20.03.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Interview aus dem Podcast »Kunst der Freiheit«

Kulturerbe: Bedeutung, Krisen, Perspektiven. Im Gespräch mit Prof. Dr. Markus Hilgert

Das kulturelle Erbe bewahrt und erzählt Geschichten von Gemeinschaften, zeigt ihre Werte, Tradition und Errungenschaften. Ebenso drücken sich im kulturellen Erbe die Brüche und historischen Verbrechen einer Gesellschaft aus: Ausgrenzung, Unterdrückung, Gewaltherrschaft.  Kulturgüter wie historische Gebäude, Kunstwerke oder immaterielle Traditionen sind Zeugnisse der Vergangenheit. Sie ermöglichen es, historische Entwicklungen nachzuvollziehen und aus ihnen zu lernen. Sie geben Orientierung, schaffen ein Bewusstsein für die Kontinuität menschlicher Errungenschaften. Doch einer postmigrantischen Gesellschaft wie der unseren, ist der Zugang zum kulturellen Erbe und dessen Aneignung also mehrschichtig und von Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt. Sie aufzulösen, setzt voraus, die postmigrantische und diverse Realität auch strukturell abzubilden.Zusätzlich setzen Krisen, Kriege, Katastrophen das kulturelle Erbe unter Druck. Beschädigungen bis zu unwiederbringlichem Verlust erhöhen die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen.

Prof. Dr. Markus Hilgert ist Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder und einer der Experten auf dem Gebiet des Kulturgutschutzes und des kulturellen Erbes in Deutschland. Mit ihm sprach ich für meinen Podcast KUNST DER FREIHEIT im Schloss Charlottenburg, dem Sitz der Kulturstiftung.

Qal’at al-Bahrain – Ancient Harbour and Capital of Dilmun

Benjamin-Immanuel Hoff: Das kulturelle Erbe steht heute unter vielfältigem Druck. Die Stichworte lauten: Klimawandel, Urbanisierung, bewaffnete Konflikte, der Mangel an finanziellen Ressourcen. Sie alle gefährden historische Bauten, Kunstwerke und immaterielle Traditionen. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Bedrohungen für das kulturelle Erbe in Deutschland, aber auch weltweit und wie lassen sich diese am effektivsten schützen?

Markus Hilgert: Die großen Herausforderungen haben Sie aufgezählt. Wenn ich auf die Situation in Deutschland schaue, würde ich vier Dinge benennen. Als Erstes natürlich den Klimawandel. Die Folgen des Klimawandels betreffen die historischen Bauten und Parkanlagen, aber auch bewegliches Kulturgut, das sich beispielsweise in Museen oder in Archiven befindet.

Hinzu kommt als Zweites die Situation der öffentlichen Haushalte, die in Zukunft möglicherweise nicht mehr in der bisherigen Breite und Tiefe Kulturgut werden erhalten und konservieren lassen können.

Als Drittes nenne ich die sicherheitspolitische Lage in der Welt und in Europa, die einen Krieg oder einen bewaffneten Konflikt sehr viel wahrscheinlicher erscheinen lässt heute, als das vielleicht vor fünf oder vor zehn Jahren noch der Fall gewesen ist.

Und dann gibt es ein Viertes und das ist möglicherweise für die Zukunft des kulturellen Erbes noch sehr viel entscheidender: Ich glaube, dass wir in Deutschland keinen Gesamtkonsens in der Gesellschaft darüber haben, was unser kulturelles Erbe eigentlich ist und was wir dafür tun wollen, um es weiterzuentwickeln. Wenn ich sage, wir haben keinen Konsens darüber, dann meine ich, dass es zwar das kulturelle Erbe in Form zum Beispiel der UNESCO Welterbestätten gibt. Dennoch frage ich mich immer häufiger, was genau ist eigentlich unser gemeinsames kulturelle Erbe?

Sind in diesem gemeinsamen kulturellen Erbe auch die kulturellen Erbtraditionen derjenigen integriert, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind. Das Erbe derjenigen, die teilweise schon seit mehreren Generationen in Deutschland leben, die mit ihren eigenen immateriellen und materiellen Kulturerbetraditionen zu uns kommen und die möglicherweise oder sogar sehr wahrscheinlich nicht dasselbe empfinden wie die Deutsche ohne Migrationshintergrund, wenn sie ein Schloss, einen historischen Park, ein Denkmal betrachten. Es ist stattdessen von ganz anderen Assoziationen auszugehen, weshalb ich überzeugt bin, dass eine Gesellschaft, die ihr kulturelles Erbe definiert und schützen will, dies als Einwanderungsgesellschaft möglichst inklusiv und einladend tun muss. Dass erscheint mir als die vielleicht größte immaterielle Herausforderung.

Immaterielle Herausforderung: Die postmigrantische Gesellschaft abbilden

BIHoff: Ein sehr spannender Gedanke. Lassen Sie den Aspekt der postmigrantischen Gesellschaft und unser Verständnis eines inklusiven kulturellen Erbes noch etwas vertiefen. Unser bisheriges, stark eurozentristisches Verständnis von kulturellem Erbe findet bekanntlich seinen Ausdruck auch in der UNESCO-Welterbeliste. Von den etwas mehr als 1.150 Stätten in 167 Ländern, weist Europa mit 501 Welterbestätten die höchste Konzentration auf. Allein aus Deutschland kommen 54 Welterbestätten.

