03.03.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Gesellschaft

Pandemie vorbei, Ungleichheit bleibt? Corona-Folgen im Fokus – im Gespräch mit Prof. Dr. Bettina Kohlrausch

Prof. Dr. Bettina Kohlrausch ist die Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung.

„In der Rückschau ist es schwer zu sagen, ob die Unwissenheit eher Fluch oder Segen war. Als vor fünf Jahren der erste Corona-Fall in Deutschland registriert wurde, hatte dieses Land keine Vorstellung von all dem Unglück, das so nun kommen würde. Nicht von den Toten, nicht von den Langzeiterkrankten, nicht von den wirtschaftlichen Verlusten und schon gar nicht von dem Riss, der sich seither durch die Gesellschaft zieht. Die Pandemie mag längst vorbei sein, die Folgen aber spürt dieses Land bis heute und sie sind bitter.“

Benjamin-Immanuel Hoff: So formulierte es Angelika Slavik in einem Kommentar für die Süddeutsche Zeitung, der die Überschrift trägt, „Die Pandemie ist längst vorbei, nun muss endlich der Riss in der Gesellschaft geheilt werden“. Anlass unseres Gesprächs, liebe Bettina, ist euer Buch, das beim Campus Verlag erschienen ist und von dir gemeinsam mit Aline Peters und Karin Schulze-Buschow herausgegeben wurde: „Was von Corona übrigbleibt. Erwerbsarbeit, Sozialstruktur, gesellschaftliche Folgen“. Schön, dass du dir die Zeit nimmst, Bettina.

Bettina Kohlrausch: Gerne.

BIHoff:  Im Thüringer Landtag werden aller Voraussicht nach gleich zwei Corona-Untersuchungsausschüsse eingesetzt, weil sich das BSW und die CDU einerseits sowie die AfD andererseits nur darin einig sind, dass die Corona-Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss, aber nicht in einer Enquete-Kommission stattfinden soll. Das hatte wiederum die Linke im Landtag vorgeschlagen. In Sachsen wird es ebenfalls einen solchen Untersuchungsausschuss zur Corona-Aufarbeitung geben. In Brandenburg hat ein solcher Untersuchungsausschuss seine Arbeit bereits abgeschlossen und einen umfangreichen Bericht vorgelegt. Im Deutschen Bundestag sind sich wiederum auch alle einig, dass sie sich nicht einig sind, wie die Aufarbeitung der Corona-Pandemie stattfinden soll. Du warst Mitglied einer Enquete-Kommission, nämlich der Enquete Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt des Deutschen Bundestages. Vor diesem Hintergrund die Frage, was wäre die angemessene Form der Corona-Aufarbeitung, wenn sie im politischen Raum stattfindet?

BKohlrausch: Nach meinem Verständnis ist der Ausgangspunkt von Untersuchungsausschüssen die Feststellung, dass etwas falsch gelaufen ist und jemand bewusst Fehler gemacht hat. Nun möchte ich nicht grundsätzlich in Abrede stellen, dass dies in der Pandemie punktuell auch der Fall war, wenn wir beispielsweise an die sogenannten Maskendeals denken. Aber viel interessanter und wichtiger sind für mich – das war auch der Ausgangspunkt unseres Buches – folgende Fragen: Was hat uns die Corona-Pandemie über unsere Gesellschaft gelehrt? Was hat funktioniert? Was hat auch nicht funktioniert? Wir schauen ja stark auf den Sozialstaat: wen hat er geschützt, wen hat er nicht geschützt? Und am Ende natürlich: Was können wir besser machen?
Ich glaube, wenn man so auf die Pandemie schaut, dann kann man tatsächlich auch die Risse, die diese Pandemie mit Sicherheit hinterlassen hat, eher heilen, als wenn man versucht, Schuldige zu finden.
Insofern finde ich es sinnvoller eine Enquete-Kommission statt eines Untersuchungsausschusses einzusetzen. Denn genau so funktionieren, ja Enquete-Kommissionen. Sie sind interdisziplinär, bringen verschiedene Sichtwinkel zusammen und legen Erkenntnisse dann in einem gemeinsamen Bericht vor. Dort kann man auch unterschiedliche Perspektiven gut deutlich machen. Man weiß am Ende, was man gelernt hat und was man eben auch für die Zukunft und zukünftige Politik aus diesem Wissen ableiten kann. Das, denke ich, müsste auch die Logik einer solchen Aufarbeitung sein.

