12.05.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Kultur

Kulturelle Teilhabe braucht Wissen – und belastbare Daten

Der Autor spielt selbst keine Mandoline, stellte sie als "Instrument des Jahres 2023" aber in Erfurt vor.

Die neue Bundesregierung hat ihre Arbeit aufgenommen. Der Konservative Wolfram Weimer folgte der Grünen Claudia Roth als Kulturstaatsminister nach, während die Thüringer Sozialdemokratin Elisabeth Kaiser ihren ebenfalls Thüringer Parteifreund Carsten Schneider als Ostbeauftragte ersetzt, der als Umweltminister ins Kabinett wechselt.

Der erste Termin der Ostbeauftragten führte sie nach Lutherstadt Wittenberg. Beim ersten »Tag der Kulturfördervereine in Ostdeutschland« ging es u.a. darum, die Vereine besser miteinander und mit potenziellen Förderern aus der Wirtschaft zu vernetzen. Obwohl erst in den vergangenen 35 Jahren entstanden, ist in Ostdeutschland – gemessen an der Zahl der Einwohner:innen – die Dichte dieser Vereine besonders hoch, wie Ulrike Petzold geschäftsführende Vorständin des Dachverbands der Kulturfördervereine in Deutschland gegenüber dem MDR ausführte. Während in der Bundesrepublik ca. 20.500 Kulturfördervereine bestehen, sind es in den ostdeutschen Ländern allein 4.100, von denen fast 90 Prozent rein ehrenamtlich tätig sind.

Im Übrigen sind es auch Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, die ausweislich des Kulturfinanzberichts 2024 die Liste der Flächenländer mit den höchsten Pro-Kopf-Ausgaben für Kultur anführen. Gaben die beiden Bestplatzierten Sachsen und Thüringen pro Kopf im Jahr 2021 für Kultur 237,38 EUR bzw. 190,86 EUR aus, wandten die Letzplatzierten Niedersachsen und Rheinland-Pfalz immerhin noch 84,61 bzw. 74,05 EUR für Kulturausgaben auf. Die Gemeinden finanzierten 2021 für laufende Zwecke im Kulturbereich durchschnittlich 69,11 Euro je Einwohner:in.

Naturgemäß sind aufgrund der höheren Dichte von Kulturangeboten und deren Bedeutung für das Umland die Kulturausgaben der Großstädte je Einwohner:in höher als die Ausgaben der kleineren Gemeinden. In der Betrachtung des Kulturfinanzberichts bedauerlicherweise weiterhin nicht aufgenommen ist eine Differenzierung der Kulturausgaben nicht allein nach Größenklassen der Gemeinden, sondern auch nach der kommunalen Finanzkraft. Zwar birgt, wie Dieter Vesper 2020 in einer Untersuchung für die Friedrich-Ebert-Stiftung darlegte, der Vergleich der kommunalen Haushalte nach Bundesländern einige gewichtige Probleme, aufgrund insbesondere regional unterschiedlich ausdifferenzierter Kommunalisierungsgrade und Unterschieden in der Wahrnehmung der freiwilligen Aufgaben, zu denen die Kulturaufgaben in der Regel gehören. Dennoch zeigt sich trotz dieser methodischen Differenz, dass die ostdeutschen Gemeinden – anders als die Länder – pro Kopf signifikant geringere Einnahmen erzielen und entsprechend weniger Ausgaben tätigen. Die Finanzkraft der ostdeutschen Gemeinden wird auch eine Generation nach der Wiedervereinigung durchschnittlich bei 60 Prozent im Vergleich zu den Gemeinden in den alten Bundesländern.

Gerade in Zeiten knapper öffentlicher Kassen, in denen nicht allein in der Bundeshauptstadt Berlin die Kulturförderung pauschal mit dem Rasenmäher gekürzt wird, braucht es belastbare Daten darüber, was Kultur in der Gesellschaft leistet. Wer verantwortungsvoll mit Steuergeld umgehen will, sollte wissen, wie vielfältig, tragfähig und demokratiestärkend zivilgesellschaftliches Kulturengagement tatsächlich ist – und wo gezielte Unterstützung Wirkung entfalten kann.

