besonderen nach Auffassung von Peter Kurz prädestiniert. Letzteren spricht er andere Erfahrungen und eine daraus abgeleitete andere Haltung zu als dem Nationalstaat. In einer Stadt, deren Einwohner:innen mit Stand Ende 2024 einen Migrationsanteil von 49,4 % haben, davon 20,6 % mit deutscher Staatsangehörigkeit und 28,8 % ausländischer Staatsangehörigkeit, ist die „Spannung zwischen nationalstaatlichen ‚Abwehrstrategien‘ durch Verhinderung von Integration einerseits und dem lokalen Bedürfnis, die soziale Gemeinschaft zu stabilisieren, andererseits“ groß. Das Kapitel, indem Peter Kurz dieses Spannungsverhältnis beleuchtet, trägt die wunderbare Überschrift: „Die Mutter aller Probleme: Das Versäumnis, Zugehörigkeit und Loyalität zusammenzudenken“. Spätestens hier werden die im besten Sinne sozialdemokratischen Grundwerte deutlich, die den – ganz ohne Wortspiel – roten Faden des Büchleins spinnen.
Das Angebot der Zugehörigkeit zur Stadt an Zuwandernde ist in diesem Sinne verbunden mit der Erwartung der Loyalität zur Stadt, verstanden als städtische Gemeinschaft und der Bereitschaft, die Zugehörigkeit auch anzustreben. „Das ist etwas grundlegend anderes als ein unreflektiertes Feiern von Vielfalt“, formuliert Kurz.
„Es ist Arbeit, Anstrengung, Auseinandersetzung, die sich der so einfachen und sich selbst bestätigenden Rhetorik über die Unmöglichkeit der Verständigung und des Zusammenlebens entgegengesetzt wird.“
Im Ergebnis kann daraus eine lokale Identität entstehen, die nationalstaatliche Herkünfte weniger gewichtig macht, sie in den Hintergrund treten lässt. Peter Kurz beschreibt folgende Szene: „Ein Türkei-stämmiger Junge gibt auf die Frage, für wen er in einem Spiel ‚Deutschland – Türkei‘ gerne auflaufen würde, spontan ‚Türkei‘ zur Antwort. Um nach kurzem Zögern hinzuzufügen: ‚Aber bei Mannheim gegen Türkei würde ich für Mannheim spielen.‘“
Statt dem Dauerlamenti über gescheiterte Migration und härtere Abschiebemaßnahmen nennt Kurz Kriterien einer Migrationspolitik, die Städten gerecht wird. Warum nur, fragt man sich, haben selbst Politiker:innen der Bundes-SPD im vergangenen Wahlkampf nicht mal ihren Genossen Peter Kurz befragt oder das Buch zur Hand genommen?
René Wilke, ehemaliger Linken-Politiker und Oberbürgermeister der Grenzstadt Frankfurt (Oder), nun parteiloser Innenminister Brandenburgs, formulierte im Berliner Tagesspiegel einmal, dass die AfD „geschickt die weniger guten Eigenschaften in Menschen“ ansprechen würde.
Dem würde Peter Kurz wohl zustimmen und einschränkend ergänzen, dass der Verweis auf die AfD allein nicht ausreicht, sondern das Feld für deren erfolgreiche Adressierung in einem fundamentalen und gefährlichen Missverständnis über Politik steckt, das von der Politik aber selbst befeuert wurde: das Politik eine Dienstleistung sei. Klar und unmissverständlich formuliert Kurz:
„Die Zumutungen schwieriger Aushandlungsprozesses und von Veränderungen sind keine Schlechtleistung, für die es sich zu entschuldigen gilt, sie sind der eigentliche Gegenstand von Politik.“
Wie man durch kluge Beteiligung, die sich vom Narrativ „Böser Staat und gute Bürger:innen“ löst, einen lokalen, tragfähigen gesellschaftlichen Dialog entstehen lässt, der von Klarheit und Transparenz lebt, weil dies Vertrauen erzeugt, ist Gegenstand der zweiten Hälfte des Büchleins, indem erneut deutlich wird, wie wichtig lokaler Journalismus aber auch in den Kommunen verankerte Parteien für die kommunale Demokratie sind.
Umso ärgerlicher die Verlagsankündigung des Buches, Peter Kurz habe „zehn Beobachtungen zu den Herausforderungen von Politik und Verwaltung – aus der Alltagspraxis in den Städten und fern von Ideologie und Parteipolitik“ vorgenommen. Wer dies schreibt, hat das Buch entweder nicht gelesen oder dessen Haltung nicht durchdrungen.
Diese Demokratie, lokal und nationalstaatlich steht unter Druck und der Sozialdemokrat Peter Kurz benennt ihre Gegner:innen klar: „Einigendes Band ist die Befreiung der Starken von den Fesseln eines verachteten Staates, in dem alle mitreden können.“ Diejenigen, die Populismus befeuern, sehen ihre Interessen in Ungleichheit bewahrt und in der Demokratie bedroht, beschreibt er auf den Punkt gebracht.
Spricht Peter Kurz im Buch von sich in der „Ich“-Form, dann nicht als ehemaliger Oberbürgermeister, sondern als Teil der Stadtgesellschaft, als Mitglied der neuen Agora, an deren Bau er mitwirken möchte und für deren Errichtung er mit dem Büchlein einen Werkzeugkasten vorlegte.
Ein paar Jahre zuvor schrieb der heutige Kulturstaatsminister im Kanzleramt, Wolfram Weimer, im selben Umfang von 110 Seiten ein Buch, auf dessen Cover der Name des Autors mit Doktortitel erschien. Es trägt den Titel „Das Konservative Manifest. Zehn Gebote der Neuen Bürgerlichkeit“. Der erste Satz der Ankündigung lautet: „Dieses Buch ist Gift für Linke und eine Zumutung für Rechte.“
Solcherart Formulierungen sind Peter Kurz‘ Buch dankenswerterweise fremd. Sein Buch schließt mit der Überzeugung, der an dieser Stelle nichts hinzuzufügen ist:
„Als Demokraten müssen wir verstehen, dass die Gegner der offenen Gesellschaft eine destruktive Strategie haben, denen eine konstruktive Strategie entgegengestellt werden muss, die die jeweils anderen achtet, Institutionen wertschätzt und über Konzepte streitet, nicht über Lebenswelten. Und das kann nicht Politik allein; es liegt an uns.“