BIHoff: Im Einleitungsbeitrag eures Buches formuliert ihr eine prägnante Passage, ich zitiere die mal: „Geblieben sind prägende Verlusterfahrungen. Am nachhaltigsten sicherlich der Verlust von geliebten Menschen, sowie der Verlust von Gesundheit derer, die immer noch unter den Folgen der Corona-Infektion leiden. Doch auch all jene, die mit unversehrter Gesundheit durch die Pandemie gekommen sind, mangelt es nicht an Verlusterfahrung, Verlust von Einkommen, Verlust von Bildungschancen, Verlust der Fähigkeit, sich nach anhaltender Zeit dauerhafter und pausenloser Sorge, um andere Menschen zu erholen und zu regenerieren.“

Diese Verlusterfahrungen sind freilich nicht gesellschaftlich gleichverteilt, sondern tragen eine bedeutende soziale Schlagseite, die in eurem Buch im Fokus steht. Wo stehen wir unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit heute, fünf Jahre nach Pandemiebeginn?

 

Soziale Ungleichheit verschärft: Wer hat den höchsten Preis gezahlt?


BKohlrausch: Zunächst ein paar Informationen zum Hintergrund der Datengrundlage, auf der wir aufsetzen und mit denen wir in dem Buch gearbeitet haben. Wir begannen im April 2020, also im ersten Lockdown, Erwerbspersonen zu befragen und haben damit einfach nicht mehr aufgehört. Und sind jetzt, ich weiß es gar nicht genau, ich denke in der 14. Welle unserer Befragungen. Wir haben also sehr regelmäßig und eng monitort, mit dem Fokus auf Erwerbspersonen.

Die Pandemie und ihre Bekämpfung hatten, das kann ich gleich sagen, mit Sicherheit eine soziale Schlagseite. Was für uns jedoch bemerkenswert war, dass es für uns rückblickend ganz schwer ist zu sagen, wann hat eigentlich die eine Krise aufgehört und die nächste angefangen. Anfangs dachten wir, mal salopp gesagt, „Das ist ja super. Wir haben jetzt die Pandemie und dann können wir noch untersuchen, wie es den Leuten nach der Pandemie geht.“

Aber nach der Pandemie kam der Ukraine-Krieg und es kam die Inflation. Und deshalb ist es gerade in der Frage, was macht das eigentlich mit der sozialen Gerechtigkeit oder der sozialen Ungleichheit, ganz schwer zu sagen, welche Ursachen und Folgen basieren auf der Corona-Politik und welche auf der Inflation.

Die Frage sozialer Ungleichheit und deren Aufhebung ist eine bedeutsame Ausrichtung unseres Instituts. Und für mich war das auch immer der Punkt, uns in Debatten während der Pandemie einzumischen. Das führt mich übrigens dazu, auch nochmal der Behauptung zu widersprechen, man hätte die Pandemie-Politik nicht kritisieren dürfen. Ich hab die ersten drei Jahre als wissenschaftliche Direktorin des WSI - ich habe tatsächlich in der Pandemie angefangen, am 1. April 2020 – nichts anderes gemacht, als die Corona-Politik zu kritisieren. Und da hat mir nie irgendjemand den Mund verboten. Im Gegenteil, ich wurde viel eingeladen, eigentlich von allen Parteien, also auch von den CDU-Frauen zum Beispiel. Und die hatten Interesse an unseren Befunden. Es kommt deshalb möglicherweise eher darauf an, wie und welche Kritik man übt.

Aber zurück zur Frage sozialer Ungerechtigkeit. Die hat bekanntlich verschiedene Dimensionen. Eine ist sicherlich die Einkommensungleichheit. Und da kann man durchaus feststellen, dass in der Pandemie die Menschen mit geringen Einkommen den höchsten Preis gezahlt haben und dass sich dieses Ungleichgewicht nochmal deutlich verstärkte, in der Inflation.

