Bewahrung trotz Zerstörung: Ukrainisches Kulturerbe im Fokus
- © Eugeny Kotlyar
In der Kunsthalle München wurde von März bis August 2022 die exzellente Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“ gezeigt. Für Interessierte besteht auch heute noch die Gelegenheit zu einem digitalen Ausstellungsrundgang.
Die Ausstellung, die nur vier Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eröffnet wurde, präsentierte eingangs eine große Karte „Polen um 1900“, versehen mit einer Chronologie von der ersten Teilung Polens 1772 bis zur Unabhängigkeit 1918/1919. Es war interessant zu sehen, wie Menschen vor dieser Karte stehenblieben und nach nun auf tragische Weise tagesaktuellen Orten wie Lviv (Lemberg) oder Kyjiw schauten. Orte, die gemeinhin hinter dem pauschalierenden Begriff „Osten“ oder oft noch „Ostblock“ verschwimmen.
„In einer Nation ohne eigenen Staat – Polen war bis zu seiner 1918 erlangten Unabhängigkeit zwischen Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt – trat eine junge Künstlergeneration an, die Malerei zu erneuern. Mit ihren Gemälden stifteten sie, was auf politischer Ebene fehlte: eine gemeinsame Identität.“
So hieß es in der Ankündigung zu der Ausstellung, die zugleich auch dazu beitrug, das Bewusstsein für die Geschichte der Ukraine und der Menschen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine zu schärfen, deren Eigenständigkeit in vergleichbarer Weise fremdbestimmt wurde und deren Identität vom großrussischen Imperialismus unter Putin in Frage gestellt wird.
In einer Rede zur Anerkennung der selbsternannten ostukrainischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk gewährte er einen unverstellten Einblick in sein Weltbild der Wiederherstellung vormaliger russischer Größe und seines Kampfes gegen westliche Werte und die westliche Demokratie, die er für schwach und dekadent hält.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 sind über drei Jahre vergangen. In dieser Zeit erlitt die Ukraine immense Verluste. Humanitär, territorial, ökonomisch aber auch kulturell. Denn Russland nimmt in seinem Angriffskrieg die ukrainischen Kulturgüter unter Beschuss – nicht sprichwörtlich, sondern tatsächlich. Den Angriffen und der Zerstörung fallen Museen, Kulturhäuser, Kirchen, Denkmäler und Mosaiken zum Opfer. Ebenso architektonisch bedeutsame Gebäude, die Zwecken der Daseinsvorsoge dien(t)en, wie die Bus Station in Dnipro oder das Wasserkraftwerk in Nova Kakhova.
Beschädigt oder gänzlich zerstört werden Kulturstätten, die selbst den Zweiten Weltkrieg überstanden haben. Weit über 800 Kulturstätten seien seit Beginn der Offensive im Februar 2022 bereits beschädigt oder zerstört worden, darunter 120 von nationaler Bedeutung, teilte das Kulturministerium in Kyjiw Anfang 2024 nach Angaben der Deutschen Welle mit.
Die jüngste Entscheidung der Trump-Regierung, die Unterstützung für die Ukraine einzustellen, verschärft die Situation für das angegriffene Land zusätzlich. Der Historiker Heinrich August Winkler erinnerte dieser Tage in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung daran, dass der Abschied Trumps von der regelbasierten Ordnung sowohl in Gestalt der Charta der Vereinten Nationen vom Juni 1945 als auch der Charta von Paris vom November 1990, durch Putin „bereits vor elf Jahren und auf sehr viel brutalere Weise vollzogen [wurde]: mit der Annexion der Krim und dem Beginn des verdeckten Krieges im Donbass 2014 (und nicht erst, wie viele, vor allem in Deutschlands meinen, mit dem offenen Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022).“
Angesichts dessen ist es von größter Bedeutung, das angegriffene Land nicht im Stich zu lassen, sich der tatsächlichen Ursachen dieses Krieges bewusst zu bleiben und die verheerenden Zerstörungen, die er mit sich bringt, zu benennen.
