01.03.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Gesellschaft

Die neue Trump-Doktrin

Was in den sozialen Netzwerken und auf Youtube aus dem Oval Office beim Treffen des ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskij mit dem US-Präsidenten Donald Trump und dessen Vize J.D. Vance zu sehen war, widerspricht den bisherigen demokratischen Seh- und Denkgewohnheiten. Das Faustrecht, das Recht des Stärkeren, Lügen und Denunziation wurden vor den Augen der Presse und der Weltöffentlichkeit als die Trump-Doktrin der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik im Umgang mit den bisherigen Partnern im westlichen Sicherheitsbündnis definiert.

Die Flaggen der Ukraine, Deutschlands, Thüringens und der EU vor der Staatskanzlei in Erfurt

"Putin darf nicht gewinnen. Und er wird es nicht." Mit diesen zwei Sätzen endete der Leitartikel von Anna Sauerbrey in der ZEIT, erschienen unmittelbar nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

"Jeder Krieg ist der Krieg" aller, fuhr Sauerbrey fort und formulierte die Erwartung, dass es den Demokratien gelingt, die Hegemonie des Militärischen zu brechen. 1.101 Tage später scheint dieses hoffnungsvolle Normativ an seinem vorläufigen Endpunkt zu sein.

Was in den sozialen Netzwerken und auf Youtube aus dem Oval Office zu sehen ist, widerspricht allen bisherigen demokratischen Seh- und Denkgewohnheiten. Das Faustrecht, das Recht des Stärkeren, Lügen und Denunziation wurden vor den Augen der Presse und der Weltöffentlichkeit als die Trump-Doktrin der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik im Umgang mit den bisherigen Partnern im westlichen Sicherheitsbündnis definiert.

"The Apprentice" auf der Weltbühne: Inszenierung im Oval Office

Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit, das über Jahrzehnte das verbindende Element zwischen Europa und den Vereinigten Staaten – das selbst noch die erste Amtszeit von Präsident Trump überdauerte – erodiert in den ersten Wochen von Trumps zweiter Amtszeit als US-Präsident.

Bereits bei der Rede von US-Vizepräsident JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz (ab 1:12 h), in der er vermeintlich fehlende Meinungsfreiheit in Europas Demokratien beklagte, war die Verdrehung von Tatsachen, die Normalisierung von sogenannten alternativen Fakten durch die Strategie „Flood the floor with shit“ bewusst kalkuliert.

Die Demütigung und Verächtlichmachung des ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskijs durch Trump und Vance im Weißen Haus folgt einer wohlkalkulierten Choreographie. Es begann bei der Begrüßung, bei der Trump sich über die Kleidung von Präsident Selenskijs mokierte, der seit Kriegsbeginn gemeinhin nicht im Anzug, sondern Pullover erscheint, um auch optisch zu verdeutlichen, dass sich sein Land im Krieg befindet.

Anlass des Besuchs von Selenskij in Washington, der auf die Besuche des französischen Präsidenten Emanuel Macron und des britischen Premierministers Keith Starmer in dieser Woche folgte, war das Angebot eines Rohstoffabkommens zwischen der USA und der Ukraine. Präsident Selenskij hatte klug antizipiert, dass wenn demokratische Werte schon keine Bedeutung für die Trump-Regierung haben, ein "Deal" für den selbsternannten "Dealmaker" Trump das geeignete Instrument sein könnte, um Sicherheitsgarantien für die seit mehr als drei Jahren im Krieg stehende Ukraine zu geben.

Doch Trump wollte keinen "Deal" zwischen ehrlichen Kaufleuten. Er verlangt Unterwerfung. Die Inszenierung im Oval Office folgte dem Drehbuch von "The Apprentice", der Serie, in der Donald Trump als Geschäftsmann in 14 Staffeln im Fernsehen auftrat. Trumps berühmter Spruch in der Sendung war "You're fired!", mit dem er Kandidaten aus der Show eliminierte.