Vor diesem Hintergrund erscheint es spannend, zwei jüngst erschienene Untersuchungen gemeinsam zu betrachten: den vom Maecenata Institut erarbeiteten »Lagebericht zum zivilgesellschaftlichen Kulturengagement (ZKE)« sowie den von der Liz Mohn Stiftung in Auftrag gegebenen »Relevanzmonitor Kultur 2025«. Beide Studien eröffnen evidenzbasierte Perspektiven auf eine Kulturpolitik, die gesellschaftliche Teilhabe, Engagement und kulturelle Demokratie ernst nimmt – und legen offen, wo Nachholbedarf besteht.

Der Lagebericht des Maecenata Instituts (Hummel/Priller 2025) unter dem Dach der gleichnamigen Stiftung, einem unabhängigen Think Tank im Themenfeld Zivilgesellschaft, Bürgerengagement, Philanthropie und Stiftungswesen, wurde gefördert von der Kulturstiftung der Länder erarbeitet, um erstmals einen systematischen Überblick über Struktur, Entwicklung und Herausforderungen des zivilgesellschaftlichen Kulturengagements in Deutschland zu liefern. Das Ziel: politische Grundlagen für eine Reform der Förderpraxis und Anerkennungskultur schaffen.

Er basiert auf einer Vielzahl empirischer Quellen und verbindet quantitative mit qualitativen Ansätzen. Herangezogen wurden unter anderem die Daten aus dem Freiwilligensurvey (1999–2019), der ZiviZ-Organisationserhebung (2012, 2017, 2023), die Zeitverwendungserhebungen des Statistischen Bundesamts (zuletzt 2022) sowie frühere Untersuchungen der Enquetekommission »Kultur in Deutschland« [Hier geht’s zum Schlussbericht der Kommission]. Ergänzt wurde diese Datengrundlage durch 21 Expert:inneninterviews mit Akteur:innen aus Kulturpraxis, Verbänden, Wissenschaft und Politik. Diese Kombination erlaubt eine differenzierte Betrachtung des zivilgesellschaftlichen Kulturengagements – nach Sparten, Organisationsformen und sozialen Dynamiken.

Der Relevanzmonitor wurde von der Liz Mohn Stiftung, die sich u.a. für Kultur und Musik engagiert, beauftragt und von forsa empirisch umgesetzt. Der Monitor fragt, wie Bürger:innen Kultur erleben, welche Angebote sie nutzen – und was sie von Kulturinstitutionen erwarten. Im Zentrum stehen Fragen der Zugänglichkeit, sozialen Relevanz und demokratischen Funktion von Kultur. Der Relevanzmonitor betont die gesellschaftliche Funktion von Kultur als Raum für Begegnung, Integration, Selbstvergewisserung und demokratische Reflexion. Besonders die Kapitel zu Theaterhäusern und zum gesellschaftlichen Stellenwert von Kultur zeigen, dass kulturelle Teilhabe nicht nur eine Frage des Angebots, sondern auch der sozialen Zugänglichkeit ist.

Zusammen gelesen entfalten beide Studien eine komplementäre Wirkung: Der eine Bericht analysiert die gesellschaftliche Praxis kulturellen Engagements, der andere die öffentliche Wahrnehmung und Erwartung an Kulturangebote.

Relevanz der Kultur

Im Relevanzmonitor Kultur 2025 wird ein facettenreiches Bild der kulturellen Alltagsrealität in Deutschland gezeichnet. Im Zentrum steht eine Bevölkerung, die mehrheitlich gut informiert und politisch interessiert ist – 84 % der Befragten gaben an, sich regelmäßig über Politik und Zeitgeschehen zu informieren. In ihrem Lebensstil legen viele Wert auf Sicherheit (83 %) und Beständigkeit, doch auch Selbstverwirklichung (69 %) und Traditionspflege (67 %) spielen eine wichtige Rolle. Kulturelle Aktivitäten wie das Lesen von Büchern (52 %) oder Auslandsreisen (50 %) sind im Alltag fest verankert. Dennoch bezeichnen sich nur etwa 40 % als besonders kulturkompetent – ein Wert, der stark mit dem Bildungsniveau zusammenhängt.

