03.03.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Rezension

Corona und die soziale Frage: Wie die Pandemie Ungleichheiten verschärfte

Die Pandemie ist vorbei, die Debatten darüber nicht. Wie gelingt eine ehrliche Aufarbeitung ohne politische Spaltung? Ein neues Buch bietet empirisch fundierte Antworten aus Sicht der Arbeitsmarkt- und Sozialforschung.

Im Gespräch mit der Thüringer Landeszeitung (TLZ) bemängelte der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit dieser Tage, dass eine ehrliche Aufarbeitung der Pandemie überfällig sei. Nur so könnten Gräben zugeschüttet werden. Er würde „die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission sehr begrüßen“.

Historisch stand die Truth and Reconciliation Commission für die Aufklärung politisch motivierter Verbrechen während der Apartheid in Südafrika. Dies dürfte auch Schmidt-Chanasit bekannt sein. Ebenso kann angenommen werden, dass er weiß, dass sein Ziel, „die verschiedenen Gruppen miteinander ins Gespräch zu bringen und so eine Basis für Ver­söhnung zu schaffen“, bei dem „das Zuhören beziehungsweise das Wahrnehmen der Erfahrungen des jeweils anderen im Vordergrund ­stehen“ schwerlich auf Grundlage einer historischen Verknüpfung von Pandemiemanagement mit den Verbrechen der rassistischen Apartheitspolitik zustande kommen dürfte.

Dass er dennoch einen solch belasteten Begriff für ein in der Sache richtiges Ziel wählt, kann dem Bemühen um mediale Wahrnehmung geschuldet sein und bleibt im Übrigen sein Geheimnis. Offensichtlich ist jedoch, dass schon die Frage, wie das Pandemiemanagement aufgearbeitet wird, zum Politikum geworden ist.

Im Thüringer Landtag werden aller Voraussicht nach gleich zwei Corona-Untersuchungsausschüsse eingesetzt, weil sich das BSW und die CDU einerseits sowie die AfD andererseits nur darin einig sind, dass die Corona-Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss, aber nicht in einer Enquete-Kommission stattfinden soll. Das hatte wiederum die Linke im Landtag vorgeschlagen. In Sachsen wird es ebenfalls einen solchen Untersuchungsausschuss zur Corona-Aufarbeitung geben. In Brandenburg hat ein solcher Untersuchungsausschuss seine Arbeit bereits abgeschlossen und einen umfangreichen Bericht vorgelegt. Im Deutschen Bundestag sind sich wiederum auch alle einig, dass sie sich nicht einig sind, wie die Aufarbeitung der Corona-Pandemie stattfinden soll.

In meinem Podcast Kunst der Freiheit plädierte die Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), Bettina Kohlrausch, für das Instrument einer Enquetekommission: „Sie sind interdisziplinär, bringen verschiedene Sichtwinkel zusammen und legen Erkenntnisse dann in einem gemeinsamen Bericht vor. Dort kann man auch unterschiedliche Perspektiven gut deutlich machen. Man weiß am Ende, was man gelernt hat und was man eben auch für die Zukunft und zukünftige Politik aus diesem Wissen ableiten kann. Das, denke ich, müsste auch die Logik einer solchen Aufarbeitung sein.“ Wichtiger als Schuldige zu finden, sagt sie in dem Gespräch, das als Interview auch hier auf diesem Blog Nachdenken im Handgemenge nachgelesen werden kann, sei es zu heilen. Und lernend Schlussfolgerungen zu ziehen.

Gemeinsam mit Eileen Peters und Karin Schulze Buschoff hat Bettina Kohlrausch für diesen Lernprozess eine wichtige Grundlage zur Verfügung gestellt. Das Buch Was von Corona übrig bleibt. Erwerbsarbeit, Sozialstruktur, gesellschaftliche Folgen, erschienen 2025 beim Campus-Verlag, untersucht die langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf gesellschaftliche Dynamiken in Deutschland unter dem Blickwinkel der Arbeitswelt und Sozialstruktur.

Hierfür versammelt der Band auf 288 Seiten elf Beiträge von den drei Herausgeberinnen sowie weiteren Wissenschaftler:innen aus dem WSI und zwar Helge Emmler, Elke Ahlers, Wolfram Brehmer, Martin Behrens, Jan Brülle, Dorothee Spannagel und Andreas Hövermann.

Die Beiträge stützen sich auf empirische Erkenntnisse des Instituts – insbesondere auf das WSI-Erwerbspersonenpanel, eine mehrjährige Befragung zu den Arbeitsbedingungen während und nach der Pandemie. Im bereits erwähnten Podcast-Gespräch führte Bettina Kohlrausch aus: „Wir begannen im April 2020, also im ersten Lockdown, Erwerbspersonen zu befragen und haben damit einfach nicht mehr aufgehört.“

Der Band analysiert verschiedene Facetten der Pandemieauswirkungen, konzentriert sich aber – der Ausrichtung des Instituts auf die Arbeitswelt und deren soziostrukturelle Bedingungen und Ausformungen entsprechend darauf, wie sich Arbeitswelt, soziale Ungleichheiten und politische Einstellungen durch die Pandemie verändert haben. Aus Sicht der Herausgeberinnen markierte die Pandemie eine tiefgreifende Umstrukturierung der Arbeitsorganisation – von Homeoffice bis Kurzarbeit –, während wirtschaftliche und psychische Belastungen insbesondere Geringverdienende und Eltern trafen. Im Podcast-Gespräch verwies Bettina Kohlrausch darauf, dass sich am Instrument der Kurzarbeit erkennen lasse, dass der Sozialstaat funktioniert habe, denn er gab subjektive Sicherheit aufgrund der Gewissheit, „dass man ganz tief nicht fallen kann, weil man geschützt wird“.