Trump und JD Vance traten Selenskij nicht wie verantwortliche Politiker gegenüber, sondern waren bemüht ihn in die Enge zu treiben wie bei einer Schulhofprügelei. Ihr Ziel: Ihn vor der Presse, vor der Weltöffentlichkeit zu demütigen, um für das angestrebte Abkommen eine bessere Ausgangslage zu erzielen und um innenpolitisch diejenigen Bilder zu erhalten, die den bekannten Trump-Narrativen aus dem Wahlkampf gegen Hillary Clinton, Joe Biden und Kamala Harris entsprechen.

"Sie sind nicht in einer günstigen Position. Sie haben im Moment nicht die besten Karten. Mit uns haben Sie bessere Karten" sagte er zu dem ukrainischen Präsidenten, der immerhin souverän antwortete: "Ich spiele keine Karten." Was für Trump ein Pokerspiel ist, ist tatsächlich ein Krieg. Begonnen von Russland mit der Annexion der Krim.

Trump: "Aber Sie werden entweder ein Abkommen schließen, oder wir sind raus. Und wenn wir draußen sind, werden Sie es selbst austragen. Ich glaube nicht, dass es schön wird, aber Sie werden es austragen. Aber Sie haben nicht die Karten. Aber sobald wir diesen Deal unterzeichnet haben, sind Sie in einer viel besseren Position. Aber Sie verhalten sich überhaupt nicht dankbar, und das ist keine schöne Sache. Ich bin ehrlich, das ist keine schöne Sache. [...] In Ordnung, ich denke, wir haben genug gesehen. Was meinen Sie? Das wird großartiges Fernsehen, das kann ich schon mal sagen."

Mit vorstehenden Worten endet die historische Pressekonferenz, die einem Schauprozess mehr ähnelte, als Diplomatie. Wer die Bilder der nur mühsam die Fassung bewahrenden, verzweifelten ukrainischen Botschafterin Oksana Markarowa gesehen hat, kann ermessen, wie diese kalt kalkulierte Inszenierung psychologisch auf die Ukraine und ihre Menschen an der Front wie im Hinterland, nach mehr als 1.100 Tagen Krieg wirkt. Und bewusst wirken soll.

Rechte Narrative - Alternative Fakten

Unmittelbar nach dem Ende dieses Treffens begannen rechte Plattformen wie Breitbart und das republikanische Establishment in klassischer Täter-Opfer-Umkehr die Verantwortung für diesen Eklat Präsident Selenskij zuzuschieben.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Narrativ auch die klassischen Medien erreichen würde. Stefanie Bolzen, Washington-Korrespondentin der deutschen Tageszeitung DIE WELT ließ via - inzwischen überarbeiteter - Überschrift "Selenskij hat mit seinem Verhalten die Sicherheit Europas aufs Spiel gesetzt" in ihrem Kommentar wissen, wer die Schuld trägt: "Selenskij hätte schweigen müssen". Auch dieser Satz aus dem Teaser zum Kommentar auf der Meinungsseite wurde inzwischen gelöscht.

In ihrem Kommentar schreibt Bolzen, dass der Fehler Selenskijs darin bestand, dass "Der Ukrainer begann, Trump den Konflikt seit 2014 zu erläutern und dass Putin alle diplomatischen Abmachungen, konkret die Minsk-Vereinbarungen, gebrochen habe. 'Welche Art von Diplomatie meint J.D. hier?', fragte der Ukrainer. Dann flogen die Argumente hin und her, es wurde immer lauter.

In dieser zynisch-verdrehten Logik wird dann auch noch suggeriert: "Die ukrainische Botschafterin, die auch im Oval Office saß, begrub vor Verzweiflung das Gesicht in ihren Händen" - aus Sicht Bolzens offenbar aus Verzweiflung über Selenskij und nicht über den US-amerikanischen Umgang mit der Ukraine und deren Präsidenten.

