28.03.2025
Interview aus dem Podcast »Kunst der Freiheit«

Wenn der Rechtsstaat irrt: Im Gespräch mit Dr. Tatjana Holter über Fehlurteile, soziale Ungleichheit und die Hürden der Wiederaufnahme

„Ein Urteil, das über einen gefällt wird, darf nicht davon abhängen, ob man arm oder reich ist, ob man schlau ist oder nicht. Es darf nicht von Zufällen und Schlampigkeit geprägt sein. Es kann nicht sein, dass man verurteilt wird, weil man das Pech hat, sich eben nicht dem besten Verteidiger leisten zu können oder einen der Richter nicht für voll nimmt.“

So formulierte es Anja Reschke in einer Folge der Sendung Panorama, schon im Jahr 2012. Dokumentiert wurde seinerzeit der Fall eines Mannes, der sieben Jahre unschuldigen im Gefängnis gesessen hatte. Fehlurteile sind eine der gravierendsten Schwächen eines Justizsystems, da sie nicht nur das Leben der Betroffenen zerstören, sondern auch das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttern.  Die Strafverteidigerin Dr. Tatjana Holter ist Vorstandsmitglied des Vereins Fehlurteil und Wiederaufnahme, der sich als Interessenvertretung von Fehlurteilen Geschädigter sieht. Mit ihr sprach ich in der Sendung vom 10. Februar 2025 meines Podcasts Kunst der Freiheit.

Desweiteren berichteten Katrin Petermann und ich in der Sendung über  ein exzellentes Radio Feature zu Rassismus im Strafvollzug vom investigativen Journalisten Mohamed Amjahid, das in der ARD-Audiothek abgerufen werden kann sowie u.a. über unzumutbare Bedingungen in bayerischen Justizvollzugsanstalten. Hier dokumentieren wir das Gespräch mit Dr. Tatjana Holter.

Wie Fehlurteile entstehen – Ursachen und Strukturen

BIHoff: Ralf Eschelbach, Richter im Bundesgerichtshof, vermutete, dass etwa jedes vierte Strafurteil fehlerhaft sein könnte. Diese Zahl ist nicht unumstritten und basiert auch nicht auf empirischen Daten. Eine Untersuchung der Entschädigungsstatistiken wiederum nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen hat ergeben, dass zwischen 1971 und 2014 insgesamt 476 Fehlurteile anerkannt wurden, was etwa 13 Fehlurteilen pro Jahr entsprechen würde.
Aber das ist eben auch nur das Hellfeld, die Dunkelziffer dürfte höher sein. Und vor diesem Hintergrund, Frau Dr. Holter, wie groß schätzen Sie, quantitativ aber auch qualitativ, das Problem von Fehlurteilen in Deutschland ein und welche strukturellen Faktoren begünstigen eigentlich Fehlurteile?

THolter: Zunächst zum Quantitativen: Darüber kann aktuell nur spekuliert werden, da es dazu keine verlässlichen Zahlen gibt Meiner Kenntnis nach soll Herr Eschelbach dementiert haben, von 25 Prozent Fehlurteilen gesprochen zu haben. Einschätzungen von ExpertInnen variieren von 0,0x Prozent bis hin zu zweistelligen Prozentangaben. Es gibt verlässliche Zahlen aus den USA.  Dort liegt die Fehlerquote bei zwei bis fünf Prozent, aber diese Zahlen sind wegen der sehr unterschiedlichen Rechtssysteme auf das deutsche System nicht ohne weiteres übertragbar.

Qualitativ sieht die Erkenntnislage besser aus. Es gibt Studien, die Aufschluss über Fehlerquellen im Strafverfahren geben. Besonders fehleranfällig ist danach das Strafbefehlsverfahren. Dabei handelt es sich um ein unterkomplexes Verfahren, das rein schriftlich abläuft. Das bedeutet praktisch, dass eine Person verurteilt wird, ohne dass sie jemals einen Gerichtssaal von innen gesehen hat. Und in diesen Verfahren sind die Betroffenen auch oft unverteidigt.

