23.04.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Zu zaghaftes Bürokratopia

Die Staatsreform hat es in den Vertrag der künftigen schwarz-roten Koalition geschafft. Setzten Union und SPD die im Koalitionsvertrag benannten Vorhaben zur Staatsreform tatsächlich um, wäre ein bedeutsamer Beitrag dazu geleistet, Deutschlands öffentliche Verwaltung aus dem selbst geschaffenen Prokrustesbett in die digitale Moderne zu führen.

Die Skepsis, dass dies gelingt, ist groß. Und sie beruht auf einer jahrzehntelangen Evidenz der Entbürokratisierungsinitiativen, die dem Muster folgten: Schwach angefangen, stark nachgelassen.

In ihrem Buch Bürokratopia. Wie Verwaltung die Demokratie retten kann, beschreibt Julia Borggräfe, wie Verwaltung in Deutschland demokratischer, bürgernäher und zukunftsfähiger gestaltet werden kann – und analysiert zugleich die strukturellen Hindernisse, die solche Reformen bremsen.

Borggräfe argumentiert, dass Bürokratie nicht nur als technokratisches Instrument, sondern als demokratiestützende Struktur verstanden werden sollte – eine Perspektive, die gegen gängige Narrative vom „Bürokratieabbau“ steht. Die Autorin warnt vor reflexhaftem Abbau ohne funktionale Neubewertung. Verwaltung muss aus ihrer Sicht wieder als gestaltender Akteur in der Demokratie verstanden werden – nicht nur als Dienstleister oder Vollzugsapparat. Diese Analyse steht im wohltuenden Gegensatz zu den Entstaatlichungslogiken, mit denen über einen langen neoliberalen Zeitraum öffentliche Daseinsvorsorge privatisiert und Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt) bis zu Kienbaum, PWC und Co. Standardkostenberechnungsmodelle verfolgten, während politische Entscheider:innen die Infrastrukturmodernisierung etwa bei Schulen oder Verkehrswegen vernachlässigten.

Umso überraschender ist das im letzten Drittel des Buches gewählte Beispiel für die Umfeldbedingungen, in denen sich öffentliche Verwaltungen verändern müssen: Die Aufstandsbekämpfung der US-Streitkräfte im Irak gegen ein dezentrales, hochgradig mobiles Netzwerk kleiner autonomer Zellen mit unvorhersehbaren Entscheidungen, auf die eine hierarchische Organisation mit ihrer eigenen Logik sowie den etablierten Planungs- und Entscheidungsprozessen nicht vorbereitet war.

So einprägsam das Beispiel auch ist, bleibt ein schwer zu überbrückendes Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch von Borggräfe, aufzuzeigen, wie Verwaltung die Demokratie retten kann und der unkritischen Bezugnahme auf General Stanley A. McChrystal. Dessen Buch Team of Teams ist sicherlich lesenswert. Doch die Methoden der Aufstandsbekämpfung der von ihm befehligten Task Force 6-26 mit den Folterungen im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib dürften mit dem Demokratieanspruch Borggräfes ebenso wenig zu verbinden sein, wie das politische Agieren des Vier-Sterne-Generals gegenüber der seinerzeitigen zivilen Militärführung in Gestalt von Präsident Obama.

Simon Tisdall sprach 2010 im Guardian anlässlich der Entlassung McCrystals durch Obama von einem „very American coup“ – einem beunruhigenden Symptom für eine tieferliegende Malaise in den zivil-militärischen Beziehungen der USA. Auch der Verfassungsrechtler Bruce Ackerman warnte in der Los Angeles Times vor einem „zunehmend politisierten Militär“, das den Primat der Politik infrage stelle. Laut Ackerman sei, basierend auf Umfragen, eine Mehrheit der aktiven Offiziere der Auffassung, militärische Führungspersonen sollten gegenüber zivilen Entscheidungsträgern ihre Position „durchsetzen“ – ein alarmierendes Verständnis von Demokratie und Gewaltenteilung im sicherheitspolitischen Feld. Und in gewisser Hinsicht die militärische Variante der von Trumps Umfeld beförderten Unitary Executive Theory. Sie hat ihre Wurzeln in konservativen Rechtskreisen – insbesondere der Federalist Society – und basiert auf einer expansiven Auslegung von Artikel II der US-Verfassung, der die Exekutivgewalt dem Präsidenten überträgt. Auf dieser Auslegung beruht Trumps Hybris, dass er verfassungsrechtlich über das Recht verfüge, alles zu tun, was er als Präsident will. Deutschland ist von einer solchen Entwicklung dankenswerterweise weit entfernt - auch wenn autoritäre Populist:innen sich am Staatsumbau von Orbán und Trump orientieren.