Das dominante Verständnis von Kulturerbe in Deutschland – insbesondere in seiner institutionellen und öffentlichen Praxis – basiert stark auf nationaler Geschichte, Denkmalschutz und materiellen Kulturstätten wie Burgen, Schlössern oder historischen Stadtbildern. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zur Realität der postmigrantischen Gesellschaft, in der Kulturerbe zunehmend vielfältiger, transnationaler und immaterieller gedacht werden müsste. Wie kann dies geschehen?

MHilgert: Zunächst einmal glaube ich, dass diejenigen Vertreterinnen und Vertreter der postmigrantischen Gesellschaft, die ein Interesse daran haben, die Möglichkeit erhalten sollten, sich stärker als bislang auch in die formalisierten und administrierten Kulturerbe-Debatten einzubringen. Dies bedeutet praktisch Vielfalt herzustellen. Denn bislang können wir an vielen Stellen beobachten, dass die Vielfalt der Stimmen in den Gremien und Entscheidungsstrukturen nicht so ausgeprägt ist, wie es wünschenswert wäre. Die Ursachen dafür sind sowohl strukturelle Barrieren als auch Barrieren in unseren Köpfen.

Darüber hinaus nehme ich gegenwärtig einen wirklich beängstigenden Backlash wahr, was Diversität, Equity und Inklusion angeht. Aus der Erfahrung eines Altertumswissenschaftlers oder einer Altertumswissenschaftlerin sind Kulturerbe-Strategien dann erfolgreich, wenn sie auf einem gesellschaftlichen Konsens basieren und von der Gesellschaft insgesamt, insbesondere der Zivilgesellschaft, mitgetragen werden.
Dies gelingt umso besser, je mehr wir es schaffen, die de facto bestehende Vielfalt der Gesellschaft repräsentativ in den Gremien und vor allem in den Entscheidungsstrukturen, dies bedeutet auch in der politischen Führung, abzubilden.

Wie wenig Geld ist genug?

BIHoff: Sie haben die öffentlichen Haushalte als eine zweite Herausforderung benannt. Wir tun häufig so, als ob der Umfang der Einnahmen und Ausgaben öffentlicher Haushalte mehr einem Naturgesetz unterliegen würde als politischen Entscheidungen. Nach dem Muster: Das Ahrtal-Hochwasser war eine Naturkatastrophe und zu knappe öffentliche Kassen seien es auch. Als Chef einer Kulturstiftung der Länder stellt Sie das angesichts der Herausforderungen für das Kulturerbe, so nehme ich an, nicht zufrieden.

MHilgert: Nun, zunächst trifft die Aussage „wir haben zu wenig Geld“ angesichts der Herausforderungen grundsätzlich immer zu. Das kann jeder für sich persönlich sagen, aber auch wir als Gemeinschaft.

Aus meiner Sicht sollten wir damit beginnen festzustellen, dass es Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern aber auch zu Ländern in anderen Regionen dieser Welt sehr, sehr gut geht. Das, was wir gegenwärtig erleben, ist auch nicht überraschend, sondern war vorhersehbar. Der kontinuierliche Aufwuchs von Mitteln würde sich irgendwann verlangsamen und sich möglicherweise umkehren zu einer Reduktion öffentlicher Mittel. In dieser Situation sind wir nun. Das heißt aber nicht, dass wir kein Geld oder keine Ressourcen mehr haben. Vielmehr haben wir immer noch vergleichsweise viele Ressourcen.

Dennoch müssen wir über die Kulturförderung und die Kulturerbeförderung nachdenken und die Frage, die Sie, Herr Hoff, stellen, was es politisch braucht, kann man – vielleicht etwas plakativ – aber so beantworten. Es braucht:

a) Strategien, die deutlich werden lassen, dass man für die nächsten 10, 15 oder sogar 20 Jahre mit deutlich weniger Geld rechnet. Aber unter diesen Rahmenbedingungen versucht man das Beste für ein gemeinsames kulturelle Erbe zu erreichen, selbst wenn man in bestimmten Bereichen zurückfahren muss.

b) die Bereitschaft, Prioritäten zu setzen. Wenn weniger Mittel zur Verfügung stehen, ist es politisch ebenso notwendig wie auch unangenehm, unbeliebt und schwer, Entscheidungen über die Fokussierung beim Mitteleinsatz zu treffen. Man muss bestimmte Dinge nach oben schieben und man muss anderes dafür gehen lassen. Das ist die schwierigste Aufgabe, gerade für Politikerinnen und Politiker. Ich glaube, das müssen wir wieder lernen in Deutschland.

Doch wenn wir das erlernen und wenn wir die Prioritätensetzungen evidenz- und kriterienbasiert vornehmen, dann haben wir eine sehr gute Chance, auch über diese krisenhaften Zeiten mit einem intakten und lebendigen Kulturerbe hinwegzukommen.

BIHoff: Ich sehe die Gefahr, dass die von Ihnen formulierten normativen Anforderungen an einen Kulturerbediskurs, der postmigrantischen Realitäten und der Vielfalt in unserer Gesellschaft Rechnung trägt, unter dem gesellschaftlichen Backlash auf der einen Seite und auf der anderen Seite mit dem Argument, dafür sei jetzt nun gerade wirklich kein Geld da, unter die Räder gerät.