Das heißt, wir haben infolge dieser Krisen Einkommensungleichheit, wir haben auch eine Zunahme von Armut und der Verfestigung von Armut.

BIHoff: Arbeit ist eurem Verständnis nach richtigerweise sowohl bezahlte Erwerbsarbeit als auch die unbezahlte Sorgearbeit, sogenannte Care-Arbeit, die in unserer weiterhin patriarchal strukturierten Gesellschaft überwiegend von Frauen geleistet wird. Die Pandemie hat Geschlechterungleichheiten verschärft. Ihr habt euch sowohl mit den Wirkungen des Instruments der Kurzarbeit während der Pandemie befasst als auch untersucht, welche Entlastungen es für die zusätzliche Sorgearbeit gab.

Du hast eben bereits darauf hingewiesen, dass ihr nicht allein die Pandemie betrachtet, sondern die Zeit ab der Pandemie und dazu gehören Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation mit dazu. Ihr stellt euch in eurem Buch die Frage, ob neue Ungerechtigkeiten entstanden und alte Ungerechtigkeit verstärkt wurden. Auch dazu hast du bereits etwas ausgeführt. Aber dennoch: Ich habe das Gefühl, dass es nicht nur eine rhetorische Frage war, die ihr da am Anfang in der Einleitung eures Buches formuliert.

BKohlrausch: Tatsächlich haben sich eher existierende Ungleichheiten verschärft. Wenn wir kurz bei der Erwerbsarbeit bleiben, dann gab es das Instrument der Kurzarbeit, das stark ausgeweitet wurde.

Das ist für sich genommen ein Zeichen, dass dieser Sozialstaat funktioniert. Dessen Leistungen haben gerade in der Krise vielen Menschen Schutz gewährt hat. Aber, und das ist die andere Seite der Medaille, war dieser Schutz in jener Logik organisiert, die seit der Erfindung und dem Ausbau des modernen Sozialstaats dominant ist: der klassischen Erwerbsarbeit. Also dem von feministischer Seite kritisierten sogenannten Normalarbeitsverhältnis.

Die Menschen, die in so einem Arbeitsverhältnis stehen, also 40 Stunden in der Woche arbeiten, idealerweise 40 Erwerbsjahre, mit einem ordentlichen Gehalt, das im besten Fall tarifgebunden ist, die waren gut geschützt durch das Kurzarbeitergeld. Von diesem Lohnniveau aus war eine Kürzung durchaus verkraftbar. Häufig gab es bei tarifgebundenen Beschäftigungen auch eine kompensierende Aufstockung. Diese Menschen waren also erstmal safe. Denen hat diese Absicherung auch eine subjektive Sicherheit gegeben. Das ist übrigens auch eine wichtige Funktion des Sozialstaats, dass man weiß, dass man ganz tief nicht fallen kann, weil man geschützt wird.

Es gibt aber auch andere Formen von Erwerbsarbeit. Dazu gehören die vielen Menschen, die nicht Vollzeit arbeiten, die ein geringeres Gehalt haben, weil sie vielleicht in Teilzeit sind, weil sie auch einfach nicht gut entlohnt werden. Für die war es so, dass die mit diesen 60 oder 67 Prozent Gehalt sehr schnell unter die Armutsschwelle gerieten. Denn in diesen Arbeitsverhältnissen haben die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen das Kurzarbeitergeld eben nicht aufgestockt. Das Armutsrisiko erhöhte sich für diese Menschen also deutlich. Als WSI machten wir uns deshalb in dieser Zeit sehr stark für ein Mindestkurzarbeitergeld, das armutsfest für alle ist.

Eine weitere Erwerbstätigengruppe sind die Selbständigen. Dazu muss man beachten, dass die Form selbständiger Arbeit sich auch stark verändert hat. Wenn man bei Selbstständigen an den Unternehmer Herrn Rossmann denkt oder so, dann kann man davon ausgehen, dass diese Selbständigen recht gut durch die Krise kommen. Aber nehmen wir die Selbständigen in der Medien- und Kreativwirtschaft zum Beispiel, die – wenn sie nicht soloselbstständig sind – vielleicht noch einen Angestellten haben. Die sind, anders als Herr Rossmann, nicht nur nicht reich, sondern die verdienen auch mit ihrer Selbständigkeit nicht genug, um geschützt zu sein.