Die frühere Chefredakteurin der Welt am Sonntag, Dagmar Rosenfeld, inzwischen beim Medienhaus Pioneer, kommentierte die Sichtweise Bolzens, die wenig überraschend auch die Zustimmung von Ulf Poschardt erhielt, mit der Feststellung auf dem Kanal X: "Nein, Selenskyij verteidigt die Freiheit Europas. Das war auch immer die Position der WELT, wie ich sie kannte." Robin Alexander, einer der bekanntesten Welt-Journalisten und sicherlich über jeden Zweifel einer Übernahme von Narrativen, wie denen Balzers erhaben, kommentierte ebenfalls auf X kurz: "Dagmar Rosenfeld hat Recht".

Die Aufgabe der klassischen Medien ebenso wie aufgeklärter Akteur:innen in den sozialen Netzwerken besteht darin, die Narrative und dahinterliegenden Interessen offenzulegen, statt sie kommentarlos zu zitieren, zu multiplizieren oder wie Stefanie Bolzen in der WELT zu übernehmen.

Franz Sommerfeld, vor seinem Ruhestand zuletzt im Vorstand des Medienkonzerns DuMont, ordnete auf LinkedIn am heutigen 1. März 2025 eine bemerkenswerte Wende in der Politik des Springer-Konzerns ein. Er führt aus:

"Kein anderes deutsches Medienhaus hat seit dem Amtsantritt von Donald Trump dessen Politik und die Auftritte seiner Kumpane Musk, Vance und Co. mit so viel Empathie und Zustimmung begleitet wie Springer. Das reicht von der sprachlich misslungenen Beschwörung einer 'strahlenden Morgendämmerung' [...] bis zur schäbigen Täter-Opfer-Umkehr im 'Welt'-Aufmacher zur Demütigung und dem Rauswurf Selenskijs aus dem Weißen Haus [durch Bolzen].

Dieser Kurs wurde von Springer-Verleger und Miteigentümer Mathias Döpfner motiviert, gestützt und durch eigene Beiträge des Respekts für das Trump-Team begleitet. Nun hat Döpfner eine grundlegende Wende vollzogen.

In dem Kommentar mit dem Titel "Trump und die Zukunft Europas - die Weltordnung wankt" räumt Döpfner ein, dass Trump die Ukraine opfert für eine Politik von America first und America only, bei der das Völkerrecht nicht als bindend, sondern als störend empfunden wird. :

"Der Anführer eines Landes, das sich gegen einen Angriffskrieg verteidigt, wird von seiner Schutzmacht so nicht behandelt. Es sei denn, die Schutzmacht will keine mehr sein oder hat die Seiten gewechselt. Viele Transatlantiker – auch ich – wollten in den letzten Wochen immer noch hoffen, dass hinter provozierenden Reden und Posts doch irgendwie ein konstruktives Konzept steht. Diese Hoffnung ist zerstört. Trump meint, was er sagt."

Zuzustimmen ist Sommerfeld, wenn er festhält, dass dieser Kurswechsel Döpfners kein Grund für Häme sein sollte, denn auch späte Einsicht ist besser als keine. Sommerfeld, dessen journalistische Tätigkeit in DKP-Magazinen begann, und dem zentralistische Strukturen also gut bekannt sind, weist darauf hin, dass in der autoritären Welt des Springer-Konzerns der Kurswechsel des Verlegers die Ursache für die oben beschriebenen Änderungen u.a. am Kommentar von Stefanie Bolzen war. Sommerfeld schließt mit den Worten: "Nun wird es interessant sein, zu beobachten, wie sich die von Trumps Disruptions-Livestyle hochgradig faszinierten Herausgeber und Chefredakteure der 'Welt' auf Döpfners Wende einstellen."

Putins großrussischer Imperialismus

"Krieg ist der Krieg aller" und "Putin darf nicht gewinnen": Ich zitierte diese Sätze von Anna : Sauerbrey in einem Beitrag, den ich ebenfalls unmittelbar Beginn dieses mörderischen Angriffskriegs vor drei Jahren, im Februar 2022, auf meinem Blog veröffentlichte. Ich schrieb damals u.a.:

In einer Rede zur Anerkennung der selbsternannten ostukrainischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk gewährte Putin einen unverstellten Einblick in sein Weltbild der Wiederherstellung vormaliger russischer Größe und seines Kampfes gegen westliche Werte und die westliche Demokratie, die er für schwach und dekadent hält.

