Jüdische Linke im Porträt: Widerständler:innen, Intellektuelle, Aktivist:innen
Von Moses Hess bis Isabel Frey, von jüdischen Widerstandskämpfer:innen wie Zofia Poznáska bis zu Intellektuellen in der DDR wie Helene Weigel oder Anna Seghers: Der vierte Band der Buchreihe „Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken“ stellt erneut bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten vor, die jüdische Geschichte und linke Bewegungen prägten.
Die von Riccardo Altieri, Bernd Hüttner und Florian Weis unter dem Dach der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Buchreihe "Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken" etablierte sich in den vergangenen Jahren als wichtige Sammlung zur Verflechtung jüdischer Geschichte und linker Bewegungen. Während der erste Band 2021 die langjährige Allianz zwischen jüdischer Emanzipationsbewegung und der Arbeiter:innenbewegung in den Mittelpunkt stellte, nahmen die Herausgeber in den folgenden Bänden (2022 und 2023) spezifische politische Strömungen und geographische Kontexte – von der Weimarer Republik bis zu sephardischen und mizrachischen Perspektiven im Osmanischen Reich und Nordafrika – in den Blick.
Der bereits im Oktober 2024 erschienene Band 4 «Zog nit keyn mol, az du geyst dem letstn veg. Mir zaynen do!» legt den Fokus auf jüdisch-linke Intellektuelle in der DDR und den jüdisch-militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Vorgestellt werden bekannte und weniger bekannte jüdische Linke. Stärker noch als bei den vorhergehenden Bänden eint die drei Herausgeber nicht nur das Interesse an einer historischen Rückschau, sondern auch die Reflexion gegenwärtiger Debatten innerhalb linker Bewegungen, insbesondere nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem seither herrschenden Krieg in Gaza und Israels Grenzgebieten.
Die Herausgeber widmen sich in der Einleitung diesem aktuellen politischen Kontext und zeigen auf, wie das Verhältnis zwischen jüdischen Strömungen und der Linken durch neue Konfliktlinien herausgefordert wird. Sie problematisieren sowohl einen wachsenden Antisemitismus in linken Bewegungen als auch politische Maßnahmen gegen propalästinensische Proteste. Besonders hervorgehoben wird die Ambivalenz der deutschen Linken: Während sie insgesamt empathischer gegenüber jüdischen Positionen sei als ihre Pendants in den USA oder Großbritannien, zeigen sich dennoch erhebliche Spaltungslinien.
Das historische Bündnis zwischen Jüdinnen und Juden und der sozialistischen Bewegung erodierte über Jahrzehnte hinweg, insbesondere durch den politischen Rechtsruck in Israel sowie einem neuen, der akademischen Linken entstammenden Antisemitismus. An dieser Stelle historisch-aufklärerisch zu wirken, ist sicherlich eine der Zielrichtungen der ambitionierten Buchreihe, die 2025 mit einem fünften und letzten Band abgeschlossen werden soll.
Der 150-seitige Sammelband enthält 18 Beiträge, darunter zwei Gespräche, die den Band sowohl eröffnen als auch abschließen.
Im Eröffnungskapitel reflektiert der damals noch amtierende thüringische linke Ministerpräsident Bodo Ramelow über die politische Philosophie von Moses Hess (1812–1875) und dessen Bedeutung für die frühe sozialistische Bewegung. Hess, der als „Kommunistenrabbi“ verspottet wurde, verband marxistische Gedanken mit einer jüdischen Identität und trug zur Entwicklung des sozialistischen Zionismus bei. Ramelow hebt die historische Rolle der jüdischen Arbeiterbewegung hervor und kritisiert den Antisemitismus sowohl in rechten als auch linken Bewegungen.
Dies wird im anschließenden Beitrag von Hella Hertzfeldt vertieft. Hess’ Werke wie Die europäische Triarchie (1841) und Rom und Jerusalem (1862) stehen im Zentrum der Analyse. Hertzfeldt zeigt, wie Hess zunächst in der revolutionären Bewegung aktiv war, bevor er sich von Marx und Engels distanzierte und eine jüdische nationale Erneuerung forderte. Das im Hamburger VSA-Verlag erschienene Buch „Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844 – 1939)“ von Mario Keßler, das ich im Januar 2023 rezensierte, bietet interessierten Leser:innen weitere Einblicke sowohl in das politische Leben von Moses Hess, als auch in Auszüge seiner Werke.