Auch Verfahren mit nur einer Tatsacheninstanz gelten als fehleranfällig. Das betrifft alle Verfahren, die beim Landgericht starten. Das Landgericht ist für schwerere Vorwürfe zuständig. Bei diesen Urteilen findet aber keine Überprüfung der Richtigkeit des Beweisergebnisses mehr statt.

Der häufigste Wiederaufnahmegrund ist die unerkannte Schuldunfähigkeit. In der Regel betrifft das Verurteilungen wegen Kleinstkriminalität im Strafbefehlsverfahren. Wenn dann ein schwereres Delikt begangen oder Einspruch gegen einen Strafbefehl eingelegt wird und es in der Folge doch zu einer Hauptverhandlung und Begutachtung der Schuldfähigkeit kommt, kann die Feststellung der Schuldunfähigkeit zur Wiederaufnahme der bereits rechtskräftigen vorherigen Verurteilungen führen.

Eine weitere Fehlerquelle ist die Fehlidentifikation. Beispielweise sagt eine Zeugin in der Hauptverhandlung aus, den Angeklagten als Täter wiederzuerkennen, irrt sich dabei aber. Dem muss keine vorsätzliche Falschbelastung zugrundeliegen. Oft genug sind Zeug:innen von der Situation im Gerichtssaal beeinflusst und denken: „Der sitzt ja da auf der Anklagebank, dann war der das dann auch.“

Auch falsche Geständnisse kommen vor. Sie entstehen durch Geständnisdruck, der etwa durch die Polizei entstehen kann. Es gibt aber auch Fälle, in denen sich Verurteilte von einem falschen Geständnis eine mildere Strafe erhofft haben und möglicherweise auch auf Anraten ihrer Verteidigerin oder ihres Verteidigers ein falsches Geständnis abgeben.

Nicht zuletzt können Ermittlungsfehler seitens der Behörden zusätzliche Fehlerquellen sein. Etwa Ermittlungen nur in eine Richtung, ein frühes Festlegen auf einen Täter oder eine Täterin.

Wie sich das Verhältnis zwischen diesen Fehlerquellen konkret darstellt, ist in Deutschland noch nicht abschließend erforscht. Ein Anliegen unseres Projekts ist es, hieran zu forschen.

BIHoff: Eine weitere Hürde ist vermutlich auch eine mangelnde Fehlerkultur nicht nur in der Justiz, sondern in der öffentlichen Verwaltung insgesamt. Vor dem Hintergrund, dass wir eine Vielzahl von rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland haben und eine intensive rechtswissenschaftliche Forschung, so z.B. das kriminalwissenschaftliche Institut an der Leibniz Universität Hannover, stellt sich schon die Frage, warum die Daten- und Forschungslage bislang so überschaubar ausfällt.

THolter: Das liegt meiner Meinung nach daran, dass JuristInnen in der Regel keine empirische Forschung betreiben. Es gibt Lehrstühle, die zum Thema Wiederaufnahme forschen, aber empirische Forschung lernen wir in unserer Ausbildung nicht. Die Studie zu Fehlerquellen, von der ich gerade sprach, war etwa keine Studie von JuristInnen, sondern von AussagepsychologInnen.

BIHoff: Nun ist in Deutschland die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens nur unter engen Bedingungen möglich, wie ich gelernt habe in Vorbereitung auf diese Folge des Podcasts. Und insbesondere die hohen Beweiswürden sollen es für die zu Unrecht verurteilten, schwer machen, eine neue Verhandlung zu erzwingen. Wo sehen Sie auch aus Ihrer eigenen Arbeit als Strafrechtlerin die größten Schwachstellen im aktuellen Wiederaufnahmerecht und welche Reformen wären aus Ihrer Sicht dringend umzusetzen bzw. langfristig notwendig?

THolter: Grundsätzlich gesprochen krankt das Wiederaufnahmeverfahren an dem Widerspruch zwischen dem Recht auf Wiederaufnahme, das der Staat verfassungsrechtlich garantieren muss, und den sehr hohen formalen Anforderungen an einen erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag. Meiner Meinung nach muss das Verfahren effektiver gestaltet werden und leichter zugänglich gemacht werden.