MHilgert: Ich sehe diese Gefahr genauso wie Sie, und es wäre politisch zu kurz gedacht, so zu verfahren. Ein Argument „wir haben dafür gerade kein Geld“, das sich auf die Kultur bezieht, hat nicht wirklich verstanden, was Kultur für eine Gesellschaft leistet und bedeutet. Und wenn ich Kultur sage, dann denke ich da immer auch die Bildung mit, weil das Kulturerbe sich erst durch Bildung erschließt und der Schutz des Kulturerbes auch nur funktioniert, wenn ich weiß, womit ich es zu tun habe.

Das, was eine ressourcenarme Gesellschaft wie Deutschland zu bieten hat, auch global, ist vor allen Dingen gute Erziehung, gute Bildung und ein kulturelles Selbstverständnis, das auf der Geschichte unserer kulturellen Traditionen – Traditionen ausdrücklich im Plural – basiert und gleichzeitig die Kreativität entfacht, aus diesen Traditionen heraus neue Lösungen für neue Herausforderungen zu finden.

Eine Gesellschaft, die nicht investiert in Kultur und Bildung, und zwar zunächst einmal als Selbstzweck, verliert ihre Innovationskraft. Die brauchen wir jedoch unbedingt, um mit den Herausforderungen, gerade auch im Bereich der generativen künstlichen Intelligenz, die eine Kulturmaschine ist, klug umzugehen. Deswegen ist es gerade jetzt so wichtig, dass wir in Kultur, in Bildung investieren. Aber das sollten wir klug tun und möglichst inklusiv.

Schutz des Kulturerbes

BIHoff: Seit drei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Weit über 800 Kulturstätten sind beschädigt oder zerstört worden, darunter 120 von nationaler Bedeutung, teilte das Kulturministerium in Kyjiw Anfang 2024 mit. Am Beginn dieses Jahres zerstörten die verheerenden Brände in Los Angeles zahlreiche Werke von Arnold Schönberg, die bei seinem Verlag Belmont Musik Publishers in Pacific Palisades aufbewahrt wurden. Bedroht wurden das Thomas-Mann-Haus, die Villa Aurora und auch die Getty Villa. Das Ahrtalhochwasser sprachen wir bereits an. Das sind nur drei Beispiele für die Bedeutung des Kulturgutschutzes, der vor 20 Jahren durch den Brand der historischen Weimarer Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek ins öffentliche Bewusstsein rückte.

Kulturgutschutz geht mit Katastrophen- und Notfallschutz Hand-in-Hand, doch die militärischen Konflikte haben in jüngerer Vergangenheit auch dazu geführt, dass in Deutschland militärische Einheiten mit der Bedeutung des Kulturgutschutzes vertraut gemacht werden. Das hat aus meiner Sicht nichts damit zu tun, Deutschland „kriegstauglich“ zu machen, wie Boris Pistorius sagte, sondern ist ein realistischer Blick auf die Erfordernisse des Krisenmanagements im Kulturgutschutz. Sie gehören zu den Initiatoren der Notfallallianz Kulturgutschutz. Wo stehen wir gegenwärtig?

MHilgert: Auch da würde ich sagen, stehen wir zunächst einmal gut da, weil wir ein Land mit vielen Ressourcen und einer wirklich starken kulturellen Infrastruktur sind. Die Grundidee der Notfallallianz Kultur beruhte auf der Analyse, dass in Deutschland die wesentliche Herausforderung darin besteht, die Kapazitäten und das in den Ländern und Kommunen bereits vorhandene Wissen so zusammenzuführen, dass es im Notfall sichtbar und vor allen Dingen nutzbar wird. Wir wissen manchmal gar nicht, was wir alles bereits wissen, um in einer Situation wie dem Ahrtal-Hochwasser zu helfen.
Das Hochwasser war einer dieser Punkte an denen klar wurde, wie wichtig es ist, dieses Wissen an einer Stelle zu bündeln und die Informationen sowie die Hilfsangebote sichtbar zu machen.

Die zweite Überlegung bestand darin, die vielen Akteurinnen und Akteure zusammenzubringen und zu überlegen, wie man dieses Thema weiter voranbringen kann. Denn Sie sagen zu Recht, die Sicherheit des kulturellen Erbes oder der Kultur insgesamt, hat sich angesichts der Stapelkrisen nicht verbessert in den vergangenen Jahren. Als wir die Notfallallianz Kultur im Sommer 2021 gründeten, da hatte der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht einmal begonnen. Was wir inzwischen bemerken, ist, dass sich das Bewusstsein langsam verändert, dass man in diesem Bereich etwas tun muss. Akteure wie zum Beispiel Blue Shield Deutschland sind dabei, mit den Vertreterinnen und Vertretern der Bundeswehr zu sprechen und genau darauf aufmerksam zu machen, dass es möglicherweise im Bereich des Zivilschutzes, im Bereich der Territorialkommandos auch die Möglichkeit geben sollte, wichtige kulturelle Infrastrukturen zu schützen. Das heißt, wir sind auf einem besseren Weg, als wir das noch vor fünf oder vor zehn Jahren waren, aber es ist noch sehr viel zu tun.