Wer sich die Mühe macht, diese Rede zu lesen, ist zwiegespalten zwischen dem Wunsch kopfschüttelnd abzubrechen und dem Zwang bis zu Ende zu lesen, da es notwendig ist, zu verstehen, was den russischen Präsidenten antreibt und warum sich so viele in ihm irrten, die meinten, ihn zu verstehen.

Bereits seit langer Zeit beharrt Putin auf dem ideologischen Narrativ einer russischen Gemeinschaft, die auf der Kiewer Rus gründet und durch den russisch-orthodoxen Glauben geprägt wird. Er verneint eine historische ukrainische Eigenständigkeit und argumentiert in seiner Rede, dass die Schwäche Russlands nach dem Ersten Weltkrieg die Bolschewiki unter Wladimir Iljitsch Lenin gezwungen habe, um das Überleben der jungen Sowjetmacht zu gewährleisten, den jahrhundertelang unterdrückten Völkern im vormaligen zaristischen Russland nationale Souveränität zugestehen zu müssen.

In seinem großrussischen imperialen Verständnis kann die Akzeptanz und Förderung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, für die Bolschewiki ihrer Zeit die Voraussetzung für die freie Assoziation sozialistischer Republiken, nur ein Ausdruck von Schwäche sein.

Dass dieses Selbstbestimmungsrecht, insbesondere unter Joseph Stalin, mit Füßen getreten wurde und im Hitler-Stalin-Pakt 1939 Polen verraten, okkupiert und aufgeteilt wurde, findet bei Präsident Putin kein kritisches Wort. Er wirft Stalin nur eins vor: das in der sowjetischen Verfassung niedergelegte Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht getilgt zu haben.

Denn dieser vermeintliche Fehler habe in einer Phase der erneuten Schwäche, in den 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre dazu geführt, dass Sowjetrepubliken, darunter die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärten. 

Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu führen. In den vergangenen Tagen und Wochen wurde in der deutschen Debatte vielfach die Auffassung vertreten, dass die militärische Bedrohung der Ukraine seine Ursache in einer westlichen Bedrohung Russlands habe.

Der Westen und insbesondere die NATO habe, so die Logik dieser Argumentation, Russland so oft und lange gedemütigt, dass Russland nun zwar inakzeptable aber letztlich vom Westen selbst provozierte Maßnahmen ergreife.

Halten wir deshalb fest: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dient allein dem Ziel, eine Korrektur der geschichtlichen Ereignisse der Jahre 1990 bis 1992 vorzunehmen. Die Ukraine sieht der russische Präsident nicht nur als Einflusssphäre, sondern er will die Ukraine heimholen ins russische Reich. 

Dabei will Putin, wie Jens-Christian Wagner, der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald-Mittelbau Dora betont, zwar die Entwicklung der frühen 1990er rückgängig machen. Aber sein Antrieb ist (trotz KGB-Vergangenheit) offenbar nicht etwa Sowjetnostalgie, sondern er steckt ideologisch tief im nationalistischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts.

Auf der Basis dieser Erkenntnis wächst ein Verständnis für die Sorgen und Befürchtungen von Ländern wie den baltischen Staaten aber auch unserem polnischen Nachbarn vor der Unberechenbarkeit Russlands.

Trump und die Internationale der Autoritären

Inzwischen ist der Kreml nicht mehr isoliert. Die ersten Wochen von Trumps zweiter Amtszeit als US-Präsident, waren nicht weniger als die Orbánisierung der Vereinigten Staaten.

David Smith erinnerte dieser Tage im Guardian daran, dass Viktor Orbán, der 2010 an die Macht kam, Ungarn als „eine Petrischale für den Illiberalismus“ bezeichnete. Dafür verehrt ihn die MAGA-Bewegung. Der Ex-Trump-Berater Steve Bannon nannte Orbán einen „Trump vor Trump“. Dessen langfristiger Abbau von Institutionen und die Kontrolle der Medien in Ungarn dient als warnende Geschichte darüber, wie scheinbar schrittweise Veränderungen den Weg für Autoritarismus ebnen und wie Demokratien sterben können.