Ganz konkrete Hürden gibt es in tatsächlicher und in rechtlicher Art. Die Fälle, mit denen ich in der Regel beschäftigt bin, spielen im Bereich der neuen Beweise oder neuen Tatsachen. Das ist einer von mehreren Wiederaufnahmegründen zugunsten von Verurteilten. Im Wiederaufnahmeverfahren trägt der oder die Betroffene die Darlegungslast dafür, dass das Urteil falsch ist. Das führt jetzt mal untechnisch gesagt dazu, dass ich beweisen muss, dass ich entgegen der Feststellungen des Gerichts unschuldig bin. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand.

BIHoff: Warum ist das schwierig?

THolter: Das hat ganz profane Gründe. Der eine Grund besteht darin, dass Asservate nicht lange genug aufbewahrt werden. Nach Ablauf von unterschiedlichen Zeiten je nach Bundesland werden Asservate vernichtet. Es gibt dann keine Möglichkeit mehr, auf das, was die Behörden ermittelt haben, zuzugreifen. In diesem Fall sind die Ermittlungsmöglichkeiten sowohl seitens der Verurteilten als auch der Verteidigung eingeschränkt. Auch haben Verurteilte und Verteidigung nicht die gleichen Ermittlungsmöglichkeiten wie eine Staatsanwaltschaft. Ich habe etwa keine Ermittlungspersonen, die ich losschicken kann. Das auf eigene Faust zu machen, ist zeitaufwendig.

Das betrifft einerseits das oft aufwendige Aktenstudium, aber auch Ermittlungen selbst können zeitaufwendig sein, vor allen Dingen sind sie aber teuer. Die finanziellen Hürden sind sehr hoch und für viele Verurteilte nicht zu stemmen. Das ist insbesondere der Fall, wenn Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen.

Zusätzlich ist das Wiederaufnahmerecht selbst kompliziert. Es gibt nur vereinzelte VerteidigerInnen, die darauf spezialisiert sind. In der Regel hat die verurteilte Person ihre finanziellen Mittel im Instanzverfahren außerdem verbraucht.

Wiederaufnahmeverfahren: Hohe Hürden und soziale Ungleichheit

BIHoff: Sie stellten eben dar, dass der Instanzenweg – also der Weg einer Berufung gegen ein Urteil in den höheren Instanzen – nicht nur zeitaufwändig, sondern kostenintensiv ist. Das Geld sei dann verbraucht. Mir erscheint es so, als ob diejenigen, die wenig Mittel haben damit auch weniger Möglichkeiten haben, gegen ein Fehlurteil vorzugehen, als diejenigen, die möglicherweise über eine finanziell bessere Situation verfügen? Sollte der Zugang zum Recht und damit auch zu Berufungen gegen mögliche Fehlurteile nicht für alle gleich sein?

THolter: Ja, die Kostenfrage ist ein Punkt, der soziale Ungerechtigkeit deutlich macht. Wie leider in allen gesellschaftlichen Bereichen sind arme Menschen auch im Wiederaufnahmeverfahren benachteiligt. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass das gerade im Wiederaufnahmeverfahren ein Problem ist, weil dort die Kosten in der Regel vorgestreckt werden müssen.

Sie fragten mich nach meinen Reformvorschlägen oder wo aus meiner Sicht Reformbedarf besteht. Wir haben die mangelnde Fehlerkultur in der Justiz schon angesprochen. Der psychologische Faktor, also die Hemmschwelle, ein Urteil aufzuheben ist hoch. Im Wiederaufnahmeverfahren kommt hinzu, dass der Richter oder die Richterin, der/die sich mit dem Wiederaufnahmeantrag beschäftigt, an die Beweiswürdigung des Instanzgerichts gebunden ist. Mit anderen Worten: Die Feststellungen des Instanzgerichts und die Art, wie es die Beweise gewürdigt hat, steht auch im Wiederaufnahmeverfahren fest. Das muss meiner Meinung nach aufgehoben werden. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine trennscharfe Definition dafür gibt, was eigentlich ein neues erhebliches Beweismittel oder eine neue erhebliche Tatsache ist.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass es in der deutschen Strafprozessordnung keine Dokumentation der Hauptverhandlungen gibt. Das bedeutet, dass ich nicht weiß, was Zeuginnen oder Zeugen in der Hauptverhandlung konkret gesagt haben. Denn das wird nicht dokumentiert. Ich kann also nur den Urteilsgründen entnehmen, was das Gericht im Verfahren gehört hat oder nicht.

