20.04.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Transformation als Versprechen, Bilanz – und Bruch.

Als Olaf Scholz im Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt wurde, stand die Formel „Mehr Fortschritt wagen“ für eine selbstbewusste Fortschrittskoalition, die Digitalisierung, Klimaschutz und gesellschaftlichen Zusammenhalt gemeinsam gestalten wollte. Doch drei Jahre später war das politische Projekt der Ampelkoalition erschöpft: Das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023 entzog der Koalition das finanzielle Fundament ihrer Transformationspolitik. Die Differenzen zwischen FDP, Grünen und SPD vertieften sich, insbesondere in der Klima-, Haushalts- und Migrationspolitik. Am 6. November 2024 entließ Olaf Scholz den Bundesfinanzminister Christian Lindner – das faktische Ende der Koalition. Bei der Bundestagswahl im Februar 2025 verlor die SPD massiv, die FDP schied aus dem Bundestag aus, die Grünen gingen in die Opposition.

Vor diesem Hintergrund werfe ich einen Blick zwei Sammelbände, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Anspruch, der Umsetzung und dem vorläufigen Scheitern dieses Transformationsprojekts der Ampel befassen. Aus unterschiedlicher Perspektive, mit teils konträrem Tonfall, aber verbunden durch ein gemeinsames Anliegen: Transformation nicht als technokratisches Projekt, sondern als gesellschaftliche, demokratische und kulturelle Aufgabe zu begreifen.

Beide Bände verdienen, gerade im Rückblick auf die zerbrochene Ampelkoalition und nicht zuletzt, weil die Herausgeber des einen Bandes, Knut Bergmann und Matthias Diermeier, Autoren eines Beitrags auch des anderen Bandes sind, eine gemeinsame Lektüre.  Als Dokumente eines politischen Versuchs und seines Bruchs einerseits aber auch Reflexionen für das, was kommt – nicht zuletzt im Blick auf die Frage, wie sich 2029 eine progressive gesellschaftliche Mehrheit wieder gewinnen ließe. Denn das Ende der Ampel war auch verbunden mit dem erstaunlichsten Comeback der vergangenen Jahre: Der Linken. Und damit auch bislang ungenutzt gebliebener Gestaltungsoptionen, so unwahrscheinlich sie heute wirken mögen.

Der erste Band – Transformationspolitik. Anspruch und Wirklichkeit der Ampel-Koalition – erschien bereits im Frühjahr 2024 im transcript Verlag. Ihm ging eine virtuelle Veranstaltungsreihe des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) unter dem Titel Gutes Regieren für die Transformation voraus. In dieser Reihe wurde ein zumeist ökonomischer Blick auf die Herausforderungen des Regierens in Zeiten von Krisen, Umbau und Wandel mit Perspektiven aus der politischen Praxis konfrontiert. Auch deshalb versteht sich der Band ausdrücklich als Halbzeitbilanz der Ampelkoalition – die, wie sich wenig später zeigte, unfreiwillig zur Gesamtbilanz wurde. Herausgegeben wurde der Band von Knut Bergmann, dem Leiter des Berliner Büros des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und zuvor tätig im Bundespräsidialamt sowie als Redenschreiber des Bundespräsidenten Norbert Lammert, und Matthias Diermeier. Diermeier leitet das Cluster »Demokratie, Gesellschaft, Marktwirtschaft« am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und ist Lehrbeauftragter an der Universität Düsseldorf. In ihrem Band werden auf knapp 400 Seiten insgesamt 34 Beiträge aus Politik, Wissenschaft, Verwaltung, Medien und Zivilgesellschaft versammelt. Die Beiträge gliedern sich in die Abschnitte:

  1. Gesellschaftspolitik: Partizipation, Ost-West, Populismus, Narrative, Nudges,
  2. Infrastruktur: Stadt-Land, Digitalisierung, Energiewende, Wohnungsmarkt
  3. Industriepolitik sowie Finanzpolitik
  4. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: Zuwanderung, Sozialpartnerschaft, Inklusion, Gerechtigkeit, Rente
  5. Europapolitik sowie Außen- und Sicherheitspolitik

