10.04.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Unausgeschöpfte Gelegenheit zur Tiefenbohrung bei der documenta fifteen

»Die documenta nimmt nicht nur eine herausragende Position in kultureller Wissensproduktion und -vermittlung ein, sie ist gleichzeitig immer umkämpfter Gegenstand in politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Wissenskulturen.« (Paul Buckermann 2022)

In den vergangenen 70 Jahren ihres Bestehens entwickelte sich die documenta aufgrund ihrer von Buckermann auf den Punkt gebrachten Bedeutung zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse (vgl. Pooth 2024; Buckermann 2022; Gross et al 2021) aber auch Ausstellungen, wie z.B. Was von 100 Tagen übrig blieb… Die documenta und das Lenbachhaus im gleichnamigen Münchner Kunsthaus (2022/23) oder documenta. Politik und Kunst im Deutschen Historischen Museum (2021/22).

Dass auch die documenta fifteen, die vom 18. Juni bis 25. September 2022 in Kassel stattfand, und die im Vorfeld wie auch während ihrer Laufzeit von massiven Antisemitismusvorwürfen begleitet, teilweise dominiert wurde, zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse werden würde, war nur eine Frage der Zeit. 

Am 1. April 2025 stellten der emeritierte Makrosoziologe und Gründungsdirektor des documenta Instituts, Heinz Bude, und Meron Mendel, Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, den von ihnen herausgegebenen Sammelband Kunst im Streit. Antisemitismus und postkoloniale Debatte auf der documenta fifteen vor. 

Die von Saskia Trebing (Monopol Magazin) moderierte Buchvorstellung im überfüllten Veranstaltungssaal des Fridericianum Kassel zeigte das bis heute anhaltende erhebliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit der documenta fifteen und die weiterhin bestehenden Kontroversen um diese documenta. Diese sei, wie Meron Mendel ausführte, von der Auffassung aller Beteiligten geprägt, dass die Debatte verzerrt geführt und die jeweils eigene Position nicht ausreichend Gehör finden würde. Heinz Bude wiederum betonte, dass die documenta dazu zwinge, Stellung zu beziehen – ein bloßes Zuschauen sei nicht möglich.

Vorausgegangen ist dem Sammelband das vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderte Projekt (2022–2023) Antisemitismus und postkoloniale Debatten am Beispiel der documenta fifteen. Eingang fanden wohl u.a. auch, so war zumindest Meron Mendel auf der Buchvorstellung zu verstehen, die Erkenntnisse des im Februar 2023 durchgeführten Symposiums: Kontroverse documenta fifteen – Hintergründe, Einordnungen und Analysen an der HFBK Hamburg. Einzelne Autor:innen, wie z.B. die Kasseler Kunst- und Medienwissenschaftlerin Mi You nehmen auf weitere Foren über die documenta fifteen Bezug. So fand beispielsweise am 22./23. September 2022 in Amsterdam, organisiert von Framer Framed, the Society of Arts und dem Van Abbemuseum ein Symposium (un)Common Grounds - Reflecting on documenta fifteen statt.

Der Sammelband arbeitet, wie die beiden Herausgeber in der Einleitung ohne weitere Erläuterung benennen, mit der Methode der dichten Beschreibung. Hierbei handelt es sich um einen vom US-amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz geprägten Forschungsansatz, der soziale Handlungen nicht nur beobachtet, sondern ihren kulturellen Sinn im jeweiligen Kontext erschließt. So entsteht eine interpretative, kontextbezogene Analyse sozialer Praxis, bei der kulturelle Bedeutungen entschlüsselt und Handlungen nicht nur beschrieben, sondern auch gedeutet werden. Auf diesem Wege wollen Bude/Mendel „einen freien Blick jenseits von Verteufelung und Beweihräucherung, jenseits von Anklage und Verteidigung“ gewinnen.