Dazu tragen drei bemerkenswerte Ausstellungen bei, die unterschiedliche Aspekte der ukrainischen Geschichte und Gegenwart beleuchten.
Destroyed Ukrainian Heritage – eine Konfliktstrategie
Am 18. März eröffnet im Archäologischen Landesmuseum Brandenburg die Ausstellung "Zerstörung des Erbes: eine Konfliktstrategie". Die Präsentation, die bis zum 12. Oktober 2025 zu sehen sein wird, dokumentiert die gezielte Zerstörung von Kulturstätten in der Ukraine durch die russische Armee.
Laut UNESCO wurden bis Februar 2025 insgesamt 343 Kulturstätten beschädigt, darunter 127 religiöse Gebäude, 31 Museen, 151 historische Gebäude, 19 Denkmäler, 14 Bibliotheken und ein Archivzentrum.
Seit Beginn der Invasion wurden zahlreiche Kulturstätten beschädigt oder zerstört, darunter religiöse Gebäude, Museen, historische Bauwerke und Denkmäler.
Die ausgestellten Bilder stammen vom ukrainischen Fotografen Yurii Veres und seinen polnischen Kollegen Marek Lemiesz und Tomasz Grzywaczewski. Sie verdeutlichen das Ausmaß der Zerstörung und den Verlust des kulturellen Erbes.
Die Ausstellung wurde vom Archäologischen Landesmuseum Brandenburg in Zusammenarbeit mit dem European Heritage Heads Forum, einem internationalen Netzwerk hochrangiger europäischer Kulturerbe-Expert:innen, und dem Brüsseler Architektur- und Ausstellungszentrum Les Halles Saint-Géry koproduziert. Bedeutende Beiträge kamen insbesondere vom Narodowy Instytut Dziedziczwa (NID), dem polnischen Nationalen Institut für kulturelles Erbe.
Digital zugänglich ist bereits heute die Ausstellung »Destroyed Ukrainian Heritage. Ukraine's Built Heritage since February 24, 2022. A Record of Destruction«. Sie wurde vom Kyjiwer Architekturhistoriker Dr. Semen Shyrochyn in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) kuratiert. Sie zeigt anhand von 40 ausgewählten Beispielen aus dem gesamten Territorium der Ukraine das Ausmaß und die Bandbreite der systematischen Zerstörung des ukrainischen Bauerbes.
Deutlich wird in den Bildern, dass die Angriffe auf Kulturstätten Teil einer Strategie sind, die Identität der Ukraine als eigenständige Nation zu untergraben. Durch die Zerstörung von Symbolen nationaler Geschichte und Kultur soll das kollektive Gedächtnis und das Selbstverständnis der ukrainischen Bevölkerung geschwächt werden.
Beziehungsweise eine neue großrussische Identität konzipiert werden. Denn die russischen Besatzer zerstören nicht nur. Die Stadt Mariupol war vermutlich nur wenigen in Deutschland bekannt, bevor die Belagerung der Stadt zwischen dem 24. Februar 2022 und der Kapitulation der letzten Verteidiger in den Katakomben des Asow-Stahlwerks am 20. Mai 2022, die Weltöffentlichkeit in den ersten Kriegsmonaten beschäftigte.
Das Schauspielhaus von Mariupol diente Menschen als Schutzraum, von denen viele bei der Bombardierung des Theaters ums Leben kamen. Das zwischen 1956 und 1960 erbaute Theater soll nun unter der russischen Besatzung originalgetreu wieder aufgebaut werden, wie im Begleittext zu den Bildern vor und nach der Zerstörung des Schauspielhauses mitgeteilt wird.