Und dennoch ist der Reformbedarf groß. Das Vorzeigeland Deutschland wird laut dem rheingold Institut als defizitär erlebt: „Aus made in Germany wurde marode in Germany“.

Laut der rheingold Wahlstudie 2025 wird von der zukünftigen Politik erwartet, „dass sie eine richtungsgebende Geschlossenheit trotz der zu erwartenden inhaltlichen Differenzen an den Tag legt. Müde von parteigetriebener Taktik und Machtspielen, fordern die Menschen pragmatische Lösungen. Zügige und sachorientierte Zusammenarbeit kann nach der Wahl die Zuversicht erwecken, dass der Problemstau aufgelöst werden kann.“

Verschiedene Akteur:innen legten dazu in jüngerer Vergangenheit Vorschläge vor. Auch gespeist aus der Überzeugung, dass die Angstfaszination (rheingold institut) vor der disruptiven Zerstörung des demokratischen Rechtsstaates durch Trump dann mehrheitsfähig werden kann, wenn notwendige Reformen ausbleiben. Vorschläge kamen zum Beispiel von der Initiative für einen handlungsfähigen Staat um Julia Jäckel, Andreas Voßkuhle, Thomas de Maiziére und Peer Steinbrück. Deren Vorschläge aus dem kurzfristig vorgelegten Zwischenbericht fanden (verbal) Eingang in den Koalitionsvertrag. Das ist nicht wenig. Umso überraschender, dass die Initiative und deren Überlegungen vom gemeinhin klug und besonnen argumentierenden Göttinger Rechtswissenschaftler Florian Meinl jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sehr pauschalierend und wenig konstruktiv in den Senkel gestellt wurden. Auf die zur ehrenamtlichen Mitarbeit an der Initiative eingeladenen Expert:innen, darunter auch der Autor dieser Rezension, wirkte dieser Frontalangriff wenig überzeugend, wie Reaktionen auf Meinl zeigen. Neben der Initiative legten aber auch der Nationale Normenkontrollrat, der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium aber auch die christlich-demokratischen Jurist:innen Vorschläge zur Staatsreform vor. Und der Think Tank Re:Form formuliert im Aufruf für eine mutige Staatsreform mutmachend:

„Die gute Nachricht ist: Es gibt bereits auf allen Ebenen des Staates und in den verschiedensten Bereichen der Verwaltung Menschen, die heute schon am Staat von morgen arbeiten. Sie zeigen, wie staatliches Handeln wirkungsvoller, zielgenauer, umsetzungsstärker, schneller, flexibler, lösungsorientierter sein kann.“

Dies bestätigt auch die Juristin Julia Borggräfe anhand einer Reihe von Beispielen und Institutionen in dem mit 140 Seiten handlichen und flott zu lesendem Plädoyer für die moderne Verwaltung, das im Berliner Klaus Wagenbach Verlag erschienen ist. Borggräfe ist seit 2022 Co-Geschäftsführerin bei der Unternehmensberatung Metaplan und hatte Führungsfunktionen im Industrie- und Dienstleistungssektor inne, bevor sie im Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Abteilung Digitalisierung und Arbeitswelt aufbaute.