Die Beiträge des Sammelbandes widmen sich der documenta fifteen unter drei Betrachtungsebenen:

  1. In sechs Beiträgen wird das Verhältnis der Frenemies Rassismuskritik und Antisemitismuskritik beleuchtet, werden Antisemitismusverständnisse erörtert bzw. Grenzen und Formen der Sagbarkeit in der Antisemitismusdebatte zur documenta fifteen ausgeleuchtet bzw. eine detaillierte Analyse des visuellen Antisemitismus in Taring Padis Werk People’s Justice vorgenommen.
  2. Fünf Beiträge setzen sich mit der inhaltlichen Konzeption, Durchführung und Reflektion der vom indonesischen Künstler:innenkollektiv Ruangrupa kuratierten documenta fifteen auseinander.
  3. „Ist Kassel zu Gast auf der documenta oder die documenta zu Gast in Kassel?“ fragt Maria Neumann und antwortet, beides träfe zu. In diesem Sinne widmen sich Neumann und zwei weitere Beiträge der gastgebenden Stadt, ausgewählten zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sowie der documenta gGmbH als Organisation im Stress.

Dieser breit eingestellte Fokus der Betrachtung ist eine Stärke dieses Sammelbandes, an dem niemand vorbeikommen kann, der sich ernsthaft und ambiguitätstolerant der documenta fifteen widmen möchte.

Die Schwäche liegt in der fehlenden Verzahnung der einzelnen Beiträge. Bereits deren Anordnung unterliegt keiner ersichtlichen inhaltlichen Gliederung. Es wird zwischen den Betrachtungsebenen munter hin- und hergesprungen. So stehen die Beiträge zwar inhaltlich unter dem gemeinsamen Dach der Herausgeber, sie sind aber unverbunden zwischen den Autor:innen. Dabei wäre es wünschenswert und vermutlich auch möglich gewesen, die Autor:innen aufeinander reagieren zu lasse und dadurch in einen weiterführenden argumentativen Austausch zu treten. Die unterschiedlichen Betrachtungsebenen, aber auch differierende Sichtweisen werden im Lesen der einzelnen Beiträge zwar erkennbar aber die Chance auf dialektische Zuspitzungen oder produktiv bearbeitete Widersprüche bleibt ungenutzt.

Bedauerlicherweise verzichten auch die Herausgeber darauf, z.B. durch eine ausführliche und in die Beiträge einführende Einleitung, diese Klammer in geeigneter Form herzustellen. Ob dies selbstgesetztem Zeitdruck, oder einer unnötigen Zurückhaltung geschuldet ist, bleibt offen.

Ein in diesem Kontext sorgfältigeres Lektorat hätte freilich auch lästige Redundanzen, etwa bei der mehrfach wiederholten Darstellung der Chronologie der Antisemitismusvorwürfe, die jeweils auf das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus als Ausgangspunkt verweisen, vermieden werden können. Oder Schusseligkeiten wie die Bezeichnung einer 1971 erschienen Zeitung als russisch, obwohl sowjetisch gemeint ist, was eben einen Unterschied macht.

Für diejenigen, die sich davon nicht negativ berühren lassen, hält der etwas mehr als 340 Seiten umfassende Sammelband interessante Analysen bereit, von denen einige ausgewählte nachfolgend vorgestellt werden. Wer beispielsweise bisher um den 2022 von Meron Mendel, Saba-Nur Cheema und Sina Arnold herausgegebenen Sammelband Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen herumgeschlichen ist, findet im Beitrag vom Tübinger Politikwissenschaftler Floris Biskamp Rassismuskritik und Antisemitismuskritik im Streit um die documenta fifteen eine kompakte Einführung, die Lust macht, sich vertiefter mit diesem Spannungsverhältnis auseinanderzusetzen und Wege der Vermittlung dieser gegenwärtig unversöhnlich erscheinenden Positionen in einer progressiven Praxis zu entwickeln.