Und weil sie den Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar angesprochen haben, das war ja einer der Auslöser für die Gründung der sogenannten Notfallverbünde. Der Freistaat Thüringen hat damals eine Vorreiterrolle eingenommen beim Zusammenschluss von Kultureinrichtungen mit der Feuerwehr und mit den lokalen Akteuren vor Ort, um im Fall einer Katastrophe schnell reagieren zu können. Dieser Strategie brauchen wir, wie die Geschichte zeigt. Im Notfall muss man schnell reagieren, man muss wissen, wen man anruft, und es müssen genügend Leute, oft auch aus der Zivilgesellschaft, da sein, die mit anpacken. Deswegen sind die Notfallverbünde eine hervorragende Initiative.

BIHoff: Meine Erfahrungen als ehemaliger Kulturminister aus den Notfallverbünden in Thüringen waren im Wesentlichen drei Dinge: Erstens muss einrichtungsübergreifend gedacht werden. Dort, wo Museen, Archive, Theater gemeinsam agieren, gibt es eine Bündelung von Kräften, aber auch die Festlegung von Prioritäten, was prioritär zu retten und zu schützen ist. Dann geht es weiter mit Schutzgut zweiter und dritter Ordnung. Im Notfall muss priorisiert werden, sonst geht alles verloren.
Zweitens – das scheint mir am wichtigsten, weil es so oft vernachlässigt wird – es muss geübt und wieder geübt werden. Krisenmanagement funktioniert nur, wenn die Leute nicht nur theoretisch wissen, es kann eine Krise kommen, sondern wenn man das Handeln in Krisen geübt hat.
Und das Dritte, Kulturgüter zu schützen, heißt sie anders zu schützen als nichtkulturelle Objekte. Dafür braucht es spezielle Einsatzfahrzeuge, die eben Bücher, Gemälde etc. schützen können. Beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek wurde die Erkenntnis legendär, dass normale Haushaltsfolie und ein Eisfach für viele der Bücher-Patienten lebensrettend gewesen ist.
Auf dieser sehr praktischen Ebene kommt es auf die Vermittlung an, um zu zeigen, dass das für alle wichtig ist und nicht nur ein vermeintlicher Luxus der großen Einrichtungen wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sondern letztlich ebenso bedeutsam für das Heimatmuseum und Archiv in der Kleinstadt mit 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern wie für die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden.

MHilgert: Das sehe ich ganz genauso, das möchte ich explizit unterstreichen. Ich glaube sogar, dass in den strukturschwächeren Regionen und auch bei den strukturschwächeren Institutionen diese Verbünde, diese Zusammenschlüsse, diese Synergien noch wichtiger sind. Deshalb muss man auch alles dafür tun, um sowohl die Zivilgesellschaft als auch die staatlichen Strukturen entsprechend zu stärken.

Was uns Hammurapi heute noch zu sagen hat

BIHoff: Lassen Sie uns gemeinsam einen Schritt auf die Metaebene gehen. Im vergangenen Jahr fand in Kassel eine Tagung statt, auf der wir beide als Referenten eingeladen waren. Organisiert hatte sie der hessische Kulturminister Timon Gremmels (SPD) als Vorsitzender der Kulturminister:innenkonferenz. Dort wurde über politische Kulturerbe-Strategien debattiert und ehrlicherweise auch über die augenscheinliche Vergeblichkeit ebensolcher politischen Kulturerbe-Strategien. In ihrem Beitrag auf der Tagung wählten Sie als Argument für die langfristige, aber schlecht vorhersehbare Wirkung von Strategien ein politisch nicht unbedingt, für Sie als Altertumsforscher aber wiederum absolut naheliegendes Beispiel, das mich begeisterte. Sie reisten in Ihrem Beitrag etwas mehr als 4.000 Jahre in die Vergangenheit, und zwar nach Babylon und zu dessen Herrscher Hammurabi. Erzählen Sie die Geschichte und Ihre Schlussfolgerung bitte noch einmal.

MHilgert: Das mache ich sehr gern. Ich stellte mir die Frage, was Kulturerbe-Strategien erfolgreich macht und worin die Gelingensbedingungen von politischen Kulturerbe-Strategien bestehen.

Nun bin ich Altorientalist und beschäftige mich mit den Kulturen und Gesellschaften des antiken Mesopotamiens, also Gesellschaften, deren schriftliche Überlieferung vom späten vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bis in die ersten Jahrhunderte nach unserer Zeitrechnung reichen. Dabei wird man ständig mit Beispielen dafür konfrontiert, dass Kulturerbe-Strategien nicht funktionieren. Ich habe mich also zunächst kritisch gefragt, was ich angesichts dessen aus meinem Erfahrungshintergrund beisteuern kann, um zu verdeutlichen, wo die Schwierigkeiten aber auch die Chancen politischer Kulturerbe-Strategien liegen und welche Voraussetzungen des Gelingens es braucht.

Die Geschichte, um die es geht, ist eine, die viele von uns vielleicht sogar nachvollziehen können, denn es geht um die sehr bekannte Basalt-Stele, die heute im Louvre in Paris zu sehen ist. Das ist ein 2,25 Meter hoher, extrem schwerer Steinkoloss. Er datiert in das frühe zweite Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung und trägt den Text des inzwischen auch bekannten sogenannten Codex Hammurapi. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Rechtssprüchen aus dem frühen zweiten Jahrtausend.

