Nicht gewählt – und nun? Ein Fehlstart im Parlament ist noch keine schwache Amtszeit
Wird ein Ministerpräsident oder eine Ministerpräsidentin nicht im ersten Wahlgang gewählt, überschlagen sich Medien und Netzwerke. So wie heute bei der Nichtwahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler im ersten Wahlgang. Die Wahl im zweiten oder dritten Anlauf gilt schnell als Zeichen politischer Instabilität. Doch Politiker:innen wie Bodo Ramelow, Hannelore Kraft oder Reiner Haseloff regier(t)en trotz verpasster Wahlgänge erfolgreich. Historische Beispiele und aktuelle Entwicklungen zeigen: Entscheidend ist nicht der Wahlgang – sondern die Regierungsfähigkeit und die Kommunikationskraft danach.
„Dämpfer“, „Klatsche“, „Schatten über der Regierungsbildung“ – die Reaktionen kamen im Sekundentakt über Eilmeldungen der Nachrichtensender und -agenturen sowie aus den Sozialen Netzwerken, als bekannt wurde, dass Friedrich Merz im ersten Wahlgang die nötige Mehrheit verfehlt hatte.
Auch die Floskel des „beispiellosen Vorgangs“ ist beliebt. Aber irgendwann ist immer das erste Mal. Und je älter die bundesdeutsche parlamentarische Demokratie wird, in der sich diejenigen, die Kanzler:in oder Ministerpräsident:in, Regierende Bürgermeister:in oder Präsident:in des Senats werden wollen, im Parlament den freien und an Vorgaben nicht gebundenen Abgeordneten zur Wahl stellen, war es nur eine Frage der Zeit, dass auch im Deutschen Bundestag der oder die Bewerber:in im ersten oder vielleicht sogar zweiten Wahlgang um das Kanzleramt scheitern.
In den Ländern werden die Ministerpräsident:innen zwar in der Regel im ersten Wahlgang gewählt, aber dennoch gab es – in den vergangenen Jahren zunehmend – immer wieder Ausnahmen von diesem Regelfall.
Gemeinhin wurden die ursprünglichen Bewerber:innen zeitverzögert in weiteren Wahlgängen in das angestrebte Amt gewählt. Nur selten scheiterte die Wahl endgültig.
Die Sozialdemokratin Heide Simonis, die in vier Wahlgängen scheiterte, gilt als das negative Paradebeispiel einer solch gescheiterten Wahl. Die von ihr angestrebte rot-grüne Koalition kam nicht zustande. Stattdessen übernahm Peter-Harry Carstensen (CDU) die Regierungsgeschäfte in Kiel. Der Name des „Heidemörders“, wie das anonym gebliebene Landtagsmitglied genannt wurde, das beharrlich die Zustimmungssolidarität für Simonis verweigerte, ist bis heute unbekannt. Genützt hat es dem betreffenden Landtagsmitglied vermutlich wenig. Und ob das flüchtige Gefühl von Macht es wert war, kann bezweifelt werden.
Gleichwohl war der "Heidemord von Kiel" keine Premiere. Im südlichen Nachbarland Niedersachsen spielte sich 26 Jahre zuvor ein gleichartiges Drama ab. Zu Schaden kamen dabei gleich zwei Kandidaten. Nachdem der Ministerpräsident Alfred Kubel (SPD) aus Altersgründen zurückgetreten war, sollte Finanzminister Helmut Kasimier (SPD) als Nachfolger von der sozialliberalen Koalition, die mit 78 Mandaten über eine Stimme Mehrheit verfügte, gewählt werden. Kasimier erhielt am 14. Januar 1976 im ersten Wahlgang aber nur 75 Stimmen, sein Gegenkandidat Ernst Albrecht (CDU) hingegen 77 Stimmen. Im zweiten Wahlgang verschärfte sich die Situation: Albrecht 78:74 Kasimier. Knapp drei Wochen später wurde am 6. Februar 1976 der sozialdemokratische Bundesbauminister Karl Ravens für den dritten Wahlgang nominiert - und scheiterte ebenfalls an den fehlenden Stimmen der eigenen Koalition. Stattdessen wurde Ernst Albrecht mit 79 Stimmen zum niedersächsischen Ministerpräsidenten gewählt. Er hatte das Amt übrigens bis 1990 inne. Die sozialliberale Koalition von Helmut Schmidt verlor durch die Hannoveraner Ereignisse ihre Mehrheit im Bundesrat. Gerade im bundesdeutschen Föderalismus haben regionale Flügelschläge nicht selten bundespolitische Wirkung, wie wir später am Beispiel Thüringen sehen werden.