Weil deren Erwerbsarbeitsleben nicht der dominanten Logik entspricht, die  bei der Entwicklung der sozialstaatlichen Instrumente zugrunde gelegt wurden, haben sie auch nur begrenzten Schutz und Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen.

Und dann gibt es noch die geringfügig Beschäftigten, die, auch durch Arbeitsgerichte bestätigt, keine Anrechte auf Kurzarbeitergeld oder irgendwelche anderen Absicherungen hatten.

Du hast in deiner Frage die unbezahlte Sorgearbeit angesprochen. Das ist eine Form von Arbeit, das hat mich tatsächlich auch in dem Ausmaß überrascht, die offensichtlich in unserer Gesellschaft nicht wirklich als Arbeit anerkannt wird. Die unbezahlten Sorgearbeiter:innen waren nicht gut geschützt durch die Instrumente, die es in der Pandemie gab. Im ersten Lockdown hatten wir eigentlich nur das Infektionsschutzgesetz. Da steht schon drin, dass Leute, die nicht arbeiten können, weil ihre Kinder wegen Infektionsschutzmaßnahmen beispielsweise nicht in den Kindergarten können, ein Recht auf Lohnersatz haben. Doch in der Gesetzesbegründung stehen Beispiele, wann Eltern in der Lage wären, ihre Kinder zu betreuen. Und da wird explizit erwähnt, dass dies der Fall wäre, wenn sie im Homeoffice sind.

Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn, der das verantwortet hat, vertrat also die Auffassung, dass Menschen, die im Homeoffice sind und Kinder haben, gleichzeitig Erwerbstätigkeit leisten können und Kinder betreuen. Ich bin sicher, jeder, der es versucht hat in der Pandemie und ich denke, das haben wir alle, die Kinder haben, zu einem bestimmten Zeitpunkt, weiß, dass das exakt nicht der Fall ist.
So eine Auffassung kann eigentlich nur derjenige haben, der Sorgearbeit nicht wirklich als Arbeit versteht. Wenn man nicht versteht und anerkennt, was für ein Aufwand sich damit verbindet.

Anerkennen muss man wiederum, dass es später immerhin eine Ausweitung der Kinderkrankentage gab. Zudem die explizite Regelung, dass man das Recht hat, Kinderkranktage zu nehmen, wenn die Kita geschlossen ist.
 

Bildungsungleichheit und Fachkräftemangel: Verlorene Chancen nach der Pandemie?


BIHoff: Du hast lange im Feld der Bildungssoziologie geforscht und sowohl die frühkindlichen Bildungseinrichtungen, die schulische Bildung als auch der Ausbildungssektor waren von der Pandemie in bedeutender Weise betroffen. Welche Schlussfolgerungen ziehst du, zieht ihr aus den Corona-Maßnahmen einerseits aber insbesondere den seither getroffenen Maßnahmen, mit denen Bund und Länder auf die Pandemie-Folgen reagierten? Was wäre nötig?


BKohlrausch: Halten wir erstmal fest: Es ist ein Riesenproblem, wenn Kinder ins Homeschooling gehen. Es gibt dazu viele Untersuchungen in der Bildungssoziologie. Eine ganze alte Studie stellte bereits fest, wie sich Bildungsungleichheiten im Sommer und den langen Sommerferien in den USA auseinanderentwickeln. Aber auch Deutschland ist ein Land mit einer extrem großen Bildungsungleichheit, beziehungsweise ein Land, in dem der Bildungserfolg sehr, sehr eng mit dem Hintergrund der Eltern, also dem Bildungshintergrund der Eltern zusammenhängt.

Es ist einfach so, dass Eltern ganz unterschiedliche Ressourcen oder wie wir sagen würden, kulturelles Kapital haben, was sie an ihre Kinder weitergeben können. Je mehr sich ein Bildungssystem darauf verlässt, dass auch zuhause gelernt wird, desto größer wird die Rolle, die dieses unterschiedliche kulturelle Kapital der Eltern spielt. Deshalb ist es immer schlecht, wenn man – wie bei uns auch im Schulsystem – sich ganz viel darauf verlässt, dass man einen halben Tag in der Schule lernt und anschließend allein zu Hause. Deshalb plädiere ich dafür möglichst viel und möglichst gemeinsam in der Schule zu lernen.