Dieser Text ist deswegen so bedeutsam, weil er ein Monument für sowohl Herrschaftsideologie und Herrschaftsstrategie ist, aufgrund des Textes, den er überliefert. Als auch Ausdruck einer bestimmten Kulturerbe-Strategie, denn Hammurapi macht ganz unterschiedliche Dinge, um dieses Objekt zu schützen.  Er will nämlich, dass das bis in alle Ewigkeit gesehen werden kann, gelesen werden kann, dass sein Name damit verbunden ist. Also wird die Stele wahrscheinlich in einem geschützten Bereich im Tempel aufgestellt gewesen sein, in Babylon oder in Sippar. Wir wissen das nicht genau.

Die Stele ist unglaublich schwer, das heißt, man kann sie auch nicht einfach in die Tasche stecken und mitnehmen. Das reicht Hammurapi aber nicht, weshalb prophylaktisch Flüche am Ende des Textes all diejenigen verfluchen, die dieses Monument beschädigen oder zerstören wollen. Mächte des Himmels und der Erde werden beschworen. Nun sollte man eigentlich denken, zumindest mit dem damaligen Wissen, dass eine so ausgeklügelte Kulturerbe-Strategie funktioniert. Hat sie aber nicht, wie wir heute wissen. Denn im 13. Jahrhundert vor Christus kommt König Šutruk-Naḫḫunte II. von Elam und nimmt das gute Stück mit anderen Kunstwerken nach Susa in seine Hauptstadt und stellt es da in sein „Museum“ als Kriegstrophäe.

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein und man könnte sagen: Aha, ein gutes Beispiel dafür, wie politische Kulturerbe-Strategien nicht funktionieren, weil die Zukunft nicht planbar ist, weil politische Stabilität in der Regel nicht länger als einige Jahrzehnte hält etc. Und man könnte die Schlussfolgerung ziehen, dass es wenig Sinn macht, sich überhaupt Gedanken über politische Kulturerbe-Strategien zu machen und es deshalb gleich zu lassen. Doch die Geschichte ist nicht zu Ende. Denn was man beobachten kann ist, dass in Mesopotamien der Text weiterlebt. Gelehrte schreiben diesen Text immer wieder ab. Und diese Gelehrten wissen auch, dass die Stele des Hammurapi tatsächlich in Susa gewesen ist. Also knapp 1000 Jahre nachdem die Stele als Kriegsbeute aus Babylon entführt wurde, war in Babylon bekannt, wo sie sich befindet. Die Schlussfolgerung lautet also, dass politische Kulturerbe-Strategien dann erfolgreich sind, wenn das betreffende Kulturerbe gesellschaftliche Relevanz besitzt.

Die Schlussfolgerung daraus lautet also: wenn ihr wollt, dass politische Kulturerbe-Strategien erfolgreich sind, dann sorgt bitte dafür, dass das, was ihr tut und die Kulturerbe-Diskurse nicht abgehoben sind. Dass sie mit der Gesellschaft geführt werden, mit den Personen, die heute, aber auch in Zukunft für dieses kulturelle Erbe verantwortlich sind und sich auch selbstwirksam verantwortlich fühlen. Wir wissen, auch aus Kriegs- und Krisensituationen, dass es am Ende immer die Zivilbevölkerung ist, die dafür sorgt, dass Kulturerbe wirksam geschützt wird.

BIHoff: Auch beim erneuten Hören ist das eine spannende Schlussfolgerung. Sie sprachen an, dass wirksame Kulturerbe-Strategien darauf beruhen, dass sich die Zivilgesellschaft für dieses kulturelle Erbe verantwortlich fühlt. Und wir sprachen bereits darüber, dass sich in den Gremien und Diskursen die Vielfalt unserer Gesellschaft bislang nicht repräsentativ abbildet. Unser kulturelles Erbe ist auch geprägt von Kolonialismus, Rassismus und Unterdrückung. In unserer Migrationsgesellschaft sind die Zugänge und Erfahrungen zu dieser Vergangenheit höchst divers. Es gibt gewichtige Argumente sowohl für den Erhalt als auch für eine kritische Neubewertung dieses Erbes.

Im Hinblick auf die Umbenennung von Straßennamen, die historisch belastet sind, wird argumentiert, dass zu prüfen wäre, ob die Umbenennung oder kritisch-historische Einordnung adäquater wäre. Also die Geschichte offenzulegen, Rassismus und Kolonialismus zu benennen, statt durch einen neuen Straßennamen diese Geschichte quasi verschwinden zu lassen. Ähnliches gilt für Denkmäler.

Natürlich gibt es auch hier Schwarz und Weiß und es hat gute Gründe, warum es keine Straßen mit dem Namen Hitler mehr in Deutschland gibt, wenn gleich es nach meinem Geschmack noch viel zu viele Orte in Deutschland gibt, in denen Hitler auch 80 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus in der Liste der Ehrenbürger geführt wird.

Sie sind Museumsexperte, waren selber Museumsdirektor im Vorderasiatischen Museum, im Pergamonmuseum, in dem sich diese Frage ja nun auch nochmal in besonderer Weise stellt. Vielleicht können Sie anhand Ihrer eigenen Erfahrungen, auch an ein oder zwei Beispielen, über die inzwischen veränderte Umgangsweise und gleichzeitig die weiterhin offenen Fragen sprechen.