BIHoff: In dem, was Sie beschrieben haben, könnte ich mir vorstellen, dass Medienberichterstattung in einem Fall, der also eine höhere öffentliche Wahrnehmung hat, aber vielleicht auch auf der lokalen Berichterstattungsebene, Fluch und Segen zugleich sein kann. Mediale Berichterstattung hat in der Vergangenheit dazu beigetragen, Fehlurteile aufzudecken, investigative Reportagen beispielsweise oder True-Crime-Formate. Gleichzeitig scheinen mediale Vorverurteilungen dazu beitragen zu können, Fehlurteile zu begünstigen oder die Wiederaufnahme zu erschweren, wenn dazu noch all die Punkte kommen, die Sie angesprochen haben.

THolter: Darüber, welchen Einfluss mediale Berichterstattung tatsächlich auf Wiederaufnahmefälle hat, liegen keine zuverlässigen Daten oder Studien vor. Es gibt die einen, die behaupten, dass der öffentliche Druck auf die Justiz, wenn er steigt, auch dann ein Wiederaufnahmeverfahren begünstigen kann. Andere bestreiten das und sagen, davon lasse sich ein deutsches Gericht nicht beeindrucken.

Was mir auffällt, ist, dass die Berichterstattung sich auf erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren beschränkt. Darin liegt meiner Meinung nach aber auch ein Problem. Ein erfolgreicher Wiederaufnahmefall ist im Grunde Beleg dafür, dass das System funktioniert und erweckt den Anschein eines effektiven Wiederaufnahmesystems, das meiner Meinung nach in der Form nicht existiert.

Wenn ich einen Wunsch an mediale Berichterstattung äußern dürfte, dann wäre das der Wunsch nach möglichst neutraler Berichterstattung. Dazu gehören auch potenzielle Fehlerquellen und die Hürden der Wiederaufnahme; dies im besten Falle schon bevor über einen Wiederaufnahmeantrag entschieden wurde, sodass also auch potenzielle Fehlurteile in das Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten.

Warum eine bessere Fehlerkultur im Justizsystem dringend notwendig ist

BIHoff: Wir haben das Thema Fehlerkultur schon aufgerufen. Innerhalb der öffentlichen Verwaltung, in der ich lange Zeit tätig gewesen bin, hat das Thema Fehlerkultur in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Im Gesundheitswesen gibt es diese Fehlerkultur genauso auch, wie beispielsweise im Flugwesen schon viel länger. Inwieweit ist in der Gesamtdiskussion zur Reform des juristischen Studiums – erinnert sei an die große Initiative iur-Reform über Inhalt und Form der rechtswissenschaftlichen Ausbildung – das Thema Fehlerkultur ebenso präsent wie in den verschiedenen Bereichen der Justiz?

THolter: Meiner Meinung nach sollte das unter allen Umständen Thema sein. Wir bieten regelmäßig Fortbildungen zu dem Thema Fehlerquellen an. Ich erlebe das auch auf anderen Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen. Mein Eindruck ist jedoch auch, dass sich für Fehlerquellen naturgemäß eher VerteidigerInnen interessieren als Richter:innen.

Wie das System dort, also das Schulungssystem ausgestaltet ist, weiß ich im Einzelnen nicht. Insgesamt ist mein Eindruck, dass das Bewusstsein für die Fehleranfälligkeit von Strafverfahren steigt. Das hat sicherlich auch mit den medienwirksamen Fällen zu tun, die es in den letzten Monaten und Jahren gab. Eine größere Fehlerkultur ist aber wünschenswert.