Kevin Roberts, der Leiter des extrem rechten Thinktanks Heritage Foundation, sagte einst: „Modern Hungary ist nicht nur ein Modell für konservative Staatskunst, sondern das Modell.“ Die Heritage Foundation erarbeitete jenes Project 2025, das als rechtsextreme Blaupause für Trumps zweite Amtszeit dienen sollte. Es mag sein, dass Donald Trump und Elon Musk sich nicht an ein solches Drehbuch binden lassen - der tatsächlichen Umsetzung der darin enthaltenen Strategie zur Aushöhlung der US-amerikanischen Checks-and-Balances tut dies keinen Abbruch.

Die innenpolitische Orbánisierung der USA geht Hand in Hand mit einer schrittweisen Integration der USA in die Internationale der autoritären Populisten. Die Ukraine ist eine der Eintrittskarten Trumps in diesen Club.

Im UN-Sicherheitsrat war - ebenfalls in dieser Woche und als begleitende Musik zur Inszenierung im Oval Office - zu beobachten, wie die USA gemeinsam mit China und Russland unter demonstrativen Verzicht auf die Zustimmung der fünf europäischen Partner im Gremium die moskaufreundliche Resolution "Der Weg zum Frieden" verabschiedeten. Die Resolution fordert ein rasches Ende des Krieges in der Ukraine, ohne Russland explizit als Aggressor zu benennen oder einen russischen Truppenrückzug aus der Ukraine zu fordern.

Völkerrechtlich bindend, schreiben Trump, Putin und Xi die Geschichte der russischen Aggression gegenüber der Ukraine um. Dass die UN-Vollversammlung mehrheitlich aber eben gemäß den UN-Statuten ohne völkerrechtliche Bindungswirkung, die Sicherheitsratsresolution an bedeutenden Stellen korrigierte, indem Russland explizit als Aggressor des Konflikts benannt wird, die Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine gefordert sowie ein "dauerhafter und umfassender Frieden zwischen der Ukraine und Russland im Einklang mit der UN-Charta" angestrebt wird, ist ein wichtiges Signal. Jedoch nicht mehr und nicht genug.

Auch nach drei Jahren Krieg: Die Ukraine darf nicht verlieren.

Debattiert wird gegenwärtig insbesondere über die militärische Unterstützung der Ukraine. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe. Die humanitäre Hilfe für die Ukraine umfasste bislang etwa 5-7% der gesamten Unterstützung, während ca. 49% der Unterstützung in militärischer Form und rund 44% auf finanzielle Hilfen entfielen.

Drei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges ist die humanitäre Lage in der Ukraine kritisch bis katastrophal. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2025 etwa 12,7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden. Die Situation ist nach wie vor dramatisch, geprägt von anhaltenden Kampfhandlungen, Flucht und Vertreibung.

Die Europäische Union hat zwischen 2022 und 2025 1 Milliarde Euro an humanitärer Hilfe bereitgestellt. Deutschland setzte als zweitgrößter Geber weltweit seit Februar 2022 mehr als 1,3 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe um. Hilfsorganisationen wie LandsAid leisten kontinuierliche Unterstützung, angepasst an die sich wandelnden Bedürfnisse. Dazu gehören insbesondere die Grundversorgung: Lebensmittel, Wasser, Notunterkünfte und medizinische Versorgung, die psychosoziale Unterstützung, deren Umfang und Bedarf inzwischen mehr als 10% ausmacht.

Ein besonderer Stellenwert kommt dem Wiederaufbau und der Reparatur der Energieinfrastruktur zu, die von Russland systematisch zerstört wird. Die Beschädigung der Infrastruktur betrifft auch die Wasserversorgung, die vielerorts beeinträchtigt ist.