Wie wichtig und komplex solche digital unterstützten Projekte sind, beweist das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg durch das von ihm initiierte Projekt "Documenting Ukrainian Cultural Heritage" in Zusammenarbeit mit der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften in Hannover. Seit Oktober 2022 wurden in inzwischen vier Phasen rund 1.000 durch den Krieg gefährdete Bauwerke mit mehr als 1.200 Bildern fotografisch erfasst, um sie für die Nachwelt zu bewahren und eine Grundlage für mögliche Wiederaufbau- und Restaurierungsmaßnahmen zu schaffen. Aus Sicherheitsgründen bleibt das im Projekt gewonnene Bildmaterial solange der breiten Öffentlichkeit verschlossen, bis der Krieg vorbei ist.
Der physischen wie der digitalen Präsentation dieses zu oft übersehenen Aspekts militärischer Konflikte, den Angriff auf die Identität und die kulturelle Vielfalt des Landes, ist eine große Zahl von Besucher:innen zu wünschen. Die gezeigten Bilder tragen dazu bei, nicht nur über die Bedeutung des kulturellen Erbes inmitten von Konflikten zu reflektieren, sondern tragen möglicherweise auch dazu bei, niedrigschwellig und für alle begreifbar, die tägliche Wirkung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine deutlich zu machen.
»Zerstörung des Kulturerbes: Eine Konfliktstrategie«
Die Ausstellung ist vom 19.03. - 12.10.2025 im Archäologischen Landesmuseum Brandenburg zu sehen.
»Destroyed Ukrainian Heritage. Ukraine's Built Heritage since February 24, 2022. A Record of Destruction«
Die Ausstellung ist kostenfrei auf dem Ausstellungsportal der Leibniz GWZO zugänglich.
Voices: Ein Mosaik ukrainisch-jüdischen Lebens
Dem russischen Angriffskrieg fallen die Zeugnisse jüdischen Lebens in der Ukraine wie Synagogen oder jüdische Schulen ebenso zum Opfer, wie die Erinnerungsstätten an die Shoa.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten etwa fünf Millionen Jüdinnen und Juden im Russischen Reich, davon rund zwei Millionen im Gebiet der heutigen Ukraine. Sie waren überwiegend in der sogenannten Cherta osedlosti (Ansiedlungszone) konzentriert, einem Gebiet entlang der westlichen Grenze des Zarenreichs, der große Teile der heutigen Ukraine, Belarus, Litauens und Polens umfasste.
In Odessa lebten um 1900 rund 140.000 Jüdinnen und Juden, die dort ein Drittel der Bevölkerung stellten. In Städten wie Schytomyr, Berdytschiw oder Winnyzja stellte die jüdische Bevölkerung Anteile von knapp der Hälfte der Einwohner:innen. Jüdische Gemeinden waren in dieser Zeit kulturell und wirtschaftlich aktiv. Es existierten zahlreiche jüdische Schulen, Theater und Zeitungen (z. B. in Jiddisch und Hebräisch), und Odessa war ein Zentrum der zionistischen Bewegung. Gleichzeitig waren Pogrome ständiger existenzbedrohender Teil jüdischer Existenz, wie beispielsweise 1881–1882 nach der Ermordung Alexanders II. und 1903–1906, bei denen Tausende Jüdinnen und Juden ermordet oder verletzt wurden.
Der Erste Weltkrieg, die Russische Revolution (1917) und der anschließende Bürgerkrieg (1917–1921) brachten extreme Gewalt über die jüdische Bevölkerung. Allein zwischen 1918 und 1921 fanden mehr als 1.300 Pogrome statt, denen mehr als 100.000 jüdische Menschen zum Opfer fielen.
Die Wehrmacht und die Einsatzgruppen der SS ermordeten zwischen 1941 und 1944 bis zu 1,6 Millionen ukrainischer Jüdinnen und Juden. Babyn Jar bei Kyjiw, wo im September 1941 die deutschen Besatzer mehr als 33.000 jüdische Menschen ermordeten, wurde zu einem der Schreckensorte der Shoa.