BIHoff: In Vorbereitung auf den Podcast habe ich mich mit dem Thema Haftentschädigung vertraut gemacht, denn ihr Verein gibt regelmäßig ja auch, sagen wir mal so, Darstellungen über die Presseberichterstattung zu diesem Thema und schafft dadurch auch eine Öffentlichkeit. Dabei habe ich gelernt, dass sich die Haftentschädigung in Deutschland auf eine pauschale Geldzahlung beschränkt, die auch, vergleichsweise, niedrig ist. Anspruch auf weitergehende Unterstützung haben die Betroffenen nicht. Und anders als regulär entlassene Strafgefangene erhalten sie keine Hilfe zur Resozialisierung etwa durch Bewährungshelfer oder Eingliederungsprogramme.
Das finde ich ein bisschen schwierig, denn Unschuldige, die Jahre oder Jahrzehnte in Haft verbracht haben, leiden ja oder ich könnte mir vorstellen, dass sie unter schwerwiegenden psychischen Folgen wie posttraumatischen Belastungsstörungen, soziale Isolation oder Stigmatisierung leiden. Und diese finanzielle Entschädigung, die es gegenwärtig gibt, deckt diesen immateriellen Schaden möglicherweise nicht ausreichend ab.

THolter: Das sehe ich genauso. Es gibt jetzt Reformvorschläge, die Haftentschädigung anzuheben. Sie soll danach für die ersten sechs Monate 100 Euro pro Tag betragen und dann ab sechs Monaten 200 Euro pro Tag, um den zusätzlichen Belastungen, die durch fortschreitende Haftdauer entstehen, Rechnung zu tragen. Das begrüße ich natürlich und dennoch gehen diese Initiativen meiner Meinung nach nicht weit genug. Aktuell ist es etwa so, dass sich Verurteilte, ersparte Aufwendungen anrechnen lassen müssen. Das bedeutet also, dass die Kosten, die Verurteilte durch ihre Inhaftierung für Verpflegung und ihre Unterkunft gespart haben, angerechnet werden. Das kann nicht richtig sein.

Weiter wissen viele Verurteilte auch gar nicht, welche Möglichkeiten der Entschädigung es gibt. Meiner Meinung nach sollte es dazu eine kostenlose anwaltliche Erstberatung geben.  Ein zusätzliches großes Problem, das ich im Entschädigungsrecht sehe, sind sehr kurze Fristen. Und ganz besonders deutlich, finde ich, wird das an der Ausschlussfrist. Nach einem Jahr kann keine Entschädigungsansprüche mehr geltend gemacht werden.

BIHoff: Da muss ich noch mal kurz nachfragen. Das heißt also, wenn ein Urteil aufgehoben ist und als Fehlurteil anerkannt ist, dann kommt der Staat nicht von sich aus auf denjenigen, der schon unschuldig im Gefängnis gesessen hat, zu und sagt, „hey, das hier sind deine Ansprüche. Die hast du und die geben wir dir einfach, weil das dein Recht ist und weil wir dich unschuldig verurteilt haben“. Sondern der Verurteilte muss auch noch selbst darum gegenüber dem Staat, zu dessen Unfehlbarkeit ein gewisser individueller Vertrauensverlust eingetreten, kümmern. Das klingt ein bisschen so, als ob der Staat sich hier aus seiner Verantwortung stiehlt.

THolter: Das kann man so sagen. Der Staat hat natürlich die Pflicht, den oder die Betroffene darüber zu belehren, dass es solche Ansprüche gibt, aber sich für diese Ansprüche anzumelden, die entsprechenden Anträge zu stellen und zu begründen, bleibt in der Hand der Verurteilten. Das ist eine Hürde, die ein juristischer Laie oder eine Laiin nicht nehmen kann.

Schließlich muss ein aufgehobenes Urteil nicht veröffentlicht werden. Das sollte dringend geändert werden. Dazu gibt es auch eine Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer mit dem Tenor, die Rehabilitierung durch eine Bekanntmachungspflicht aufgehobener Verurteilung durchzusetzen.

BIHoff: In den USA gibt es Organisationen wie das Innocence Project, die sich ausschließlich mit der Überprüfung von Fehlurteilen befassen und mithilfe neuer auch forensischer Methoden viele Wiederaufnahmen erwirkt haben. Ihr Projekt Fehlurteil und Wiederaufnahme setzt sich in Deutschland aktiv für Menschen ein, die zu Unrecht verurteilt wurden und kämpft für Reformen Wiederaufnahmerecht. Warum brauchte es nach Gründung der Bundesrepublik fast mehr als 75 Jahre, bis es überhaupt so einen Verein in Deutschland gibt.