In Bezug auf kulturelle Freizeitinteressen zeigt sich ein deutlicher Generationen- und Bildungseffekt: Kino (54 %) und nicht-klassische Konzerte (51 %) stehen ganz oben in der Beliebtheitsskala, während Theater (34 %), Musicals (35 %) und klassische Musik (26 %) deutlich seltener genannt werden. Jüngere Befragte neigen eher zu populärkulturellen Formaten, während ältere Menschen klassische Angebote stärker nachfragen.

Auch die Einschätzung der kulturellen Infrastruktur am Wohnort fällt differenziert aus. Zwei Drittel (69 %) bewerten das vorhandene Kulturangebot als gut, insbesondere in Großstädten. Dennoch finden nur 16 % ein vielfältiges Kulturangebot „sehr wichtig“ für ihre Wohnortwahl – wobei die Zustimmung in urbanen Räumen deutlich höher liegt. Zugleich offenbaren sich erhebliche regionale Unterschiede, die auf eine strukturelle Spaltung zwischen städtischen und ländlichen Kulturangeboten hindeuten.

Der Blick auf die Erwartungen an Theaterhäuser verdeutlicht ein klares gesellschaftliches Stimmungsbild: 89 % der Befragten wünschen sich sozial gerechte Eintrittspreise, 85 % sprechen sich für kindgerechte Formate und zugängliche Inszenierungen aus. Theater sollen humorvoll, verständlich und inklusiv sein. Gleichzeitig zeigen die Daten, dass sich 25 % der Befragten – insbesondere Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau – im Theater „fehl am Platz“ fühlen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, kulturelle Räume niedrigschwelliger und partizipativer zu gestalten.

Trotz dieser Barrieren wird Kultur als gesellschaftlich hoch relevant eingeschätzt. 92 % der Befragten sehen in ihr eine Quelle gemeinschaftlicher Erlebnisse, 90 % eine verbindende Kraft über soziale Unterschiede hinweg. 87 % betrachten Kultur als wichtige Stütze in Zeiten gesellschaftlichen Wandels, 81 % erkennen in Kulturangeboten eine förderliche Rolle für die Demokratie – ein Wert, der bei Befragten mit progressiver politischer Haltung besonders ausgeprägt ist.

Zivilgesellschaftliches Kulturengagement – ein unterschätztes Fundament

Im Maecenata-Bericht zeigt sich: Zivilgesellschaftliches Kulturengagement ist weit verbreitet, aber ungleich verteilt. Mehr als 16 % der Bevölkerung engagieren sich kulturell – vor allem in Musik, Theater, Heimatpflege, Museen und Soziokultur.

Kultur ist nach dem Sport eines der bedeutendsten zivilgesellschaftlichen Handlungsfelder – mit bemerkenswerter Beteiligung über alle Altersgruppen und Sozialmilieus hinweg. Zwischen 1999 und 2019 etwa stieg der Anteil engagierter 30–49-Jähriger um rund zehn Prozentpunkte.

Der Freiwilligensurvey, die ZiviZ-Erhebungen und die Zeitverwendungserhebungen belegen: Kulturengagement wächst nicht linear, sondern fragmentiert – mit rückläufiger Bereitschaft zu langfristigem Ehrenamt und sinkenden Engagementzeiten. Besonders aktiv: Personen mit hohem Bildungsgrad und stabilem sozialen Umfeld.

Diese Entwicklung reflektiert sich im Relevanzmonitor 2025, der feststellt, dass sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht als kulturell kompetent (wobei offenbleibt, was die Betreffenden selbst darunter verstehen) oder willkommen in klassischen Kulturinstitutionen fühlt. Während 90 % Kultur als gesellschaftlich wichtig einstufen, fühlen sich 25 % „im Theater fehl am Platz“ – vor allem bildungsferne Gruppen.

Der Lagebericht verweist zurecht auf die gravierenden Defizite in der Datenlage: Kulturengagement wird in allgemeinen Engagementstudien oft nur am Rande erfasst, spartenübergreifende Analysen fehlen. Dieser Befund deckt sich mit Forderungen des Deutschen Kulturrats und des BBE (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement), die schon seit Jahren eine engagementpolitisch fundierte Kulturstatistik fordern.