Eröffnet wird der Band faktisch mit dem dritten Beitrag, den die Herausgeber verfassten, und in dem sie die Frage beantworten: Spaltet die Transformation unsere Gesellschaft? Deutlich wird die Diskrepanz zwischen programmatischem Anspruch und realpolitischer Umsetzung als zentrales Merkmal der Ampel. Dabei vermeiden Bergmann/Diermeier, wie auch die weiteren Autor:innen des Sammelbandes jede Alarmrhetorik, sondern legen den Fokus auf Verantwortungslücken, Unverbindlichkeiten und strategische Missverständnisse, die das Transformationsprojekt geschwächt haben. Überzeugend argumentieren Bergmann/Diermeier in ihrem Beitrag gegen die verbreitete Semantik der in zwei Lager gespaltenen Gesellschaft. Die Mischung der Autor:innen aus Wissenschaft und (kommunal-)politischer Praxis trägt dazu bei, dass der Sammelband nicht nur analytisch kluge Überlegungen vereint, sondern auch Praxisbeispiele liefert, die Mut machen. Beispielsweise wenn der Oberbürgermeister von Wuppertal, Uwe Schneidewind, Fünf Thesen für eine effiziente Infrastrukturbereitstellung in Kommunen darlegt oder der saarländische Finanzminister, Jakob von Weizsäcker, Überlegungen zur Transformationspolitik anstellt, die er jüngst als maßgeblicher Netzwerker der Schuldenbremsenreform auch praktisch umzusetzen wusste.  

Der zweite Band – Zwischen Zumutung und Zuversicht. Transformation als gesellschaftliches Projekt – wurde im November 2024 vom Bundeskanzleramt veröffentlicht, als Ergebnis einer bereits 2023 durchgeführten Konferenzreihe zur demokratischen Gestaltung gesellschaftlicher Transformation. Herausgegeben vom Bundeskanzleramt und als Projekt verantwortet von Britta Kuhn, Dr. Max Neufeind, Friedemann Schreiter und Leon Tiedemann-Friedl umfasst er 39 Beiträge und gliedert sich in die Teile:

  1. Einstellungen und Mentalitäten: Wie Menschen auf gesellschaftlichen Wandel blicken
  2. Diskurse und Erzählungen: Wie man wirkungsvoll über gesellschaftlichen Wandel spricht
  3. Akzeptanz und Beteiligung: Wie man Unterstützung für politische Veränderungsprozesse fördert
  4. Verhalten und Lebensstile: Wie man kollektives und eigenverantwortliches Handeln stärkt
  5. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz: Wie Daten und gesicherte Informationen zum Gelingen der Transformation beitragen
  6. Zukünfte und Szenarien: Wie eine vorausschauende und vorsorgende Politik für die Transformation gelingt.

Planungsstabchef im Kanzleramt und einer der klügsten sozialdemokratischen Köpfe, Benjamin Mikfeld, eröffnet nach einem Vorwort des scheidenden Chefs des Bundeskanzleramtes, Wolfgang Schmidt, den Band mit einem Beitrag, der exemplarisch für den Grundtenor fast aller Texte steht: Transformation ist kein steuerbarer Maßnahmenpfad, sondern ein offener, konflikthafter Prozess, der auf demokratische Aushandlung angewiesen ist. Auch Neufeind und Schreiter argumentieren, dass Transformation nicht als Fortschrittsversprechen inszeniert werden dürfe, sondern als Projekt mit offenem Ausgang, das Vertrauen und Beteiligung voraussetzt.

Liest man die Beiträge dieses Sammelbandes kommt man nicht umhin, sich die Frage zu stellen, warum – wenn die bedeutsamen Erkenntnisse doch so nachlesbar vorliegen – die Umsetzung der Erkenntnisse sich für die handelnden Akteur:innen des Kanzleramtes so schwer gestaltete. Einige Antworten auf diese rhetorische und von der Gegenwart überholte Frage liefern die Beiträge selbst und möglicherweise steckt im letzten Beitrag unfreiwillig mehr Wahrheit als gewünscht: Johannes Gabriel führt darin ein fiktives Gespräch mit dem Bundeskanzler. Es hätte in den drei Jahren der Ampelregierung vermutlich weniger fiktive Gespräche mit dem Bundeskanzler gebraucht als vielmehr ein von Olaf Scholz als Bundeskanzler geführtes gesellschaftliches Gespräch.   

Beide Bücher lassen sich als komplementäre Reflexionen lesen: Während Transformationspolitik eine kritische Halbzeitbilanz der Regierungsarbeit zieht, ist Zwischen Zumutung und Zuversicht eher ein Entwurf für eine zukunftsfähige Gesellschaftspolitik. Der erste Band fragt: Was ist aus dem Versprechen geworden? Der zweite: Wie ließe es sich einlösen – und durch wen?

Zentral ist bei beiden Bänden die Erkenntnis, dass Transformation nicht durch Zielvorgaben planbar, sondern nur durch gesellschaftliche Aushandlung legitimierbar ist. Dies wird besonders deutlich im Band des Kanzleramts, etwa im Beitrag von Eversberg und Holz, die empirisch zeigen, dass die Polarisierung entlang von Transformationsfragen weniger ideologisch ist, sondern durch das Gefühl entsteht, „nicht gefragt“ zu werden. Transformation erscheint vielen als „von oben verordnete Zumutung“, nicht als gemeinsame Aufgabe.