Das Großbild People’s Justice von der indonesischen Künstlergruppe Taring Padis war nicht weniger als der offen sichtbare Beweis für die bereits im Vorfeld geäußerten Befürchtungen einer gegenüber Antisemitismus unsensiblen und Jüdinnen und Juden sowie Israel gegenüber feindlich eingestellten documenta. Das Werk wurde kurzzeitig verhüllt und dann entfernt. Uffa Jensen, stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin unterzieht das Werk einer in jeder Hinsicht kritischen Bildanalyse. Denn trotz der enormen Aufmerksamkeit, die weniger das mehr als 30 Jahre alte Werk als solches, mit dem Taring Padis eine Auseinandersetzung mit der gewaltvollen Suharto-Diktator in Indonesien vornehmen, der zwischen 500.000 und einer Million Anhänger:innen der kommunistischen Partei oder als solche identifizierte Indonesier:innen zum Opfer fielen, wurde in der Kritik des Werkes gemeinhin mit dem europäischen Blick argumentiert. Jensen argumentiert, ohne die antisemitische Konnotation in den betreffenden Bestandteilen des Werkes zu negieren, dafür, „die Einordnung von Bildern in den Kosmos antisemitischer Darstellungen“ als „keine einfache Aufgabe“ anzuerkennen: „Wer hier sorglos vorgeht, baut im besten Fall Scheinplausibilitäten auf. Wer dies im globalen Kontext unternimmt, läuft immer Gefahr, […] dass man das eigene Bildergedächtnis für das anderer hält, für das anderer Kulturen oder gar für das der ganzen Welt.“ Auch die Antisemitismuskritik muss ihren eurozentrischen Fokus reflektieren. An Jensens Bildanalyse werden sich andere Betrachtungen messen lassen müssen.

Der Bonner Südostasienwissenschaftler Timo Duile erläutert in seinem Beitrag kundig die in Indonesien sich herausgebildete geschichtliche Perspektive des Globalen Südens, in denen „maßgebliche Bereiche der innereuropäischen Geschichte“ weniger relevant erscheinen und der Holocaust entweder aus Unwissenheit oder „mitunter auch aus Angst, dass durch die Thematisierung des Holocaust das Narrativ von Israel als eines Unrechtsstaates ins Wanken kommen könnte, weil durch eine Anerkennung des Holocaust die Existenz des Staates Israel eine Legitimation erfahren könnte“, nicht erwähnt wird. Er formuliert am Ende seines Beitrags sechs Thesen zu einem Dialog über Antisemitismus mit Akteuren aus Indonesien, die jedoch an keiner anderen Stelle des Buches aufgegriffen und debattiert werden.

Mi You, die als Professorin an der Uni Kassel lehrt und dem documenta institut angehört, äußert in ihrem Beitrag den spannenden Gedanken, dass der Referenzrahmen der documenta fifteen kuratorisch in den Weltsozialforen zu finden sei. Bei diesen seit 2001 regelmäßig stattfindenden  internationalen und zivilgesellschaftliche Großveranstaltungen, alternativ zum Weltwirtschaftsforum in Davos, vernetzen sich soziale Bewegungen, NGOs, Gewerkschaften, indigene Gruppen, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sowie politische Aktivist:innen aus der ganzen Welt, um alternative Perspektiven zur herrschenden Globalisierung zu entwickeln. Mi You schließt aus dieser Betrachtung, dass „eine konstruktive Kritik […] die transnationalisierte Ausrichtung politischer Bündnisse und die Instrumentalisierung der Kunst im Globalen Süden heute als Ausgangspunkt nehmen [könnte], anstatt dies als Ende des Miteinander-Sprechens zu betrachten.“ Im Übrigen kontrastiert ihr Beitrag, der bereits 2022 veröffentlicht und für den Sammelband leicht überarbeitet wurde, Duiles Überlegungen – beide bleiben aber unverbunden.