Die große Stärke des Lageberichts liegt in der Differenzierung des zivilgesellschaftlichen Kulturengagements entlang von elf Kulturbereichen – von der Musik bis zur Archäologie, von der Soziokultur bis zur Baukultur. Diese kartografierende Bestandsaufnahme zeigt die Vielfalt des Engagements, seine sozialen Funktionen, aber auch strukturelle Schieflagen. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung der Soziokultur als Beteiligungsformat für marginalisierte Gruppen oder die detaillierte Analyse des Ehrenamts in Museen und Denkmalpflege.

Gleichzeitig macht die Studie sichtbar, dass viele Bereiche des ZKE – etwa die Literatur oder die bildende Kunst – kaum systematisch erforscht sind. Dieses Ungleichgewicht wirft Fragen nach Anerkennungs- und Förderlogiken auf, die bestimmte Engagementformen (wie die Vereinsstruktur) privilegieren, während andere (wie informelle digitale Communities) unter dem Radar bleiben. Ähnlich argumentiert die Studie »Zivilgesellschaftliche Organisationen im Wandel« (ZiviZ-Survey, 2023), die ebenfalls auf eine mangelnde Anerkennung migrantisierter und informeller Engagementformen hinweist.

Erwartungen, Realität, Herausforderungen

In einem weiteren Kapitel liefert der Lagebericht einen empirisch dichten, qualitativen Zugang durch 21 Expert:inneninterviews. Die Aussagen bestätigen viele der zuvor dargestellten Trends – etwa Nachwuchsmangel, die Überlastung ehrenamtlicher Leitungsfunktionen oder die unzeitgemäßen Förderlogiken. Besonders wichtig ist die Beobachtung, dass klassische Engagementmotive wie „Verantwortung übernehmen“ oder „Gemeinschaft erleben“ heute neu gerahmt werden müssen: Jüngere Menschen wünschen sich mehr Flexibilität, Augenhöhe und digitale Anknüpfungspunkte.

Die Interviewpassagen legen den Finger auf ein zentrales Dilemma: Während ZKE hohe gesellschaftliche Erwartungen erfüllen soll (Demokratie, Integration, Teilhabe), bleibt seine strukturelle Absicherung prekär. Diese Diskrepanz ist auch Gegenstand anderer Untersuchungen, in denen auf die Überforderung kleiner Träger durch komplexe Antragsverfahren und wachsende Aufgaben hingewiesen wird.

Der Lagebericht schließt mit konkreten Handlungsempfehlungen, die von der Verbesserung der Datenlage über die Förderung digitaler und diversitätssensibler Kompetenzen bis hin zur institutionellen Anerkennung reichen. Zivilgesellschaftliches Kulturengagement wird nicht romantisiert, sondern in seiner realen Wirkmacht, aber auch strukturellen Fragilität gezeigt.

Deutlich wird aus der Lektüre beider Untersuchungen: Zivilgesellschaftliches Engagement im Kulturbereich braucht strukturelle Anerkennung, Ressourcen und Sichtbarkeit. Hierzu ist es erforderlich, die Datenlage und Wirkungsmessung zu systematisieren und zu verstetigen, um gezielte Strategien zu entwickeln und aus der Umsetzung zu lernen.

Dafür wäre es wichtig, die Arbeit von Einrichtungen wie z.B. dem Berliner Institut für Kulturelle Teilhabeforschung stärker zu unterstützen. Zu befürchten ist jedoch, dass die Handlungsmöglichkeiten aufgrund der auch für die kommenden Jahre vorgesehenen Kulturkürzungen weiter beschnitten werden.

 

Siri Hummel/Eckhard Priller, Zivilgesellschaftliches Kulturengagement. Ein Lagebericht, hrsgg. von der Maecenata Stiftung, in: Opusculum Nr. 195, Berlin 2025 (ISSN-Web: 1868-1840)

Liz Mohn Stiftung (Hrsg.) Relevanzmonitor Kultur 2025. Stellenwert von Kulturangeboten in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen bundesweiten Bevölkerungsbefragung, Gütersloh 2025