Silke Borgstedt, Geschäftsführerin am SINUS-Institut, beschreibt in diesem Zusammenhang die „transformationserschöpfte Mitte“ – ein Milieu, das nicht prinzipiell transformationsfeindlich, aber zunehmend desorientiert sei. Es fehle an Übergangsbildern, Symbolen und alltagsnaher Verankerung. Diese Gedanken greifen auch Trappmann und Schulz auf, wenn sie betonen: Transformation wird nicht in Narrativen, sondern im Betrieb erlebt.

Im Band Transformationspolitik wird diese Diagnose aufgenommen, allerdings mit größerem Fokus auf politische Kommunikation, institutionelle Logiken und strategische Zielkonflikte. Beiträge wie die von Claudia Ritzi, Maja Göpel und Harald Welzer betonen, dass Demokratie nicht durch Akzeptanzmanagement gestärkt wird, sondern durch Beteiligung und Vertrauen in politische Selbstwirksamkeit. Die Kritik richtet sich gegen ein Verständnis von Transformation als Umsetzungspfad – ohne Aushandlung, ohne Konflikt, ohne Demokratie.

Was Zwischen Zumutung und Zuversicht nicht explizit thematisiert – aber heute kaum übergangen werden kann – ist das drohende Scheitern der zentralen globalen Zukunftsziele:

  • UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs),
  • Pariser Klimaabkommen,
  • EU-Biodiversitätsstrategie 2030.

Diese Zielsysteme werden zunehmend als überfordert, unterfinanziert oder politisch marginalisiert wahrgenommen. Das Jahr 2030 markiert daher nicht mehr einen Horizont der Hoffnung, sondern einen Kollaps der Zukunftsziele. Eine Antwort darauf findet der Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Koalition nicht – er thematisiert dieses planetare Dilemma nicht einmal.

In diesem Licht wirkt auch der Sammelband des Kanzleramtes ebenso ambitioniert wie ein Stück weit aus der Zeit gefallen, was etwas anderes meint als überholt. Die Beiträge sind und bleiben hochaktuell. Die Veranstaltung im Kanzleramt im April 2025, auf der der Band diskutiert wurde, fand bereits nach dem Bruch der Koalition statt – und nach der Bundestagswahl, bei der die SPD nur noch auf rund 16 Prozent kam, die Grünen in die Opposition mussten und die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten ist. Der gesellschaftspolitische Diskurs hatte sich bereits verschoben – weg von Transformation, hin zu Migration, Sicherheit, Kontrolle.

Dabei zeigt gerade der Band des Kanzleramts eindrücklich, dass Sicherheit und Transformation nicht gegeneinander gestellt werden dürfen. Die gesellschaftlichen Risse verlaufen nicht zwischen Modernisierungswilligen und Verweigerern, sondern zwischen jenen, die Sicherheit im Wandel suchen, und jenen, die Wandel als Bedrohung erleben. Diese zentrale Einsicht wurde politisch bislang nicht eingelöst.

Beide Sammelbände, ob als Bilanz oder als Entwurf, bieten unverzichtbar wertvolle Beiträge für das Nachdenken über die weiterhin ebenso unverzichtbare Gestaltung demokratischen Wandels. Ihre gemeinsame Lektüre ermöglicht es, die politische und gesellschaftliche Seite von Transformation zusammenzudenken – mit all ihren Widersprüchen, Blockaden, Hoffnungen. In einer Zeit, in der sich der öffentliche Diskurs zunehmend entlang sicherheitspolitischer Linien sortiert, erinnern diese Texte daran: Gesellschaften verändern sich nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen, Beteiligung und Aushandlung.

Gerade deshalb lohnt es sich, beide Bücher zu lesen – nicht aus Nostalgie für ein gescheitertes Projekt, sondern als Vorbereitung auf das, was kommt. Wer im Blick auf die Bundestagswahl 2029 eine progressive Mehrheit gewinnen will, wird nicht auf neue Programme allein setzen können, sondern muss aus der Geschichte einer ambitionierten, aber letztlich überforderten Transformation lernen. Diese beiden Bücher helfen dabei – zugänglich, informativ und klug.

Beide Sammelbände sind open access kostenfrei und barrierefrei als PDF abrufbar.

Bergmann, Knut/Diermeier, Matthias (Hrsg.): Transformationspolitik. Anspruch und Wirklichkeit der Ampel-Koalition, Transcript-Verlag, Bielefeld 2024 (PDF-ISBN: 978-3-8394-7078-7)

Bundeskanzleramt (Hrsg.): Zwischen Zumutung und Zuversicht. Transformation als gesellschaftliches Projekt, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin 2024