THolter: Unser Projekt wurde gegründet von unserem ersten Vorsitzenden, Professor Stefan König. Gemeinsam mit einem Kollegen forschte und publizierte er zum Thema Wiederaufnahme und dem Phänomen des Fehlurteils. Im Rahmen dieser Arbeit gab es auch Kontakte zu dem von Ihnen schon angesprochenen Innocence Project in New York.

In den USA ist das in der Tat eine sehr große und sehr erfolgreiche Organisation mit längerer Geschichte. Dass sich in Deutschland erst vergleichsweise spät ein solches Projekt gründete, liegt unter anderem daran, dass die Strafen in Deutschland im Vergleich zu den USA nicht so lang sind. Dort war es wiederum so, dass durch die Entwicklung der DNA-Analyse viele Fehlurteile aufgehoben werden konnten und darunter waren Menschen, die Jahrzehnte in Haft verbracht hatten. Das ist in Deutschland selten.

Die Motivation und die Anliegen des Vereins sind natürlich in allererster Linie Betroffenen eine Anlaufstelle zu geben, sich auch nach Rechtskraft ihrer Verurteilung an jemanden wenden zu können und überprüfen lassen zu können, ob es sich bei ihrem Urteil um ein Fehlurteil handelt. Das gewährleisten wir unter anderem dadurch, dass wir viele geschulte Mitwirkende in dem Projekt haben. Dafür konnten wir viele Kollegen und Kolleginnen mobilisieren, die wiederum auch entsprechend geschult wurden. Als Vorstand überprüfen wir alle uns gemeldeten Fälle und sehen uns an, welche Möglichkeiten sich bieten.

Ein weiteres Anliegen ist die Erforschung der Häufigkeit von Fehlurteilen und auch die Erforschung von Fehlerquellen, über die wir eingangs schon gesprochen haben. Durch diese Erkenntnisse wollen wir das gesellschaftliche Bewusstsein für Fehlurteile ebenso stärken, wie wir die von uns bereits erörterte Fehlerkultur etablieren und verbessern wollen. Dazu arbeiten wir mit vielen Universitäten in der ganzen Bundesrepublik in sogenannten Law Clinics zusammen. Das sind Studieneinheiten, in denen Studierende an unseren Fällen mitarbeiten können. Darüber hinaus wollen wir die Staatsanwaltschaften einbinden und eine Zusammenarbeit mit dieser umzusetzen.

BIHoff: Wir sprachen bereits vorhin über ungleiche Zugänge zum Rechtssystem aufgrund sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft. Sowohl im Hinblick auf die Gefahr, dass Menschen, die über geringere Bildungschancen, eine schlechtere sozioökonomische Ausgangslage verfügen, bei denen Sprachbarrieren vorherrschen, eher Fehlurteile zu vergegenwärtigen und geringere Möglichkeiten für Wiederaufnahmeverfahren haben, als auch die hohen Hürden, um Entschädigungen in Anspruch zu nehmen. Inwiefern trägt Ihr Projekt auch diesem Sachverhalt Rechnung?
 

THolter: Ein Fehlurteil kann jede:n treffen. Dennoch ist es so, dass wir in einem System leben, in dem Menschen, die bildungsfern aufgewachsen sind oder keine finanziellen Möglichkeiten haben, strukturell benachteiligt werden. Das betrifft auch und insbesondere das Thema Wiederaufnahme oder falsche Verurteilungen.


Es ist nicht von der Hand zu weisen, wie sich die Risiken durch Klassenzugehörigkeit erhöhen, wie es Ronen Steinke kürzlich in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ anschaulich dargestellt hat.

Eine gute Verteidigung ist oft teuer. Das können sich manche Menschen nicht leisten. So gibt es beim Amtsgericht oft Unverteidigte. Zumeist können diese Menschen nicht absehen, was da auf sie zukommt. Sie können auch – das wird aus meiner Sicht unterschätzt – auch mit den sprachlichen Anforderungen im Rechtswesen nichts anfangen.