Der abschließende Gesprächsbeitrag mit der Wiener Sängerin und Aktivistin Isabel Frey thematisiert die Bedeutung von Doikayt („Hiersein“) und Jiddischkayt als politische und kulturelle Konzepte des jüdisch-linken Erbes. Als Sängerin, die sich mit jiddischer Musik und jüdisch-linken Traditionen beschäftigt, verbindet Isabel Frey Jiddischkayt (jüdische Kultur) mit politischem Aktivismus. Sie tritt mit Liedern aus der sozialistischen Arbeiterbewegung auf, darunter revolutionäre jiddische Lieder, die während der Pogrome, im Widerstand gegen die Nazis oder in linken Gewerkschaften gesungen wurden. Frey betont, dass Jiddisch in vielerlei Hinsicht eine widerständige Sprache ist. Während das Hebräische in Israel als Nationalsprache etabliert wurde, blieb Jiddisch die Sprache der jüdischen Arbeiterbewegung, der Diaspora und des linken Widerstands. Viele der Lieder, die sie interpretiert, stammen aus dieser Tradition. Indem Frey argumentiert, dass jüdische Identität nicht zwingend an Religion oder an den Staat Israel gebunden sein muss, sondern dass es eine politische und kulturelle Identität geben kann, die sich auf die Tradition des jüdischen Sozialismus bezieht, schlägt sie eine Brücke aus der historischen Betrachtung in die Gegenwart und Zukunft.
Jüdische Intellektuelle in der DDR
Rund die Hälfte der Beiträge widmet sich jüdischen Intellektuellen aus der DDR. Hierzu sind in den vergangenen Jahren bereits mehrere spannende Publikationen erschienen, so zum Beispiel 2021 im Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte Hentrich & Hentrich (Berlin und Leipzig) der von Annetta Kahane und Martin Jander herausgegebenen Porträt-Band: „Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression“ oder die von Peter Reif-Spirek und Annette Leo bei der Thüringer Landeszentrale für Politische Bildung herausgegebene Publikation „Widerspruchsvoller Neubeginn. Ostdeutsch-jüdische Geschichten nach 1945“. Beide habe ich 2022 und 2023 gemeinsam mit den in diesen Jahren erschienenen Bänden der Reihe über Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken rezensiert.
Mario Keßler beschreibt in seinem Beitrag „Jüdische Intellektuelle in der DDR“ das Spannungsverhältnis zwischen „Aufbruch im Sozialismus oder Aufbruch aus der DDR“. Keßler argumentiert, dass viele jüdische Linke nach 1945 aus dem antifaschistischen Impuls heraus in die DDR gingen. Die Slánský-Prozesse (1952) und der schleichende Antisemitismus in der SED führten jedoch dazu, dass viele das Land wieder verließen oder marginalisiert wurden.
In Kahane/Janders „Juden in der DDR“ porträtierte Regina Scheers seinerzeit in dem mich beeindruckenden Beitrag „Zwischen den Stühlen. Hertha (Gordon) Walcher (1894-1990)“ eine Frau, deren politisches Leben von den Spaltungen und unter dem Stalinismus auch lebensbedrohenden Dogmatismen der kommunistischen Bewegung geprägt ist. Sie wechselte, als aus der KPD wegen „Rechtsabweichung“ Verstoßene, zur KPD-Opposition (KPD-O) und später zur linkssozialistischen SAP, deren Exil-Büro in Paris und wird deshalb in der DDR aus der SED ausgeschlossen. Schlimmeres verhinderte Wilhelm Pieck. Im vorliegenden Sammelband porträtiert Altieri die sozialistische Politikerin mit jüdischen Wurzeln.
Die DDR präsentierte sich selbst als antifaschistischer Staat, in dem jüdische Bürger:innen nicht nur Schutz fanden, sondern auch als Teil des sozialistischen Projekts integriert werden sollten. Dennoch blieb die Rolle jüdischer Identitäten ambivalent: Während einige jüdische Intellektuelle sich bewusst als Linke und Antifaschist:innen positionierten, ohne ihre jüdische Herkunft zu betonen, versuchten andere, jüdische Erinnerung und Identität mit der sozialistischen Ideologie zu verbinden.
Einzelporträts der Schauspielerin Helene Weigel, des Regisseurs und Namensgebers der Filmuniversität Babelsberg, Konrad Wolf, und den vier Schriftsteller:in Anna Seghers, Stefan Heym, Stephan Hermlin und Jurek Becker bilden gemeinsam ein spannendes Panorama. Jüdische Identität wurde in der DDR-Kultur auf sehr unterschiedliche Weise behandelt und verhandelt.
Jüdischer Widerstand
Vier weitere Beiträge widmen sich dem jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in verschiedenen Kontexten: dem Warschauer Ghetto, der Untergrundbewegung in Minsk, dem Widerstand aus dem Kibbuz heraus und der Herbert-Baum-Gruppe in Deutschland. Gemeinsam zeigen sie, dass jüdischer Widerstand nicht auf heroische Einzelakte reduziert werden kann, sondern in vielfältigen Formen – militärisch, kulturell, politisch und intellektuell – existierte.
Während die dominante Geschichtserzählung lange das Bild jüdischer Passivität prägte, machen diese Beiträge deutlich, dass sich zahlreiche Jüdinnen und Juden aktiv gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik wehrten – oft unter extrem schwierigen Bedingungen und mit geringsten Erfolgsaussichten. Sie leisten damit einen Beitrag zur Dekonstruktion des Mythos vom angeblich widerstandslosen jüdischen Opfer.