Dennoch trat zwischen 1976 und 1992 Ruhe ein. Alle Ministerpräsident:innen und Bürgermeister wurden im ersten Wahlgang gewählt. Bis Berndt Seite (CDU) bei der Wahl als Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern erst im zweiten Wahlgang die nötigen Stimmen erhielt.
Auch Klaus Wowereit (SPD) musste sich 2006 bei der Wahl als Regierender Bürgermeister einem zweiten Wahlgang unterziehen, bevor er aus den Reihen seiner rot-roten Koalition gewählt wurde.
Ebenso erging es im August 2011 Annegret Kramp-Karrenbauer. Nachdem Peter Müller sich aus der Staatskanzlei und dem CDU-Landesvorsitz zurückgezogen hatte, um an das Bundesverfassungsgericht zu wechseln, wurde Kramp-Karrenbauer zunächst mit 25 Stimmen nicht gewählt. Ihr Gegenkandidat, der Sozialdemokrat Heiko Maas erhielt ebenfalls 25 Stimmen und damit eine Stimme aus dem Koalitionslager. Erst im zweiten Wahlgang wählten alle Abgeordneten der Jamaika-Koalition Kramp-Karrenbauer zur ersten Ministerpräsidentin des Saarlandes. Das Jamaika-Bündnis stand jedoch unter keinem guten Stern. Bereits ein halbes Jahr später zerbrach die Koalition. Kramp-Karrenbauer regierte nach Neuwahlen bis 2017 gemeinsam mit der SPD.
Dass Ministerpräsident:innen, die von Minderheitskoalitionen getragen werden, wenig Chancen haben, im ersten Wahlgang gewählt zu werden, ist naheliegend aber auch keine Zwangsläufigkeit. Hannelore Kraft (SPD) wurde 2010 in Nordrhein-Westfalen im zweiten Wahlgang Ministerpräsidentin einer rot-grünen Minderheitsregierung, bei der wiederum – eine Spezialität der nordrhein-westfälischen Verfassung – bereits eine einfache Mehrheit ausreichend ist.
Der Linke Bodo Ramelow benötigte im März 2020 sogar den dritten Wahlgang, um zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt zu werden. Dem vorausgegangen waren freilich Ereignisse, die weit über die Grenzen des Freistaates ausstrahlten. Am 5. Februar 2020 wurde - mit Ansage - der FDP-Mann Thomas L. Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt. Und zwar mit den Stimmen der FDP, der CDU - und der rechtsextremen AfD. Die dadurch ausgelöste Kettenreaktion kostete nicht nur Kemmerich selbst das Amt, von dem er etwas mehr als 24 Stunden später zurücktrat, sondern sowohl dem CDU-Fraktions- und Landesvorsitzenden Mike Mohring als auch letztlich der CDU-Parteivorsitzenden, Annegret Kramp-Karrenbauer.
Die erneute Wahl Ramelows 2020 wurde ermöglicht durch einen sogenannten Stabilitätspakt der rot-rot-grünen Minderheitskoalition mit der CDU unter dem inzwischen zum Vorsitzenden von Partei und Fraktion aufgestiegenen Mario Voigt. Letzterer ist inzwischen Ministerpräsident einer Minderheitskoalition aus CDU, dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der SPD. Er wurde im Dezember 2024 bereits ersten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt. Nach den Erfahrungen aus 2020 wollte die disziplinierte Linksfraktion im Thüringer Landtag der AfD nicht erneut Einfluss auf die Wahl eines Ministerpräsidenten geben.
Dass die Wahl eines Ministerpräsidenten oder einer Ministerpräsidentin im Erfurter Landtag schon vorher kein Selbstläufer war, mussten Bodo Ramelow ebenso wie seine Vorgängerin, Christine Lieberknecht (CDU) erfahren. 2009 wurde Lieberknecht erst im dritten Wahlgang gewählt. Ihr Nachfolger Bodo Ramelow im Dezember 2014 benötigte einen zweiten Wahlgang. Der Mitteldeutsche Rundfunk brachte es am 6. Mai 2025 in einem Meme auf den Punkt: "Große Aufregung im Deutschen Bundestag vs. Ein normaler Dienstag im Landtag Thüringen".
Im benachbarten Sachsen musste sich Michael Kretschmer im Dezember 2024 auch erstmals in der jüngeren sächsischen Geschichte einem zweiten Wahlgang stellen. Kretschmer wollte nach der Landtagswahl im September ein Brombeer-Bündnis nach Erfurter Vorbild formen. Doch die Koalitionsverhandlungen aus CDU, BSW und SPD scheiterten an der Wagenknechtpartei. Danach ließ sich Kretschmer auf das Risiko einer CDU-SPD-Minderheitsregierung ein. Seine Nichtwahl im ersten Wahlgang schien freilich ein kalkuliertes Risiko zu sein. Die Oppositionsparteien Grüne und Linke wollten wohl ein Signal senden, ohne Kretschmer tatsächlich scheitern zu lassen und der AfD Gestaltungsmacht zu geben.