Der Strafprozess ist wie die Juristerei im Allgemeinen hoch formalisiert. Wir JuristInnen sprechen eine eigene Sprache, die die Besonderheit aufweist, dass sie aus denselben Wörtern besteht, wie die allgemein gesprochene Sprache, diese aber innerhalb des Rechtssystems eine eigene Bedeutung haben. Diese Übersetzungsleistung ist nicht einfach und zwar unabhängig vom sozialen oder Bildungsstatus.

Ebenso können in einem Strafverfahren allgemeine Vorstellungen davon, was mir nützt oder schadet völlig falsch sein. Ich will dazu folgende Situation erzählen, die so tatsächlich geschehen ist:

Das Strafgesetzbuch regelt unter anderem die Strafbarkeit der gefährlichen Körperverletzungen. Nach der Rechtsprechung ist die Körperverletzung durch Tritte mit einem beschuhten Fuß eine gefährliche Körperverletzung im Sinne des Strafgesetzbuches. Die gefährliche Körperverletzung wird schwerer bestraft als eine einfache Körperverletzung, nämlich mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten.

In einer Verhandlung hat ein Angeklagter, der unverteidigt war, auf die Frage „Was hatten Sie denn für Schuhe an?“ ausführlich beschrieben, dass er hochwertige, feste Lederschuhe getragen habe, mit dicker Sohle, die gut vernäht waren. Damit hat er sich in der Annahme, sich selbst in ein anständigeres Licht zu rücken um Kopf und Kragen geredet. Das sind Dinge, die kann man nicht wissen kann, wenn man juristischer Laie oder juristische Laiin ist.

 

BIHoff: Bitte stellen Sie abschließend noch für unsere Zuhörerinnen und Zuhörer darlegen, wie man Ihren Verein erreichen und vor allem auch, wie man ihn unterstützen kann in seiner Arbeit.

THolter: Sehr gern. Für Betroffene gleichermaßen wie für Menschen, die daran interessiert sind, uns zu unterstützen, sind alle wesentlichen Informationen auf unserer Webseite: www.wiederaufnahme.com zu finden. Dort finden sich in einem Bereich alle Informationen für Betroffene. Das heißt konkret ein Fragebogen und eine Auflistung dessen, welche Unterlagen wir benötigen.

Wir sind immer auf der Suche nach potenziellen Fehlurteilen und freuen uns über Zuschriften, auch gerne von Kolleginnen und Kollegen, um uns bestimmte Fälle anzusehen.

Für aktuelle Informationen findet man uns auch auf LinkedIn oder Instagram. Dort berichten wir über unsere Arbeit, über unsere Fortbildungen und die akuelle Arbeit im Verein.

Schließlich sind wir als ehrenamtliche und gemeinnützige Organisation auf finanzielle Unterstützung angewiesen, weswegen Spenden sehr willkommen sind. Alle Informationen dazu finden Sie ebenfalls auf unserer Webseite.
 

BIHoff: Frau Dr. Holter, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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Hier geht's zur Folge Wegsperren oder Resozialisieren: Was läuft falsch im Strafvollzug meines Podcasts Kunst der Freiheit vom 10. Februar 2025, in dem das Gespräch mit Dr. Tatjana Holter nachgehört werden kann.

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Zur Person

Tatjana Holter wurde 1988 in Neubrandenburg geboren. Sie studierte Rechtswissenschaften in Berlin und London in den Jahren 2008 bis 2014.

Anschließend war sie zunächst studentische und später wissenschaftliche Mitarbeiterin an verschiedenen rechtswissenschaftlichen Lehrstühlen.

Sie promovierte 2018 zum Thema „Völkermord im Parlament, der schlichte Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern als Problem zwischen Verfassung und Politik“.

Seit 2021 ist sie Rechtsanwältin in der Kanzlei Venedey Gysi Hövler und wurde im vergangenen Jahr in die vom Tagesspiegel in Zusammenarbeit mit dem Handelsblatt Research Institute veröffentlichte Liste Berlins beste Rechtsanwälte aufgenommen.

Sie ist Vorstandsmitglied des Projekts Fehlurteil und Wiederaufnahme e.V.