Gleichwohl habe sich auch gezeigt, dass diese sozialstaatliche Schutzfunktion immer noch auf dem sogenannten Normalarbeitsverhältnis aufbaut. Damit sind all jene Gruppen nicht im Blick, die außerhalb des Normalarbeitsverhältnisses stehen. Für die sind die sozialstaatlichen Schutzinstrumente schwächer ausgeprägt oder gar nicht vorhanden, was soziale Ungleichheit verschärft und Armutsstrukturen verfestigt. Jan Brülle und Dorothee Spannagel legen in ihrem Beitrag dar, wie Armut und Einkommensungleichheit durch die Pandemie zugenommen haben. Besonders betroffen waren Geringverdienende, die kaum Zugang zu Homeoffice oder Kurzarbeit hatten.

Ungleichheiten im Sozialstaat und der Arbeitswelt sind untrennbar mit Geschlechtermustern verbunden. Eileen Peters und Bettina Kohlrausch untersuchen geschlechtsspezifische Arbeitszeitmuster. Während einige Frauen ihre Arbeitszeit erhöhten, mussten andere sie massiv reduzieren, was langfristige Folgen für Karriere und Rente haben könnte.

Heike Emmler zeigt in ihrem Beitrag auf, dass Homeoffice seit der Pandemie weit verbreitet ist, aber nicht alle Berufsgruppen gleichermaßen profitieren. Höherqualifizierte nutzen es häufiger, während Menschen in niedrigeren Einkommensgruppen oft keine Möglichkeit dazu haben.

Elke Ahlers analysiert Risiken und Chancen des Homeoffice, insbesondere hinsichtlich der Entgrenzung von Arbeitszeiten und des Schutzes durch Betriebsräte.

Eileen Peters und Karin Schulze Buschoff untersuchen die wirtschaftlichen Folgen für Selbstständige. Viele gerieten durch die Krise in existenzielle Not, da staatliche Hilfen oft nicht ausreichten.

Die Zahl der Menschen in Deutschland ohne berufsqualifizierenden Abschluss ist während der Pandemie, so stellt es Bettina Kohlrausch in Kunst der Freiheit dar, auf über 2,9 Millionen gestiegen. Wolfram Brehmer und Magdalena Polloczek thematisieren im Sammelband die Ausbildungssituation während der Pandemie und zeigen, dass betriebliche Mitbestimmung eine entscheidende Rolle bei der Sicherung von Ausbildungsplätzen spielte.

Im Beitrag von Martin Behrens und Wolfram Brehmer wird die Arbeitsweise von Betriebs- und Personalräten untersucht und dargelegt, wie sie neue Wege finden mussten, um ihre Arbeit digital fortzuführen. Zudem wird festgehalten, dass die Pandemie zu verstärktem Engagement in Fragen der Arbeitszeitflexibilität führte.

Andreas Hövermann analysiert, wie finanzielle Sorgen während der Pandemie zu einem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen führten. Menschen mit niedrigen Einkommen waren besonders anfällig für Verschwörungserzählungen und rechtspopulistische Mobilisierung.

Das Buch bietet eine hervorragend fundierte Analyse der gesellschaftlichen Folgen von Corona, gestützt auf empirische Forschung. Besonders wertvoll ist die differenzierte Betrachtung der Auswirkungen auf verschiedene soziale Gruppen. Die Autor:innen kombinieren wirtschaftliche, soziale und politische Perspektiven unter einem Arbeitnehmer:innenorientierten Blickwinkel. Das macht das Buch für Wissenschaftler:innen, Politiker:innen und Interessierte an Arbeits- und Sozialpolitik gleichermaßen relevant.

Begrüßenswert ist, dass der Sammelband open access als PDF-Datei kostenlos zum Download bereitgestellt wird. Wer an Fakten interessiert ist und Anregungen für politische Schlussfolgerungen aus der Pandemie sucht, erhält sie hier ohne weitere soziale Barriere. Vorbildlich.

Bettina Kohlrausch, Eileen Peters, Karin Schulze Buschoff (Hrsg.), Was von Corona übrig bleibt. Erwerbsarbeit, Sozialstruktur, gesellschaftliche Folgen, unter Mitarbeit von Gudrun Linne und Jutta Höhne, Campus-Verlag, Frankfurt am Main/New York 2025 (ISBN 978-3-593-51891-6 Print / ISBN 978-3-593-45755-0 E-Book)

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Buchcover
Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.