Die Shoa ist für Überlebende wie nachgeborene Jüdinnen und Juden nicht nur mit einem existenziellen Trauma verbunden. Sie ist zugleich eine schwere religiöse, theologische und philosophische Herausforderung. Kann man nach dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden noch von Gott reden? Der deutsche Philosoph und liberale Rabbiner Emil Fackenheim brachte in diese Diskussion ein 614. Gebot, das den 613 traditionellen Geboten der Tora hinzugefügt werden müsse. Dieses Gebot lautet: „Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht.“
Die Shoa läutet in dieser Deutung und der Benennung als 614. Gebot eine neue Ära des Judentums ein, in der jüdisches Leben per se ein Wert an Sich ist, der an vorderster Stelle steht. Emil Fackenheim zog aus den Berichten Überlebender aus der Zeit der Shoa die Schlussfolgerung, dass jüdisches Leben in den Todeslagern sich letztlich nur noch als Widerstand gegen den Mord äußern konnte. In der Aufrechterhaltung der jüdischen Menschenwürde und des Versuchs, sich diese jüdische Menschenwürde nicht brechen zu lassen. Die vier Beiträge sind in diesem Sinne und in Verbindung mit den Überlegungen von Isabel Frey die aus meiner Sicht bedeutsamsten dieses vierten Bandes.
Gertrud Pickhan porträtiert die jüdisch-sozialistische Organisation „Bund“ und deren zentrale Rolle bei der Organisierung des Widerstands, in dem sich jüdische Kämpfer:innen in einem fast aussichtslosen Kampf gegen die Wehrmacht und die SS behaupteten und dadurch zum Symbol jüdischer Selbstbehauptung wurden.
Hersz Smolar (1905–1993) war ein herausragender Chronist und Organisator des jüdischen Widerstands im Minsker Ghetto, das eine der aktivsten Widerstandszellen des Holocausts hervorbrachte. Smolar überlebte den Krieg und dokumentierte später die Kämpfe des jüdischen Widerstands. Seine Schriften sind eine der wichtigsten Quellen über die Organisation des Widerstands in den Ghettos.
Beschreibt Pickhan den Ghetto-Widerstand in Warschau und Wilna, ergänzt Mario Keßler die Perspektive durch das Beispiel Minsk. In beiden Fällen wird deutlich, dass jüdischer Widerstand nicht nur spontan, sondern strategisch organisiert war.
Angelika Nguyen wirft einen Blick auf jüdische Untergrundarbeit in Westeuropa am Beispiel von Zofia Poznańska (1906–1942). Poznańska war eine polnisch-jüdische Kommunistin, die sich der „Roten Kapelle“ anschloss und in Belgien gegen die deutsche Besatzung kämpfte. Ihr Widerstand beruhte auf ihrer Prägung innerhalb der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung.
Die Herbert-Baum-Gruppe war die wohl bedeutsamste jüdische Widerstandsgruppe in Nazideutschland selbst. Imke Küster porträtiert sowohl den jüdischen Kommunisten Herbert Baum (1912–1942), als auch die Widerstandsgruppe, die 1942 einen Sabotageanschlag auf die NS-Propagandaausstellung Das Sowjetparadies durchführte und im Ergebnis von der Gestapo zerschlagen wurde. Nach 1945 wurde Baum in der DDR als antifaschistischer Held verehrt, während er in Westdeutschland weitgehend vergessen blieb. Der Beitrag zeigt politische Mechanismen der Erinnerungskultur und schlägt die Brücke zu den Beiträgen über Jüdinnen und Juden in der DDR.
Vielfalt jüdischen Linksseins
Mit den Porträts über die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano „Nie mehr schweigen“ (Anika Taschke), den Schweizer Verleger und Buchhändler Theo Pinkus „Der Rote Büchernarr“ (Uwe Sonnenberg) sowie den aus Österreich 1938 nach Mexiko exilierten jüdisch-sozialistischen Menschenrechtsanwalt Leo Zuckermann (Uwe Sonnenberg) wird die von Isabel Frey thematisierte Idee, des „Doikayt“ biographisch thematisiert.
Obwohl Zuckermann eine zentrale Figur in der jüdisch-linken Exilbewegung war, ist er heute weitgehend unbekannt. Die Ursachen dafür liegen zuvorderst in der Dominanz der europäischen Erinnerungspolitik: Während viele jüdisch-linke Exilant:innen, die in Frankreich oder den USA aktiv waren, in der Geschichtsschreibung Beachtung fanden, blieben diejenigen, die nach Lateinamerika flohen, oft unsichtbar. Hinzu kommt jedoch die Marginalisierung jüdischer Sozialist:innen in der von den Kommunist:innen dominierten Erinnerungskultur.
Allein dass diese Traditionslinien der nichtkommunistischen, (links-)sozialistischen Arbeiter:innenbewegung von Altieri/Hüttner/Weis in allen vier bisherigen Bänden thematisiert wird, macht diese Reihe, deren Bände alle als open access im PDF-Format kostenfrei abgerufen werden können, so wertvoll.
Riccardo Altieri/Bernd Hüttner/Florian Weis (Hrsg.) «Zog nit keyn mol, az du geyst dem letstn veg. Mir zaynen do!» Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Bd. 4), als Nr. 20 in der Reihe: luxemburg beiträge, hrsgg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2024.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.