„Während sich der Blickwinkel verschiebt“ – Künstlerinnen des Informel
„Es zeigte sich, dass der Olymp jenseits der gläsernen Decke ein Männerstammtisch war: Abstrakter Expressionismus, Pop, Farbfeldmalerei, Straßenfotografie, Neue Wilde“
konstatiert Ulf Erdmann Ziegler in der Mai-Ausgabe des Monopol-Magazins. Und er ergänzt: „Nicht die gender-numerische Korrektur von Sammlungen hat letztlich den Blick geschärft und die Szene verändert. Es waren und sind monografische Werkschauen.“
In diesem Geist öffnet die Kunsthalle Schweinfurt noch bis zum 22. Juni 2025 mit der Ausstellung InformELLE. Künstlerinnen der 1950/1960er Jahre eine überfällige Perspektive auf die Nachkriegskunst.
Es ist die zweite Station dieses Gemeinschaftsprojekts zwischen Schweinfurts Kunsthalle, Hessen Kassel Heritage und dem Emil Schumacher Museum Hagen in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Informelle Kunst am Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn.
Seit ihrer Eröffnung im Jahr 2009 hat sich die Kunsthalle Schweinfurt als wichtiger Ort für zeitgenössische Kunst in Deutschland etabliert. Ihr besonderes Profil verdankt sie der umfassenden Präsentation der informellen Nachkriegskunst im Westflügel der Ständigen Sammlung – ein Alleinstellungsmerkmal im deutschen Museumswesen, das die Kunsthalle selbstbewusst in ihrer Selbstdarstellung hervorhebt.
Im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse ihrer Sammlung steht die Kunsthalle Schweinfurt allerdings nicht allein: Unter den 30 Künstler:innen der informellen Sammlung befinden sich 29 Männer und lediglich eine Frau, Brigitte (Meier) Matschinsky-Denninghof.
Diese Schieflage spiegelt eine kunsthistorische Tradition wider, die das 20. Jahrhundert lange aus einer männlich dominierten Perspektive erzählte – und entsprechend sammelte.
Die strukturelle Benachteiligung von Künstlerinnen hatte tiefgreifende Ursachen: Bis weit in die Nachkriegszeit blieb ihnen vielerorts der Zugang zu Kunstakademien verwehrt. Auch nach ihrer Zulassung blieben sie in Ausstellungen, Sammlungen und auf dem Kunstmarkt deutlich unterrepräsentiert.
Das romantische Bild des männlichen Genies, das seit dem 19. Jahrhundert die Kunstwelt prägte, bestimmte die Kanonbildung nachhaltig. Werke von Künstlerinnen wurden häufig als privat, dekorativ oder intuitiv abgewertet – Zuschreibungen, die sie systematisch aus den zentralen Erzählungen der Kunstgeschichte ausschlossen.
„Künstlerinnen sind belächelt worden. So war Martha Jungwirth in Wien die Frau eines weithin bekannten Kulturfunktionärs, Shirley Jaffe in Paris eine rätselhafte Eremitin, Carol Rama in Turin vielleicht eher ein Groupie des Kunstbetriebs. Auch männliche Künstler werden nicht reingelassen, ignoriert und schikaniert, aber sie werden nicht belächelt. Das ist der Unterschied. Wenn Männer nicht aufgeben, dann sind sie verkannte Genies.“ Ulf Erdmann Ziegler im Monopol Magazin
Neben institutionellen Hürden spielten gesellschaftliche Geschlechterrollen eine entscheidende Rolle. Frauen wurden eher in unterstützende oder reproduktive Rollen gedrängt – als Ehefrauen, Musen oder Assistentinnen –, während männliche Künstler als schöpferisch, visionär und autonom inszeniert wurden. Auch ökonomische Strukturen des Kunstbetriebs – vom Galeriesystem über Preise bis hin zur Förderung – wirkten vielfach exkludierend. In Schulbüchern, Ausstellungen und musealen Vermittlungskonzepten fehlten lange Zeit weibliche Vorbilder. So reproduzierte sich der männlich geprägte Kanon immer wieder selbst.