Tim Seidenschnur von der Universität Kassel und Leonie Buschkamp, Wissenschaftlerin am Leibniz-Institut Hannover beabsichtigen im Beitrag Die documenta gGmbH: Eine Organisation im Stress eine „organisationssoziologisch informierte Rekonstruktion von Schwachstellen und Spannungsfeldern auf empirischer Basis“ vorzulegen. Hierzu sichteten sie Dokumente und führten Interviews, aus denen sie vier Spannungsfelder identifizierten: (1) gegenläufige Diskurse, (2) soziale Netzwerke und deren Eigenlogik sowie Informationsflüsse, (3) Hierarchien und Entscheidungsdiffusion in künstlerischen Kollektiven sowie (4) politische und künstlerische Interessen in der Gesellschafter- und Organisationsstruktur der documenta gGmbH. Der Beitrag bleibt bedauerlicherweise im Wesentlichen auf der deskriptiven Ebene, ohne zusätzlich einzubeziehen und zu diskutieren, welche Anpassungen in der Organisationsstruktur der gGmbH seither durch die Gründung eines Beirates, eine neue Rolle des Bundes in der Gesellschafterstruktur etc. bereits vorgenommen wurden.

Dem am documenta Institut als Koordinator tätigen Soziologen Michael Flörchinger, dessen Dissertation Mit der documenta leben. Ein Bericht aus Kassel, die Erforschung der „documenta Stadt“ zum Gegenstand hat, gelingt ein exzellente Beschreibung dreier lokaler Institutionen und dessen Akteur:innen: dem linksalternativen Sportverein Dynamo Windrad, dem jüdischen Sara Nussbaum Zentrum sowie dem documenta forum. Sein Beitrag nimmt die von Neumann mit „beides“ beantwortete Frage „Ist Kassel zu Gast auf der documenta oder die documenta zu Gast in Kassel?“ auf und verdeutlicht, dass es nicht die eine Stadt Kassel gibt, sondern in ihr sehr unterschiedliche Akteure und Institutionen. Ein von Verlustangst getriebenes documenta forum, ein Sportverein, der „signalisiert, dass es in der Stadt immer noch etwas Wichtigeres als die documenta gibt“ und das Sara Nussbaum Zentrum, dessen jüdische Akteur:innen auch und gerade im Lichte des 7. Oktober 2023 die Frage aufwerfen „wer gehört zur Stadt, wer nicht? Wer zählt, über wen sieht man hinweg?“. Flörchinger schließt mit dem Satz: „Der gefährdete Stand des Sara Nussbaum Zentrums während der Antisemitismuskontroverse der documenta fifteen gibt in Kassel auch den Punkt an, von dem aus sich die ganze Sache infrage stellen lässt.“

Für solche Erkenntnisse aber auch die sehr spannende Diskursanalyse von Christoph Gollasch, Marlene Kiling und Meron Mendel lohnt sich der Blick in den Sammelband zur documenta fifteen. Gollasch/Kiling/Mendel stellen im Fazit fest: „In der Debatte [um die documenta fifteen wurde] viel mit ‚großen Begriffen‘ agiert, viel verallgemeinert und mitunter nur wenig spezifiziert […]. Dabei verschwand die wirkliche Pluralität regelmäßig hinter großen Kategorien, mit denen zwangsläufig homogenisierende Zuschreibungen einhergingen. Für solch eine weiße Perspektive des Rundumschlags ist es dann gerade hilfreich, anderen Stimmen kein Gehör zu verschaffen, die zu einer Differenzierung, aber eben auch Verkomplizierung beitragen würden.“

Der Sammelband trägt dazu bei, unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen, auch wenn auf der Buchvorstellung bemängelt wurde, dass die Stimmen des Postkolonialismusdiskurses gegenüber dem Antisemitismusdiskurs unverhältnismäßig unterrepräsentiert seien. Es bleibt zu wünschen, dass in der Diskussion der Beiträge und in weiteren Publikationen zum Thema die Argumente und Überlegungen der Autor:innen noch stärker miteinander ins Gespräch kommen, als nur in einem Band gesammelt zu werden.

Heinz Bude/Meron Mendel (Hrsg.), Kunst im Streit. Antisemitismus und postkoloniale Debatte auf der documenta fifteen, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2025 [ISBN: 978-3-593-51973-9]