In der Pandemie hatten wir nun eine Situation, wo das gemeinsame Lernen in der Schule so gut wie gar nicht mehr stattgefunden hat. Auch wenn es teilweise Online-Unterricht gab. Das hat bekanntlich sehr, sehr unterschiedlich gut oder nicht gut geklappt. Bei meinen Kindern zum Beispiel hat das nicht gut funktioniert.

Abhängig vom Einkommen der Eltern, den Wohnverhältnissen etc. ist auch die Lernausstattung zu Hause sehr unterschiedlich. Die Möglichkeit, einen Raum zu haben, in dem man allein ist und überhaupt lernen kann. Kurzum wir hatten ein Setting, in dem das Risiko, dass Bildungsungleichheiten steigen, enorm erhöht wurde. Das bestätigen unsere Erkenntnisse und zeichnet sich auch bei den Folgestudien ab.

Was wir auch in den Untersuchungen gesehen haben, und das finde ich sehr beunruhigend und ist meiner Meinung nach überhaupt nicht Teil öffentlicher Debatten, dass der Anteil von Menschen ohne berufsqualifizierenden Abschluss enorm gestiegen ist. Wir sind jetzt bei 2,9 Millionen Menschen, die keinen berufsqualifizierenden Abschluss haben. Ich habe viel zu geringqualifizierten Jugendlichen im Übergang zum Ausbildungssystem geforscht und diese Wege sind holprig, die brauchen Unterstützung. In der Pandemie hat das aber nicht stattgefunden. Denn die Struktur, die so eine Ausbildung gibt, war nicht mehr da und deshalb sind viele einfach so durchs Raster gefallen. Und wenn hier nicht gegengesteuert wird, wird sich das fortsetzen in den Erwerbsbiografien dieser Menschen.

Ich glaube wir können noch gar nicht bemessen welcher Schaden da entstanden ist. Ökonomisch ist das wirklich ein Wahnsinn. Wir reden über Fachkräftemangel und leisten uns eine Situation in der so viele Menschen keinen berufsqualifizierenden Abschluss haben. Wir plädieren deshalb für eine Fachkräfteoffensive, mit der Angebote genau für diese Menschen unterbreitet werden. Die sie motiviert und Anreize setzt, eine berufsqualifizierende Ausbildung nachzuholen, wofür man ja, theoretisch zumindest, gar keinen Schulabschluss braucht.

Die Kultusministerien haben sich vor allem darauf konzentriert, die Bildungsverluste nachzuholen an den Schulen. Das Nachholen von Lerninhalten ist wichtig und macht Sinn. Aber im Gesamtbild war das Angebot zu wenig. Schauen wir nur auf den Mehrbedarf an der psychosozialen Unterstützung, gerade eben von Gruppen, die sehr gelitten haben. Wir wissen, dass die Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen zugenommen hat. Dazu gab es in meiner Wahrnehmung nicht mal eine Debatte und vor allen Dingen keine Maßnahmen, die das Angebot erhöht hätten. Auch nicht für Mütter.

Ich war während der Pandemie und auch in deren Nachgang sehr oft mit Frauen zusammen, zum Beispiel vom Müttergenesungswerk, die diese Kuren organisieren. Die sagten unisono sie seien völlig überlastet. Die betroffenen Frauen kommen inzwischen nicht mehr zur Burnout-Prävention, denn die sind im Burnout und die Anbieter von Kuren etc. können nicht ansatzweise das bedienen, was an Nachfrage besteht. Es spricht viel dafür, dass es bei der psychologischen Versorgung der Kinder und Jugendlichen ganz genauso aussieht.
 