Trotz der umfangreichen internationalen Hilfe bleibt die Situation in der Ukraine äußerst angespannt. Die humanitäre Hilfe müsste sich viel umfassender an die sich verändernden Bedürfnisse anpassen, um die notleidende Bevölkerung bestmöglich zu unterstützen. Doch das Gegenteil ist gegenwärtig der Fall. Im Magazin "Vorwärts" schreibt Nils Michaelis:

"Drei Jahre nach Beginn der russischen Großoffensive am 24. Februar 2022 ist nicht nur die militärische, sondern auch die humanitäre Lage in der Ukraine schwierig. Laut der UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, sind aktuell mehr als 12,7 Millionen Menschen in der Ukraine auf Hilfe angewiesen, das sind rund 40 Prozent der Bevölkerung. Diese Unterstützung wird nicht nur in den frontnahen Gebieten im Süden und Osten benötigt, sondern auch dort, wo die meisten der 3,7 Millionen Binnengeflüchteten leben, also im Norden und Nordwesten des Landes."

Die faktische Zerstörung der US-Entwicklungshilfeagentur USAID durch die Trump-Regierung, in Verbindung u.a. mit der Halbierung der Hilfsmittel aus Deutschland für die Ukraine im Zuge der Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt schnüren der humanitären Unterstützung für das angegriffene Land die nötige Luft ab.

Die preisgekrönte politische Wissenschaftlerin und Publizistin Anne Applebaum spricht von einem Wake-Up Call. Im Schweizer Rundfunk wird sie wie folgt zitiert:

"'Europa braucht eine Militärallianz und eine finanzielle Allianz, um Russland die Stirn zu bieten'. Das Geld dazu – und hier komme die Schweiz ins Spiel – sei vorhanden: 'Es gibt 300 Milliarden US-Dollar eingefrorene russische Vermögenswerte, 80 oder 90 Prozent davon bei europäischen Finanzinstituten. Die Zinsen aus diesem Geld werden bereits für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet. Ich denke, es ist an der Zeit, den Rest davon zu nehmen.' Es handle sich um viel Geld, und es gebe ein ausgezeichnetes juristisches Argument dafür, es zu verwenden: 'Nach der russischen Kriegserklärung und der unprovozierten Invasion wurde Russland von einer überwältigenden Mehrheit der Mitgliedsländer der UN-Generalversammlung verurteilt.' Auf der Grundlage dieses Entscheids sei es legal, dieses Geld zu nehmen."

Im Februar vor drei Jahren berichtete ich in meinem Beitrag davon, dass die Thüringer Landesregierung, damals rot-rot-grün regiert, der ich als Chef der Staatskanzlei angehörte, unmittelbar Maßnahmen ergriffen habe, um sich auf die zu erwartende große Zahl ukrainischer Kriegsflüchtlinge vorzubereiten. Das Bild zu diesem Beitrag hier zeigt die seinerzeit gehisste ukrainische Fahne vor der Staatskanzlei in Erfurt. Die neue Thüringer Landesregierung unter Mario Voigt hat diese Fahne inzwischen wieder abnehmen lassen. Es sind die kleinen Gesten, an denen sich Prioritäten zeigen.

In den ersten Wochen des Krieges erlebte Deutschland eine Welle der Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten. Eine Erfahrung, die Deutschland übrigens bereits 2015/2016 ("Wir schaffen das") und auch am Beginn der Corona-Pandemie machte. Diese Erfahrung wird leider zu schnell verschüttet von denjenigen Stimmen, die statt Solidarität Entfremdung predigen. Denjenigen, die meinen, wie in Syrien sei auch in Teilen der Ukraine heute bereits eine Situation geschaffen, um aus Deutschland zurückzukehren.

Diese Haltung ist nicht nur herzlos, sie ist fatal. Auch diese Haltung stärkt am Ende die Autokraten, weil sie die Humanität schwächt.

"Putin darf nicht gewinnen", schrieb Anna Sauerbrey 2022 und fuhr fort "Und er wird es nicht." Hinter diese Feststellung ist gegenwärtig ein Fragezeichen gerückt.

Humanität, Solidarität und das Bewusstsein für unsere demokratischen Grundwerte, die aus der Aufklärung entstanden, sind die Plattform der Feststellung: Die Ukraine darf nicht verlieren, Putin nicht gewinnen.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Buchcover
Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.