Trotz der Beispiele einer guten und modernen Verwaltungspraxis dominiert in Bürokratopia die Beschreibung und Ursachenanalyse gescheiterter oder verzögerte Staatsmodernisierung. Sei es die Umsetzung des Digitalpakts Schule oder die Digitalisierung öffentlicher Verwaltung und Bürgerservices insgesamt. Borggräfe verweist bei dieser Schilderung auf internationale Erfahrungen, wie beispielsweise die Estonian Information System Authority und legt dar, welche Maßnahmen nötig wären, um diese Lernerfahrungen auch in Deutschland zu etablieren. Besonders an diesen Stellen ist Borggräfes Buch spannend und man wünscht ihr viele Leser:innen im Kreis der Staatsreform-Entscheider:innen, die daraus Schlussfolgerungen ziehen.

Borggräfe vermeidet, wie viele andere Autor:innen der Staatsmodernisierungsdebatte, bei zunächst einleuchtenden internationalen Bezugnahmen, eine ehrliche Analyse, warum die Institutionen aus einem nur 1,3 Millionen Einwohner:innen umfassenden und zentralstaatlich regierten Estland nicht einfach und 1:1 auf den föderalen deutschen Bundesstaat mit 80 Millionen Einwohner:innen übertragbar sind. Anders als viele andere skizziert sie jedoch zumindest, wie eine Adaption des estnischen Modells in Deutschland aussehen könnte.

Gleichwohl kommt auch Borggräfes Schilderung an vielen Stellen über die deskriptive Abhandlung des Konjunktivs: „Was wäre, wenn“ nicht hinaus, mit der die Newsletter von Re:Form jeweils beginnen.

Umso bedeutsamer wiederum sind die Kapitel, in denen sich Julia Borggräfe mit der Strategiefähigkeit von Verwaltungen und einer modernen Führungs- und Personalkultur befasst. Auf wenigen Seiten entwirft die Autorin, der Überschrift entsprechend, eine Skizze für einen Kompass zukunftsorientierter Entscheidungen. Der Vorteil dieser methodisch untersetzten Überlegungen für ein strategisch und vorausschauendes Handeln – sie lassen sich unabhängig von rechtlichen und budgetären Rahmenbedingungen umsetzen. Dasselbe gilt für eine neue Kultur in der Verwaltung. Die von Borggräfe dargelegten Überlegungen finden sich in dieser und ähnlicher Form auch in den Vorschlägen von Re:Form als Team Staat, in dem die besten Köpfe eine moderne Arbeitsweise und Zusammenarbeit auf Augenhöhe praktizieren oder der Initiative für einen handlungsfähigen Staat in der Forderung nach mehr Risikobereitschaft und Etablierung einer Fehlerkultur der öffentlichen Verwaltung bzw. der Empfehlung einer Förderung von Verantwortungskultur (Beirat des BMWK).

So handlich Bürokratopia auch ist, hätte ein noch besseres Lektorat die Lesbarkeit des Buches zu verbessern geholfen. Ebenso wenig wie sich der Rückgriff auf die Erfahrungen des inzwischen bald ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Berliner Bankenskandals von 2001 inhaltlich und in der Verallgemeinerung seiner haushaltspolitischen Wirkungen erschließt, wird der Zusammenhang zwischen dem Untersuchungsgegenstand des Buches und den umfangreichen bildungspolitischen Statements nachvollziehbar. Keiner dieser Aussagen zur Schul- und Bildungspolitik im föderalen System ist wirklich zu widersprechen doch welche Funktion sie im vorliegenden Buch haben, bleibt ungeklärt.

Bürokratopia ist eine zweite Auflage zu wünschen, die sich auf das konzentriert, was der Titel des Buches verspricht: Wie Verwaltung die Demokratie retten kann. Wenn dabei die Umsetzung der Staatsreform-Bemühungen der künftigen schwarz-roten Koalition kritisch reflektiert würde und auf dieser Basis die vergleichsweise zaghaft und im Konjunktiv formulierte Top-12 Prioritätenliste für die nächste Jahre am Ende der Erstauflage mehr „Wumms“ erhielte, um ein Sprachbild des scheidenden Kanzlers Olaf Scholz aufzugreifen, wäre dies ein Gewinn.

 

Julia Borggräfe, Bürokratopia. Wie Verwaltung die Demokratie retten kann, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2025 [ISBN: 9-783-8031-3756-2]