„Eine Frau könnte heiraten, Kinder bekommen und ihre Karriere aufgeben [...] eine langfristige Investition in eine Künstlerin wäre über Nacht ruiniert."
Mit diesen Worten lehnte seinerzeit ein Galerist die als Susanne Schüller in Wien geborene jüdische Künstlerin Soshana (1927-2015) ab. Soshana ist eine von 16 Künstlerinnen der Nachkriegsmoderne, deren Werke InformELLE versammelt.
Gegen diese systematische Unsichtbarmachung entstanden ab den 1970er-Jahren vielfältige Gegenbewegungen. Pionierinnen wie Linda Nochlin, Griselda Pollock oder Joan W. Scott analysierten die strukturellen Ausschlüsse und forderten eine feministische Revision der Kunstgeschichte. Parallel dazu begannen Künstlerinnen wie die Guerrilla Girls, diese Missstände auch in der künstlerischen Praxis sichtbar zu machen. In Ausstellungen, Interventionen und Performances thematisierten sie die Ungleichheiten und entwickelten alternative Narrative. Kuratorische Initiativen gewannen seither an Bedeutung. Museen und Forschungseinrichtungen begannen, ihre Sammlungen systematisch zu durchforsten und Künstlerinnen zu rekonstruieren. Auch digitale Formate und feministische Archive tragen dazu bei, eine pluralere, gerechtere Kunstgeschichte zu erzählen.
Die Aufarbeitung dieser Lücken ist nicht nur in Schweinfurt zu beobachten. Auch die Kunsthalle Mannheim setzte zuletzt ein Zeichen: In der berühmten Ausstellung Neue Sachlichkeit von 1925 waren unter den 132 ausgestellten Werken keine Künstlerinnen vertreten.
Die Jahrhundertretrospektive von Herbst 2024 bis Frühjahr 2025 verzichtete bewusst auf ein einfaches Revival. Stattdessen thematisierte sie die strukturellen Ursachen der damaligen Geschlechterblindheit und stellte Künstlerinnen vor, deren Werke sich erst ab Mitte der 1920er-Jahre entwickelten – und die deshalb 1925 unberücksichtigt geblieben waren.
Im Rahmen der Ausstellung InformELLE reflektiert die Kunsthalle Schweinfurt selbstkritisch ihre eigene Sammlungsgeschichte. Die Kuratorinnen Andrea Brandl und Julia Weimar präsentieren die Werke der Künstlerinnen sowohl eigenständig als auch im Dialog mit der bestehenden Dauerausstellung. Durch das eigens entwickelte Ausstellungslogo werden die Besucher:innen auf die bisherige männliche Dominanz in der Sammlung aufmerksam gemacht – und auf die Lücken, die die aktuelle Ausstellung zumindest vorübergehend schließt.
Dieser Dialog erfolgt nicht belehrend, sondern – im Sinne diskurstheoretischer Ansätze – als Einladung zur Auseinandersetzung, getragen vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“.
So setzen etwa Sarah Schumanns Die hängenden Gärten der Semiramis (1957), Mary Bauermeisters Pünktchen-Struktur (1959/60) oder Sigrid Kopfermanns Strömungen blau (1963) bewusste Kontrapunkte zu den etablierten Werken von Heinrich Wildemann, Willi Baumeister und Max Ackermann und stören damit das „Herrengespräch“ der bisherigen Sammlung auf produktive Weise.
Dieser künstlerische Dialog – ob in der Malerei oder in der Skulptur, die einen weiteren Schwerpunkt der Schweinfurter Sammlung bildet – führt die Besucher:innen Schritt für Schritt zum Kern der Identität der 2009 eröffneten Kunsthalle. Das Gebäude selbst, ursprünglich 1931/32 von Roderich Fick als Hallenbad errichtet und von Mäzen Hans Sachs gestiftet, wurde im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, danach als Schwimmbad genutzt und erst Mitte der 2000er Jahre für die Kunst umgewidmet.