BIHoff: Du hast die hohe Zahl der Menschen ohne berufsqualifizierende Ausbildung und entsprechenden Abschluss angesprochen und kritisiert, dass dies politisch gerade kein Thema sei. Da die Bildungspolitik in der Kulturhoheit der Länder liegt, wäre es sicherlich wichtig, dass die sechzehn Länder nicht sechzehn unterschiedliche Strategien auf den Weg bringen. Vielmehr müssten die Bildungsministerien, die Arbeitsministerien aber auch die Sozialpartner, das heißt also die Wirtschaftsseite auf der einen Seite, die Gewerkschaftsseite auf der anderen Seite, das zum Gegenstand einer gemeinsamen Politik machen, um die richtigen Instrumente zu finden. Wir haben ja in Deutschland mit dem, was man gemeinhin eine „Konzertierte Aktion“ nennt, durchaus auch gute Erfahrungen gemacht.

BKohlrausch: Ich halte das für eine gute Idee. Tatsächlich ist ja gerade das Ausbildungssystem auch das Paradebeispiel für eine sozialpartnerschaftliche Regulierung von Institutionen, die jetzt auch nochmal außerhalb des engeren Bereichs der Erwerbsarbeit liegen. Da haben auch alle Seiten ein enormes Interesse daran, die Beschäftigten, aber natürlich auch die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen.

Ich konstatiere in Deutschland einen Bildungsnotstand, dessen Elemente die hohe Zahl der Menschen ohne berufsqualifizierenden Abschluss bei bestehendem Fachkräftemangel, einem unzuverlässigen Kita-Angebot und vieles andere mehr sind.

Bleiben wir bei den Kita-Plätzen. Selbst die, die einen Platz haben, können sich gegenwärtig nicht darauf verlassen, weil es zu wenig Personal gibt. Wenn wir das Bildungssystem ausbauen wollen, die frühkindliche Bildung ausbauen wollen, dann brauchen wir natürlich Leute, die da arbeiten. Ich glaube, mit einer guten frühkindlichen Bildung kann man perspektivisch auch verhindern, dass wir viele Menschen ohne berufsqualifizierenden Abschluss haben.

Hierzu reicht es nicht einfach nur, die Forderung zu stellen, sondern es kommt auf die konkreten Maßnahmen und Instrumente an. Die Debatte von den Arbeitgebern beim Bürgergeld geht aber leider in die vollkommen entgegengesetzte Richtung. Die wollen den Vermittlungsvorrang wieder einführen. Anstatt Menschen beruflich zu qualifizieren und so dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, sollen sie unqualifiziert in irgendeine Beschäftigung vermittelt werden. Mit niedriger Qualifikation und niedrigen Einkommen. Das halte ich in Zeiten des Fachkräftemangels für das völlig falsche Signal. Ich brauche nicht jemanden, der mir die Pizza bringt, das ist auch schön, aber ich will jemanden, der sich qualifiziert beispielsweise um meine Kinder kümmert.

 

Zwischen Wissenschaft und Politik: Was bedeutet „Follow the Science“ praktisch?


BIHoff: Das Institut, das du als Direktorin leitest, hat die Auswirkungen der Pandemie auf Betriebe und die Erwerbsbevölkerung in vielen Erhebungen sehr umfassend dokumentiert. Ihr seid Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die seit der Pandemie auch mit Vertrauensverlust konfrontiert ist.

Der Virologe Drosten zog vor Kurzem im Deutschlandfunk eine kritische Bilanz der öffentlichen Diskussion und sagte u.a. es habe zu viele Personen gegeben, die sich als Wissenschaftler:innen identifiziert hätten, in Wirklichkeit aber rein populär-politisch argumentiert hätten, um zu gefallen und um Aufmerksamkeit zu bekommen. Welche Schlussfolgerungen habt ihr als WSI gezogen und wie gehst du als Wissenschaftlerin mit den sich seit der Pandemie veränderten Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Akteur:innen um, sich zwischen dem Anspruch „follow the science“ und gleichzeitig der Hinterfragbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zu positionieren?


BKohlrausch: Das ist eine ebenso wichtige wie interessante Frage. Während der Pandemie haben wir darüber wenig reflektiert. Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, diesen permanenten rasanten Wandel der Verhältnisse empirisch zu begleiten. Aber natürlich sind wir als WSI auch ein normativ ausgerichtetes Institut und haben gleichzeitig den Anspruch, exzellente Wissenschaft zu machen.
Das kann man sicherlich als Spannungsfeld beschreiben.