Koloniale Vergangenheiten und postkoloniale Verantwortung

MHilgert: Ich halte das Thema für sehr wichtig und ich sprach es bereits an, ich bin von Hause aus Altorientalist und die Altorientalistik lebt von Artefakten, von Objekten, die aus dem Irak, aus Syrien, aus der Türkei stammen. Und die im 19. und frühen 20. Jahrhundert – vielfach unter Ausnutzung kolonialer oder imperialer Asymmetrien – in Museen in Europa oder in Nordamerika oder in andere Teile der Welt verschleppt wurden. Während meines Studiums in den 1990er Jahren wurde das nie als Problem vermittelt. Das Bewusstsein dafür, dass diese akademische Disziplin letztlich auf politischen Asymmetrien beruht, das ist mir nicht vermittelt worden und mein Bewusstsein dafür wuchs erst zu einem relativ späten Zeitpunkt.

Das Entscheidende der postkolonialen Theorie oder der postkolonialen Kritik besteht in der Aufforderung an uns, einen Perspektivwechsel durchzuführen und die Perspektive derjenigen einzunehmen, die kolonisiert wurden oder die Opfer von imperialer Gewalt gewesen sind. Wenn man in meinem Fach arbeitet, dann vollzieht man diesen Perspektivwechsel, wenn man in den Irak reist, wenn man nach Syrien reist, oder wenn man mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Irak oder Syrien spricht. Wenn diese Kolleg:innen nach Berlin ins Pergamonmuseum gekommen sind, vor dem Ischtartor, dem Rekonstruierten, standen und fragten, warum steht das das nicht bei uns, sondern in Berlin? Das gehört nach Babylon. Zurecht, denn das Ischtartor und alles was sich im Pergamonmuseum befindet, ist ja kulturelles Erbe, das Orientierung für diese Gesellschaften in Syrien, im Irak bietet.

Wenn wir für uns, wie wir das am Anfang dieses Podcast getan haben, reklamieren, dass wir unser kulturelles Erbe schützen müssen in Deutschland, weil wir glauben, es ist eine Quelle von kultureller Selbstbestimmung, von kultureller Identität, aber auch von Kreativität, dann gilt das natürlich in gleicher Weise für die Menschen in Irak und in Syrien.

BIHoff: Warum tun sich so viele Museen schwer, sich zu trennen?

MHilgert: Auf die Frage der Trennung von Kulturgütern, also deren Restitution, spreche ich gleich an. Ich möchte aber zuvor noch kurz auf das eingehen, was Sie vorhin sagten.

Ich glaube, dass es in den Museen, in den Kultureinrichtungen insgesamt, aber auch in der Gesellschaft, Sie haben Straßennamen und Denkmäler angesprochen, wichtig ist, zunächst einmal diesen Perspektivwechsel durchzuführen und zu verstehen oder wenigsten versuchen zu verstehen, was es für jemanden, der zu uns gekommen ist aus Afrika, aus dem Irak, bedeutet, wenn Straßennamen oder Denkmäler Ereignisse oder Personen verherrlichen, die für Gewalt verantwortlich sind. Was diese Verletzungen für diese Menschen bedeuten. Nicht nur in der Vergangenheit, sondern bis heute. Insofern stimme ich Ihnen auch zu, man braucht einen differenzierten Umgang. Einordnung ist wichtig, aber man muss auch da, wo es wirklich verletzend ist, da wo es wirklich weh tut, den Mut haben zu sagen, nein, das wollen wir nicht mehr und das haben wir ja nicht nur bei vielen Adolf-Hitler-Plätzen und Adolf-Hitler-Straßen auch getan.

Dieser Perspektivwechsel rüttelt natürlich an den Grundfesten des Selbstverständnisses vieler akademischer Disziplinen und Kultureinrichtungen. Die Überzeugung, man könne über Artefakte und teilweise auch menschliche Überreste die Welt nach Deutschland holen und in Universalmuseen abbilden und damit auch Fremdheit und Andersheit konstruieren, das ist etwas, das heute aus guten Gründen nicht mehr für richtig erachtet wird. Das ist auch gut so. Gleichzeitig ist diese inzwischen überwundene Vorgehensweise aber die konzeptionelle und auch theoretische Grundlage für viele akademische Disziplinen. Dass was wir deshalb neu lernen müssen, ist ein anderer Umgang mit den Dingen der Welt. Dazu gehört auch ein anderer und sehr viel stärker ethischer Umgang mit menschlichen Überresten und Artefakten, die wir uns als Gesellschaft seinerzeit unter heute vielfach nicht mehr akzeptablen Bedingungen angeeignet haben.

BIHoff: Nun aber, warum tun sich so viele Museen schwer, sich zu trennen?

MHilgert: [lacht] Nun, weil es immer schwerfällt, gehen zu lassen. Aber das ist eine Banalität. Es hat unter anderem damit zu tun, dass Rückführungen aus guten Gründen nicht selbstinitiativ von deutschen Einrichtungen durchgeführt werden sollen. Denn auch dies würde wiederum eine Form von Bevormundung darstellen.