Schon früh hatte sich angedeutet, dass das Bauwerk nicht ausschließlich als Schwimmbad gedacht war: Zeitgenössische Kritiker bemerkten, „[…] die Sache sähe eigentlich nicht wie ein Hallenschwimmbad aus, sondern mehr wie eine Festhalle, in der auch Kunstausstellungen stattfinden.“
Heute bietet die neun Meter hohe ehemalige Schwimmhalle den eindrucksvollen Rahmen für die Präsentation von mehr als 80 Arbeiten aus der informellen Moderne, geschaffen von 14 Malerinnen und zwei Bildhauerinnen.
Die Ausstellung vereint Künstlerinnen unterschiedlicher Generationen und Bekanntheitsgrade – von international renommierten Namen wie Maria Helena Vieira da Silva, die auf den ersten drei documenta-Ausstellungen vertreten war und als erste Frau 1966 den französischen Grand Prix National des Arts erhielt, bis zu weniger bekannten, heute neu zu entdeckenden Positionen.
Gewürdigt werden Künstlerinnen, die gegen die strukturellen Hürden ihrer Zeit arbeiteten. Einige von ihnen, wie Mary Bauermeister oder Judit Reigl, waren Teil bedeutender Künstler[:innen]gruppen wie junger westen oder ZEN 49 und auch an zentralen Ausstellungen ihrer Epoche beteiligt. Umso bedeutsamer, sie nun aus dem Schatten heraus ins Zentrum der retrospektiven Betrachtung zu stellen.
Es wäre wünschenswert, wenn im Ergebnis dieser aber auch beispielsweise der erwähnten Mannheimer Ausstellung die deutschen Museen ihre Sammlungsperspektive erweitern, insbesondere aber ihre Depots daraufhin überprüfen würden, welche Künstlerinnen sie ins Schaufenster stellen können und die z.B. für die InformELLE-Ausstellung beigesteuerten Werke nicht wieder im Depot verschwinden ließen.
Künstlerinnen wie die Spanierin Juana Francés oder die aus Rumänien 1947 nach Paris emigrierte Natalia Dumistresco waren über Jahrzehnte nicht mehr in einer umfassenderen Werkpräsentation in Deutschland zu sehen. Dumitrescos Stil, geprägt von einer Kombination aus Farbflächen und modularen Zellen geflechtartigen Strukturen, erinnert insbesondere im ausgestellten Werk von 1960 Au fur et à mesure que L’angle de vue se déplace (Während sich der Blickwinkel verschiebt) an eine Luftbildaufnahme aus dem Flugzeug. Und vermutlich braucht es diesen Blick von oben, der sich frei macht von den gegenwärtigen Zuständen, in denen misogyne Bros wie Trump, Musk und die Internationale der autoritären Populisten die Rahmenbedingungen für Künstlerinnen einschränken wollen, indem das Rad der Geschlechtergleichstellung zurückgedreht werden soll.
Die kraftvollen Arbeiten von Sarah Schumann, die sich auch als Kuratorin der bahnbrechenden Ausstellung Künstlerinnen International 1877–1977 für die Sichtbarkeit von Künstlerinnen engagierte, aber auch den weiteren Künstlerinnen Mary Bauermeister, Chow Chung-cheng, Helen Dahm, Natalia Dumitresco, Juana Francés, Sigrid Kopfermann, Maria Lassnig, Roswitha Lüder, Brigitte Meier-Denninghoff, Judit Reigl, Marie-Louise von Rogister, Christa von Schnitzler, Sarah Schumann, Soshana, Hedwig Thun und Maria Helena Vieira da Silva, zeigen, was verloren gehen würde, hätten die Bros Erfolg.
Das werden sie jedoch nicht – und das ist gut so. Denn der Blickwinkel hat sich unumkehrbar verschoben. Daran hat auch diese exzellente Ausstellung in der Kunsthalle Schweinfurt Anteil.
Der zweisprachige Katalog erschien in der Schriftenreihe der Forschungsstelle Informelle Kunst der Uni Bonn und publiziert im Deutschen Kunstverlag wurde ermöglicht durch die Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung. Es bleibt zu wünschen, dass die Forschungsstelle die Texte und Daten dieser Publikation nutzt, durch ein stringentes Lektorat, die eigene Präsenz im Netz sprachlich und redaktionell von einer Vielzahl unnötiger Fehler zu befreien und bestehende Lücken zu schließen.