Ich glaube, Herr Drosten macht es sich, so sehr ich ihn schätze, zu einfach, wenn man sagt, es gäbe so etwas wie die objektive Wissenschaft. Als Soziologin bin ich da kritischer. Ich erinnere an Max Weber und dessen Werturteilsfreiheit. Er sagt bekanntlich sinngemäß, man kann sich die Gegenstände, die man erforschen möchte, normativ setzen. Das gilt auch für das WSI und unsere Themen wie faire Arbeit oder Geschlechtergleichheit. Bei diesen Themen kann man sich positionieren, aber der Weg, wie man dahin kommt oder wie man das erforscht, das ist dann objektive Wissenschaft.

Trotzdem ist es so, dass niemand von uns von bestimmten Erfahrungen in einer gewissen gesellschaftlichen Position unberührt ist. Dies prägt die wissenschaftliche Perspektive. In der Medizin möglicherweise etwas weniger als in der Soziologie.

Nehmen wir ein Beispiel. Als ich an das WSI kam, war der erste Fragebogen der Erwerbspersonenbefragung schon entwickelt. Und zwar von zwei Männern. Die arbeiteten nicht an meinem Institut, meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind da alle ganz klasse, und ich las den Fragebogen und stellte fest, dass sich keine einzige Frage mit unbezahlter Sorgearbeit befasste. Ich hing mit zwei Kindern und einem neuen Job zu Hause und dachte, Moment mal, hier fehlt was. Insofern ist auch vermeintlich objektive Wissenschaft nicht frei davon, einen Bias zu haben, der sich speist aus der Lebensrealität der Menschen, die diese Wissenschaft machen.  Wir wissen, dass die Medizin Genderbias hat zum Beispiel, auch die medizinische Forschung.

Nichtsdestotrotz gibt es objektive Herangehensweisen. Wir arbeiten ja sehr viel empirisch. Da kann ich nicht sagen, ich mach meine logistische Regression jetzt mal ganz anders. Eine Zufallsstichprobe mach ich nicht oder meine Zufallsstichprobe ziehe ich künftig ganz anders. Da gibt es objektive und auch natürlich in der Auseinandersetzung mit Wissenschaft entwickelte Kriterien. Und diese Kriterien, finde ich, müssen transparent sein und die sind zu diskutieren, aber sie sind auf der Grundlage zu hinterfragen, eines Wissens, das man schon angereichert hat.

Du hast die Debatte um „Follow the Science“ angesprochen. Ich bin skeptisch gegenüber Vorstellungen einer Expert:innen-Demokratie. Ich bin insgesamt skeptisch wenn es heißt „There is no alternative“. Und deshalb auch gegenüber denen, die behaupten, weil sie das objektive wissenschaftliche Wissen habe, gibt es keine Alternativen. Das ist für eine Demokratie schwierig.

Umso wichtiger ist es, anerkannte Methoden und Instrumente, auf die wir uns wissenschaftlich verständigt haben, als gültig zu akzeptieren. Aber nicht als endgültig, denn auch sie entwickeln sich weiter. Wenn wir sie hinterfragen, machen wir das im Kontext und auf der Grundlage der Methoden, auf die wir uns verständigt haben. Auf einer solchen Grundlage, verharren wir nicht in einer vermeintlich absoluten Wahrheit, lassen die Möglichkeit zu, Fehler zu machen, sie aber auch zu korrigieren. Das ist das Gegenteil von der Ablehnung von Fakten, dem permanenten hinterfragen aber nicht um aufzuklären, sondern um parallele Welten zu schaffen. Das ist die Spaltung der Gesellschaft.

BIHoff: Ich will die Schraube dieser Frage noch eine Umdrehung weiterdrehen. Wir erlebten, dass der frühere Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP jüngst ein staatliches Forschungsinstitut, nämlich das Umweltbundesamt, als Hort des Aktivismus bezeichnete. Aus meiner Sicht delegitimierte die wissenschaftliche Forschung des Umweltbundesamtes und erklärte deren wissenschaftlich erhobene Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zu politischem Aktivismus.