Doch auch während der sowjetischen Herrschaft zwischen 1922 und 1941 sowie nach der Befreiung von der Nazi-Besatzung bis zur ukrainischen Unabhängigkeit 1991 wurde jüdisches Leben unterdrückt, verhinderte staatlicher Antisemitismus die Ausprägung jüdischer Identität und Religionsausübung. Die Möglichkeit der Emigration nutzten nach 1991 eine große Zahl von Jüdinnen und Juden nicht nur aus der Ukraine, sondern aus der ehemaligen Sowjetunion insgesamt. Jüdinnen und Juden aus der Ukraine, wo gegenwärtig bis zu 100.000 Menschen jüdischer Herkunft leben, und aus der ehemaligen Sowjetunion stellen heute einen wesentlichen Teil der deutschen jüdischen Gemeinden, darunter auch in Augsburg.
Das Jüdische Museum Augsburg beleuchtet in der digitalen Ausstellung „Voices. Ein Mosaik ukrainisch-jüdischen Lebens“ auf Google Arts & Culture die Vielfalt des jüdischen Lebens in der Ukraine über die vergangenen 100 Jahre.
Die Ausstellung, die vom 25. Oktober 2022 bis zum 26. Februar 2023 in der Ehemaligen Synagoge Kriegshaber in Augsburg zu sehen war und nun digital dankenswerterweise einem noch größeren Publikum dauerhaft zugänglich ist, erzählt von interkulturellen Beziehungen und dem Gemeindeleben in den Schtetln der 1920er und 1930er Jahre, den Schrecken der Shoa, dem Ringen um eine angemessene Erinnerungskultur in der Sowjetunion und der Emigration vieler ukrainischer Jüdinnen und Juden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991.
Anhand von Zeitzeugeninterviews, zeitgeschichtlichen Dokumenten, Videos, Fotografien und persönlichen Erzählungen wird ein umfassendes Bild der Erfahrungen und Herausforderungen ukrainischer Jüdinnen und Juden im 20. und 21. Jahrhundert gezeichnet. Besonders hervorzuheben ist die Vielfalt der Sprachen und Kulturen, die das jüdische Leben in der Ukraine geprägt haben, sowie die Resilienz der Gemeinschaft trotz wiederholter Verfolgung und Diskriminierung.
Die Ausstellung "Voices. Ein Mosaik ukrainisch-jüdischen Lebens" wurde von Daria Reznyk und Andrii Shestaliuk kuratiert. Daria Reznyk ist derzeit assoziierte Wissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) und Doktorandin an der Universität Leipzig. Andrii Shestaliuk setzt seine Forschungsarbeit am Jüdischen Museum Augsburg Schwaben fort. Daria Reznyk und Andrii Shestaliuk emigrierten aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine im Jahr 2022 nach Augsburg. Beide arbeiteten zuvor am Memorial Museum of Totalitarian Regimes "Territory of Terror" in Lwiw und führten dort unter anderem Zeitzeug:inneninterviews mit Überlebenden der Shoah. Partner der Ausstellung waren die 2021 in Lwiw gegründete Organisation "After Silence" und das dortige Medienarchiv sowie das Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar in Kiew.
Ursprünglich war geplant, Exponate aus der Ukraine zu zeigen, die das Leben jüdischer Gemeinden in verschiedenen Epochen veranschaulichen. Aufgrund des Krieges war dies jedoch nicht möglich, weshalb das Museum auf mündliche Überlieferungen von Zeitzeugen setzte. Die Ausstellung nutzt Interviews mit ukrainischen Juden, die nach Deutschland ausgewandert sind, und solchen, die trotz des aktuellen Krieges in der Ukraine geblieben sind. Insgesamt 16 Personen erzählen ihre persönlichen Geschichten. Die Interviews wurden in verschiedenen Sprachen geführt, darunter Ukrainisch, Russisch, Polnisch, Hebräisch und Jiddisch, was die sprachliche Vielfalt der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine widerspiegelt.
»Voices. Ein Mosaik ukrainisch-jüdischen Lebens«
Die Ausstellung ist kostenfrei auf Google Arts & Culture zugänglich.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.