Deshalb brauchen wir eine sehr viel stärkere Zusammenarbeit mit den betreffenden Ländern und vor allem den Gesellschaften, die betroffen sind. Wir müssen unseren Teil dazu beitragen, dass diese Gesellschaften und Gemeinschaften ermächtigt werden, Rückführungen anzustreben. Das ist etwas, das wir hier im Hause bei der Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland ständig erleben. Es gibt das Interesse auch der Zivilgesellschaft, dass Vorfahren, dass Ahnen, dass Objekte, die mit Ahnen in Verbindung stehen, zurückgeführt werden. Vielfach weiß man aber nicht wie, und häufig gibt es auch keine starke Unterstützung des jeweiligen Staates.

Da kommen unterschiedliche Dinge zusammen, und wenig überraschend liegt es manchmal auch da am Geld. Ich bedauere, dass es in Deutschland immer noch keinen Fonds für entsprechende Rückführungen gibt, mit denen beispielsweise Delegationsreisen unterstützt werden könnten. Da ist noch sehr viel zu tun, und die Veränderung beginnt wie immer im Kopf.

BIHoff: Mein Eindruck ist, dass in der deutschen Erinnerungskultur in Deutschland das koloniale Erbe bisher eine unterrepräsentierte Rolle einnimmt. Wir wissen sehr viel über die Verbrechen des Nationalsozialismus, wir vollziehen eine inzwischen drei Jahrzehnte umfassende intensive Aufarbeitung auch der SED-Diktatur. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes Deutschlands steht demgegenüber weit zurück. Vor dem Hintergrund der enormen Verbrechen, die das deutsche koloniale Erbe zu verantworten hat, erscheint mir dies ungerechtfertigt.

MHilgert: Ich bewerte das genauso wie Sie. Deutschland aber auch viele andere europäische Staaten, die ehemals kolonisiert haben, setzen sich nicht ausreichend mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinander. Und damit meine ich nicht, dass diese Staaten oder auch Deutschland nicht genug Kulturgüter und menschliche Gebeine zurückgeben, sondern ich meine eine vertiefte auch akademische und intellektuelle Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen von Kolonialismus, also dem impliziten Rassismus, der im Kolonialismus sich findet, mit dem imperialistischen Weltbild, das sich im Kolonialismus ausdrückt und dem, was aus diesen Voraussetzungen für Institutionen, für akademische Disziplinen und auch für das Selbstverständnis Deutschlands in der Welt folgt.

Das ist für mich das Entscheidende, dass wir stärker versuchen müssten, aus einem Supremats-Narrativ auszusteigen, der uns eine herausragende Rolle einräumt. Nicht zuletzt auch in der jetzigen weltpolitischen Situation. China, Indien und in Zukunft – davon bin ich überzeugt – werden es auch zunehmend afrikanische Staaten sein, die in einer veränderten Weltordnung bedeutende Rollen einnehmen. In dieser Situation können wir nicht mehr wie selbstverständlich davon ausgehen, dass in Europa und Nordamerika die Welt gedreht wird. Es ist wichtig, selbst auch zu verstehen, was die Fehler der Vergangenheit gewesen sind und welche Haltung dazu geführt hat, dass Deutschland sich so aufführen konnte in der Welt. Ich habe aber den Eindruck, dass diese Haltung immer noch nicht komplett abgelegt ist, dass es immer noch zu wenig Demut gibt, zu wenig Zuhören und auch zu wenig Bereitschaft, den Standpunkt des anderen erst mal als solchen zu akzeptieren. Deswegen glaube ich, ist die Aufarbeitung des Kolonialismus neben der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und der SED-Diktatur so wichtig.

Dabei geht es im Übrigen, entgegen vieler Vorurteile, überhaupt nicht um immer wiederkehrende Schuldbekenntnisse, sondern weil in dieser Aufarbeitung eine Chance, auch eine gedankliche, eine intellektuelle Chance für einen Neubeginn steht.

BIHoff: In der Podcast-Folge von Kunst der Freiheit, die sich mit dem 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus befasste, sprach der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, Prof. Dr. Jens-Christian Wagner darüber, dass es in der Erinnerungskultur auch um das Erinnern an die Opfer geht, aber vor allem um die Auseinandersetzung mit den Tätern und der Tätergesellschaft. Den Rahmenbedingungen, die dieses Unrecht erst entstehen ließen. Ich hatte Ihr Plädoyer in derselben Weise verstanden und auch Ihr Eingangs dargelegte Verknüpfung von Kultur und Bildung als kulturelle Bildung.

MHilgert: Vollkommen zutreffend.

Zivilgesellschaft und Ehrenamt in der Kultur

BIHoff: Ich möchte zum Abschluss unseres Gesprächs noch ein weiteres Thema aufrufen, das in engem Zusammenhang zur von uns beiden heute bereits oft adressierten Zivilgesellschaft steht: das ehrenamtliche Engagement. Im Auftrag der von Ihnen als Generalsekretär geleiteten Kulturstiftung der Länder wurde jüngst eine umfassende Studie zu zivilgesellschaftlichem Engagement im Kulturbereich veröffentlicht. Ich halte das für sehr bedeutsam, denn beispielsweise die Aufarbeitung des kolonialen Erbes wurde nicht aus den Kulturinstitutionen an die Gesellschaft herangetragen sondern umgekehrt aus der Zivilgesellschaft an die Politik und die Kulturinstitutionen, um den Bogen zu unserem eben debattierten Punkt zu schlagen.