Auch Dietmar Woidke, der als Sozialdemokrat mit dem BSW eine Koalition eingegangen ist, musste in Potsdam im Dezember 2024 durch einen zweiten Wahlgang. Für Brandenburg ebenfalls eine Premiere.
Der Christdemokrat Kai Wegner stellte sich 2023 im Berliner Abgeordnetenhaus einer schwarz-roten Koalition zur Wahl. Möglich wurde dies, nachdem die Sozialdemokratin Franziska Giffey trotz der Möglichkeit, an der Spitze einer fortgesetzten rot-rot-grünen Koalition weiter im Roten Rathaus zu regieren, lieber als Juniorpartnerin der CDU regieren wollte. Wegner benötigte drei Wahlgänge, bevor er als Regierender Bürgermeister ins Amt kam. Auch dies das erste Mal im Berliner Abgeordnetenhaus.
Last but not least kann der Christdemokrat Reiner Haseloff, der in seinem politischen Leben viel gesehen hat und dessen Staatskanzleichef Rainer Robra inzwischen seit 2002 im Amt ist, dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz aus eigener wiederholter Anschauung erläutern, wie sich das Scheitern im Amt anfühlt. Sowohl bei der Wahl 2016 als auch fünf Jahre später, 2021, wurde Haseloff erst im zweiten Wahlgang zum Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts gewählt.
Kurzum: Einmal ist immer das erste Mal. Auch im Deutschen Bundestag.
Doch was ist nun damit, dass die Wahl eines Ministerpräsidenten oder einer Ministerpräsidentin im zweiten oder dritten Wahlgang in der öffentlichen und medialen Debatte häufig dramatisiert wird als Fehlstart und Schatten über einer ganzen Amtszeit.
Empirisch zeigt sich, dass die politische Leistung während der Amtszeit in keinem zwangsläufigen Kausalverhältnis zur Zahl der Wahlgänge steht. Vielmehr zeigt eine Analyse der Amtszeiten betroffener Regierungschefinnen und -chefs, dass diese zunächst als Schwäche ausgelegte Startbedingungen so gut wie nie die spätere Bewertung ihrer Arbeit dominierten. Dies hängt maßgeblich mit zwei Faktoren zusammen: erstens mit der konkreten Regierungsführung und zweitens mit der kommunikativen Einbettung – insbesondere in digitalen Öffentlichkeiten.
In fast allen Fällen, in denen Ministerpräsident:innen erst in einem späteren Wahlgang ins Amt gewählt wurden, gelang es ihnen, durch stabile Koalitionsbildung, sachorientierte Politik und kommunikatives Geschick politisches Vertrauen aufzubauen. Die anfängliche Nichtwahl wurde retrospektiv kaum als Makel betrachtet, weil die Regierungshandlungen – etwa im Bereich Bildung, Infrastruktur, gesellschaftlicher Zusammenhalt oder in der Bewältigung von Krisen (z. B. Pandemie oder Energiepolitik) – handlungsfähig und wirksam wahrgenommen wurden. Politische Autorität speiste sich also nicht allein aus dem Wahlvotum, sondern aus der gelebten Legitimität im Regierungshandeln.
Vorteil auch beim Scheitern im ersten oder sogar zweiten Wahlgang: Insbesondere in sozialen Netzwerken verlagert sich die Aufmerksamkeit schnell – und mit ihr die Deutungsmacht. Politische Kommunikation ist heute nicht nur top-down, sondern reaktiv, situativ und oft durch das sogenannte Issue-Attention-Cycle-Phänomen geprägt: Themen haben nur eine kurze Halbwertszeit, bevor andere dominieren.
Diese Dynamik wirkt relativierend: Ein verpasster erster Wahlgang mag kurzfristig Schlagzeilen produzieren, doch längerfristig zählt, wie eine Regierung auf Krisen reagiert, welche Narrative sie setzen kann – und wie sie sich gegenüber einer fragmentierten digitalen Öffentlichkeit behauptet. Plattformen wie Twitter/X, TikTok oder Instagram wirken dabei sowohl destabilisierend (durch Erregungswellen) als auch stabilisierend, wenn es gelingt, politische Handlungsfähigkeit und klare Botschaften zu vermitteln. Wer seine Agenda glaubhaft vermitteln, Krisen kommunikativ steuern und digitale Resonanzräume aktiv bespielen kann, wird politisch als wirksam wahrgenommen. Der Ausgang des ersten Wahlgangs ist damit bestenfalls ein Moment in einer viel größeren Arena politischer Performanz.