Als WSI seid ihr ein staatlich unabhängiges Forschungsinstitut, aber ihr habt eine Positionierung. Du hast es oben erwähnt und ich hatte eingangs deutlich gemacht, dass die Hans-Böckler-Stiftung bedeutendste gewerkschaftsnahe Stiftung in Deutschland ist. Ihr seid ein Institut davon.

Eine solche Infragestellung von Wissenschaft als Aktivismus durch einen führenden Politiker in Deutschland gibt ja eigentlich wenig Handlungsspielraum, tatsächlich noch zu einer gemeinsamen Diskursbasis zu kommen, oder? Welche Gefährdungen siehst du an dieser Stelle?

BKohlrausch: Genau die Gefahr, dass man die gemeinsame Diskursbasis verlässt, dass man wissenschaftliche Erkenntnisse delegitimiert. Das passiert auch nicht nur mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die einem nicht in den Kram passen. Wissenschaftsfeindlichkeit erleben wir von Seiten der Politik immer wieder, gern vorgetragen mit einem anti-elitären Touch: „Ah ja, was die Herrenprofessoren oder die Frauenprofessorinnen sich in ihrem Elfenbeinturm ausdenken, das ist ja ganz weit weg von der Realität, die wir hemdsärmlige Politiker:innen jeden Tag erleben“.

Ich verweise dann gern darauf, dass Wissenschaftsverachtung und Politikverachtung zwei Seiten derselben Medaille sind. Sie gehören zum selben Geschäftsmodell und wer das macht, schadet sich in the long run selbst.

Insofern sollte Herr Buschmann sagen, welche Studie er nicht in Ordnung, weil er das Gefühl hat, die Methode passt nicht, die Daten seien falsch erhoben usw.. Das wäre völlig in Ordnung. Dann ist die Kritik berechtigt und man kann darüber reden. Aber wenn man das in Bauch und Bogen wegwischt, dann wischt man eben alle Diskursgrundlagen weg und ist nicht mehr im Gespräch. Das ist für Gesellschaften absolut schädlich.

Klar habe ich Verständnis, dass in kontroversen Zeiten, gerade Wahlkämpfen, auch nach den low hanging fruits gegriffen wird. Es ist ein stressiger Job, Politik zu machen. Wem erzähle ich das. Aber ich finde, wir müssen uns alle zusammenreißen. Ich hab mir auch verkniffen, darauf hinzuweisen, dass Politiker:innen sich die Diäten erhöhen aber bei Hartz IV kürzen wollten. Weil ich das einfach billigen Populismus finde. Ich appelliere deshalb bei allen Beteiligten an die Selbstdisziplin, denn am Ende des Tages wissen es alle besser.

 

BIHoff: Liebe Bettina, hab herzlichen Dank für dieses Gespräch.

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Hier geht's zur Folge Was von Corona übrig bleibt meines Podcasts Kunst der Freiheit vom 17. Februar 2025, in dem das Gespräch mit Prof. Dr. Bettina Kohlrausch nachgehört werden kann.

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Das Buch Was von Corona übrig bleibt. Erwerbsarbeit, Sozialstruktur, gesellschaftliche Folgen ist als Open Access verfügbar und kann als E-Book abgerufen werden.

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Zur Person Bettina Kohlrausch

Bettina Kohlrausch wurde 1976 geboren und leitet das Gewerkschafts- und Arbeitnehmer:innen orientierte WSI seit 2020.
Sie promovierte an der Universität Bremen, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen, kurz SOFIE, und absolvierte Auslandsaufenthalte an der London School of Economics und am Europäischen Hochschulinstitut Florenz.
Sie ist Professorin für gesellschaftliche Transformation und Digitalisierung an der Universität Paderborn.
Zuvor war sie ebenfalls an der Uni Paderborn, Professorin für Bildungssoziologie, Gastprofessoren am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung und Vertretungsprofessoren an der Universität Hannover.
Bettina Kohlrausch ist regelmäßig in den Medien, zum Beispiel Süddeutsche Zeitung, Deutschlandfunk, Frankfurter Allgemeine Zeitung präsent, publiziert wissenschaftlich und meinungsstark auch in den sozialen Netzwerken.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.

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Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.