Wir werden im Podcast Kunst der Freiheit mit Dr. Siri Hummel, der Direktorin des Maecenata-Instituts, die diese Studie durchgeführt hat, sprechen. Dennoch an Sie schon jetzt die Frage, was war die Motivation der Kulturstiftung, diese Studie in Auftrag zu geben und was sind deren wesentliche Ergebnisse?

MHilgert: Wir haben vorhin schon kurz darüber gesprochen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kulturerbe-Strategien besonders erfolgreich sind, wenn sie zivilgesellschaftlich eingebettet sind, wenn sie von der Zivilgesellschaft mitgetragen werden. Auch das Fördergeschäft der Kulturstiftung der Länder würde nicht funktionieren ohne zivilgesellschaftliches Engagement.

Fast alle Förderungen, die wir tätigen im Bereich der Erwerbungsförderung, aber auch im Bereich der Ausstellungsförderung, werden komplementiert durch Mittel, die von Mäzeninnen und Mäzenen kommen, von Kulturfördervereinen. Das gilt auch für andere Bereiche der Kultur außerhalb der Kulturstiftung der Länder.

Bürgerschaftliches Engagement für die Kultur ist ganz entscheidend, nicht nur für den Erhalt der kulturellen Infrastrukturen in Deutschland, sondern natürlich auch für demokratische Strukturen, weil ja in Vereinen als der häufigsten Organisationsform die demokratischen Prozesse eingeübt und praktiziert werden. Partizipation und Inklusion eingeschlossen. Gerade in den sogenannten nicht-städtischen Räumen spielen diese zivilgesellschaftlichen Initiativen eine große, manchmal die entscheidende Rolle.

Sie sprachen in Ihrer Frage einen sehr wichtigen Punkt an. Die Triebkräfte in Deutschland für einen anderen Umgang, beispielsweise mit unserem kolonialen Erbe, sind in der Tat in der Zivilgesellschaft.

Im Zusammenhang mit einem anderen Auftrag der Kulturminister:innenkonferenz beschäftigen wir uns mit Frage, wo die Angebote zur Sensibilisierung gegenüber Rassismus, Antisemitismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit herkommen. Zu 60 Prozent kommen die aus der Zivilgesellschaft. Das heißt, Zivilgesellschaft in der Kultur ist enorm wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger als der Staat. Demgegenüber steht merkwürdigerweise ganz wenig Wissen über die Art und Weise, wie Kulturengagement in der Zivilgesellschaft funktioniert. Vor diesem Hintergrund haben wir gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat und mit dem Dachverband der Kulturfördervereine das Maecenata-Forschungsinstitut gebeten, da mal reinzuschauen.

Entstanden ist ein Lagebericht, zunächst einmal nicht mehr, der jedoch die Grundlage sein soll für weitere Studien. Was da eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird, ist die Breite des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Kultur. Nach dem Sport handelt es sich bei der Kultur um den zweitgrößten Engagementbereich. Er ist also enorm wichtig auch für die Gesellschaft insgesamt.

Deutlich wird insbesondere, wie sich die Strukturen des Engagements nach und nach verändern. Dass es demografische Herausforderungen gibt und die Bereitschaft, sich in Vereinen, in festen Strukturen zu engagieren abnimmt und dass man eher auf flexibles Engagement setzt. Ich glaube, das ist wirklich meine zutiefst persönliche Überzeugung, dass der Kulturbereich ohne zivilgesellschaftliches Engagement nicht gut ist und auch nicht wird überleben können. Auch hier stellt sich die Frage, wie man auch unter veränderten finanziellen Bedingungen in einer Gesellschaft zivilgesellschaftliches Engagement so fördern oder stärken kann, dass unsere Kultur davon profitiert und auch unsere Gesellschaft insgesamt. Denn wer die Freiheit erfährt, auch die Freiheit der Kunst erfährt, im besten Falle jeden Tag, ist weniger anfällig für illiberale oder populistische politische Strömungen.

BIHoff: Das erscheint mir ein exzellentes normatives Schlusswort zu sein. Lieber Prof. Hilgert, herzlichen Dank für das Gespräch.

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Hier geht's zur Folge Back to the Heritage: Vergangenheit prägt Zukunft meines Podcasts Kunst der Freiheit vom 02. März 2025, in dem das Gespräch mit Prof. Dr. Markus Hilgert nachgehört werden kann.

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Zur Person

Markus Hilgert wurde 1969 in Koblenz geboren und studierte Altorientalistik, Semetistik, vergleichende Religionswissenschaft und vor der asiatischen Archäologie an den Universitäten Marburg, München und Chicago. Er promovierte 1999 und habilitierte sich fünf Jahre später in Jena.

In Chicago, Leipzig und Moskau sowie Freiburg und Catania nahm Markus Hilgert Professuren war. Das Vorderasiatische Museum im Berliner Pergamonmuseum leitete er als Direktor. Das nationale Verbundvorhaben „Museum 4.0 – digitale Strategien für das Museum der Zukunft“ koordinierte er.

Seit dem 1. Juni 2018 ist Markus Hilgert Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder. Im Dezember des vergangenen Jahres wurde Professor Hilgert zum zukünftigen Präsidenten der Universität der Künste Berlin gewählt.